Schweitzer Fachinformationen
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Es ist Stella, die uns weckt. Das Licht ihrer Kerze wirft gespenstische Schatten an die Wand. Ich weiß sogleich, dass es ernst ist. Ich setze mich im Bett auf, lege mir den Morgenmantel um die Schultern und stecke die Füße in meine Schuhe. Du wickelst dich in ein Umschlagtuch, zitternd vor Kälte. Wir folgen Stella in Mutters Zimmer. An der Tür nehmen wir uns an der Hand. Vater sitzt auf einem Stuhl am Bett, den Kopf in den Händen vergraben. Dr. Seton steht am Fenster und spricht mit George und Gerald. Zwei Krankenschwestern rücken Mutters Kissen zurecht. Alles verstummt, als wir ins Zimmer treten. Wir bleiben nahe bei Stella, die uns den Arm um die Schultern legt. George kommt auf uns zu und sagt uns, dass wir alle nacheinander Mutter küssen müssen. Er hält Adrian die Hand hin und führt ihn an Mutters Seite. Ich sehe, wie Adrian sich vorbeugt, um Mutters Wange zu küssen, ohne Georges Finger loszulassen. Als George dich ans Bett führt, schlägt Mutter die Augen auf. Sie sieht dich einen Moment lang ruhig an. Dann fallen ihr die Augen wieder zu.
Jetzt bin ich an der Reihe. Ich bücke mich, um Mutters Stirn zu küssen, und höre ihr entsetzlich qualvolles Röcheln. Ich wünsche mir so sehr, dass sie mit mir spricht. Sie muss mir erklären, was hier passiert. Sie muss mir sagen, dass sie mich liebt. Ihre Augen bleiben hartnäckig geschlossen. Ich spüre Georges Hand an meinem Arm und lasse mich von ihm wegziehen.
Ich sitze da und starre auf den Boden. Ich ertrage es nicht, zum Bett zu schauen. Draußen vor dem Fenster kann ich die Vögel singen hören. Gegenüber von mir ist Mutters Frisiertisch. Ich betrachte ihre Schmuckschatulle, ihre Fotografien, ihr Notizbuch und ihre Schreibfeder. Der Spiegel steht schräg, und ich kann darin Mutters Gesicht sehen. Es wirkt im Halbdunkel beinahe durchscheinend. Ich studiere sie, als ob sie ein Gemälde wäre, bemerke die Blässe ihrer Haut, die Art, wie das Haar über ihrer Stirn gescheitelt ist. Ich überlege, wie ich sie zeichnen würde. Über den Augenhöhlen sind dunkle Schatten, und der Bogen der Oberlippe ist so ausgeprägt, dass die Unterlippe fast darunter zu verschwinden scheint.
Ich nehme wahr, dass es im Zimmer heller wird. Ohne den Blick vom Spiegel zu wenden, beobachte ich, wie Dr. Seton Mutters Handgelenk fasst und ihr den Puls fühlt. Er nickt und legt ihren Arm wieder an ihrer Seite ab. Vater stößt ein lautes Wutgeheul aus.
Ich flüchte aus dem Zimmer.
*
Wir sitzen im Salon beisammen, unsicher, wie es weitergehen soll. Wir sind wie Gestalten, aus denen alle Form, alle Farbe, alles Leben gewichen ist. Die Vorhänge sind zugezogen, um das kalte Frühlingslicht auszusperren. George sitzt am Kamin und weint. Gerald starrt stumm seine Hände an. Über uns können wir Vaters hemmungsloses Schluchzen hören. Stella kommt mit einem Krug warmer Milch und einer Flasche Brandy herein. Du blickst mit leeren Augen ins Feuer. Was geschehen ist, übersteigt unser Fassungsvermögen.
Wir trinken die warme Milch in kleinen Schlucken. Schon steigt in mir der Gedanke auf, dass Mutters Tod hätte verhindert werden können. Ich sehe Dr. Seton vor mir, immer in Eile, der es den Krankenschwestern überließ, sich um seine Patientin zu kümmern. Ich erinnere mich daran, wie Vater mit seinen unablässigen Forderungen Mutter zermürbte. Du hast ihn in deinem Roman genau getroffen, als du beschrieben hast, wie sein hungriger Schnabel ihre Energie aufzehrte. Jetzt erreicht sein Rufen sie nicht mehr.
Tante Marys Gesicht ist zu einer künstlichen Leidensmiene verzogen. Sie streckt die Hand aus, und als ich sie schüttle, drückt sie mich gegen meinen Willen an ihre Brust. Ihre Jettperlen schneiden in meine Wange.
»Du armes Kindchen«, sagt sie und verdreht die Augen gen Himmel. Sie riecht nach Kampfer und Coldcream. Als sie Ellen erspäht, die gerade die Treppe herunterkommt, entlässt sie mich aus ihrer Umarmung, um ihren Mantel auszuziehen. Dann führt sie mich in den Salon.
»Ich will, dass du mir etwas versprichst«, beginnt sie, als sie im Sessel am Kamin Platz genommen hat. »Versprich mir, dass du zu mir kommst, wenn du irgendeine kleine Frage oder ein Problem hast.« Sie lehnt sich zurück und macht es sich zwischen den Kissen bequem. »Und jetzt lass uns über deine Klavierstunden sprechen. Wer beaufsichtigt dein Spiel? Ich kenne eine ganz wunderbare Lehrerin, die nur allzu froh wäre, dich zu unterrichten. Ich hoffe, du bist nicht immer noch bei dieser schrecklichen Mrs Watts.«
Jahre später, an der Royal Academy, war es Sargent, der sagte, er finde meine Gemälde zu grau. Doch das eine, das mir diese Zeit am genauesten heraufzubeschwören scheint, ist alles andere als düster. Eine schwarze Linie zieht sich schräg über die Leinwand und trennt das beinahe monotone Blau des oberen Teils vom trüben Weiß des zentralen Bereichs. Ich hatte den Sand und das Meer im Blick, als ich daran arbeitete, aber wenn ich es jetzt anschaue, sehe ich noch etwas anderes. Das Blau ist so vollständig vom Weiß getrennt, dass es scheint, als finge das Gemälde zwei verschiedene Welten ein. Im Vordergrund, in der linken Ecke, hebt sich vor der kargen weißen Fläche ein gelb-braunes Dreieck ab, vielleicht ein Felsen. Zwei Gestalten sitzen in seinem Schatten. Die eine ist größer als die andere, Kleidung und Haltung der beiden lassen an eine Mutter mit Kind denken. Die Figuren wenden dem Betrachter den Rücken zu, und alles, was wir von der Mutter sehen, sind die Rückseite ihrer Jacke sowie die Krempe und die Krone ihres Huts. Das Kind ist ähnlich gekleidet, allerdings suggeriert der schiefe Sitz seines Huts eine Lebendigkeit, von der in der Silhouette der Mutter nichts zu spüren ist. Die Abstraktheit der Form vermittelt einen Eindruck von Leere, als ob die lebendige Gegenwart der Mutter irgendwie ausgelöscht worden wäre. Rechts gegenüber dem Paar, nahe der Trennlinie, ist eine große, leuchtende Form zu sehen. Davor steht eine blau gekleidete Frau, deren langes Haar ihr über den Rücken fällt. Zu ihren Füßen kauert eine Gruppe von Kindern, ins Spiel vertieft. Ich denke an die Badekabine, in der Mutter sich umzuziehen pflegte, doch als ich noch einmal hinschaue, ist es nicht das, was ich sehe. Wenn ich das Bild heute betrachte, ist das dominierende Element das ätherische Leuchten dieses einsamen Objekts. Es ist, als würde die Frau von seinem Glanz verschlungen. Da ist die kahle Fläche, auf die die Kinder ihre Aufmerksamkeit richten, während die Mutter in allumfassender Bläue versinkt. Und doch habe ich mir Mutter nie im Himmel vorgestellt.
»Vermisst du sie?«
Ich weiß, kaum dass ich sie ausgesprochen habe, dass die Frage ein Fehler war. Stella senkt den Kopf über ihr Nähzeug und versucht, ihren Kummer zu verbergen. Ich würde meine Worte am liebsten wieder an mich reißen, den Schmerz ungeschehen machen, den sie verursacht haben. Seit Mutters Tod ist Stella mir unentbehrlich geworden, und ich würde alles dafür geben, ihr nicht wehzutun. Ich weiß, wie erschöpft sie ist. Nachts höre ich, wie sie aufsteht, um sich um Vater zu kümmern und ihn zu trösten, wenn ihn die Trauer wieder einmal überwältigt. Es ist Stella, die jetzt den Haushalt führt. Mir wird bewusst, dass die Neigung ihres Halses, wenn sie sich über ihre Näharbeit beugt, eine exakte Kopie von Mutters Sitzhaltung ist.
»Ginia hat letzte Nacht wieder im Schlaf geschrien.« Der Trick funktioniert. Stella hebt den Kopf und sieht mich an.
»Konntest du verstehen, was sie gesagt hat?«
»Nicht sehr viel.«
»Ich spreche noch einmal mit Dr. Seton.« Stellas Besorgnis ist unverkennbar. Mir bleibt keine andere Wahl, als fortzufahren.
»Ich glaube, sie hat gesagt: >Steh gerade, kleines Zicklein.<« Wir sind zwei Mütter, vereint in der Sorge um unseren Schützling.
»Ich frage mich, was sie gemeint hat.« Stella greift nach der Schere und schneidet das Ende ihres Fadens ab. Sie hält das Hemd hoch, um es zu begutachten.
»Ich bin erleichtert, dass Vater eingewilligt hat, Adrian nicht aufs Internat zu schicken. Ich glaube nicht, dass er das ertragen würde.« Sie faltet das Hemd ordentlich zusammen und nimmt das nächste Kleidungsstück vom Stapel. »Und was ist mit dir, Nessa? Wie kommst du mit dem Zeichnen voran? Dein Bild mit den Lilien hat mir gefallen.«
Ich laufe vor Freude rot an. Der Kragen, an dem ich arbeite, scheint plötzlich von einem Lichtkranz umhüllt. Ich denke an die Lilien, das feine Filigranmuster ihrer Blütenblätter, ihre solide, trompetenartige Form. Zum ersten Mal seit Wochen verspüre ich einen Hoffnungsschimmer.
Du stehst auf der Fensterbank, mit ausgestreckten Armen wie ein Racheengel. Du starrst mich an, als ich auf dich zugehe. Dann schreist du, wenn ich auch nur einen Schritt näher käme, würdest du dich durch die Scheibe aus dem Fenster stürzen. Deine Hand greift nach etwas, um das Glas zu zerschlagen. Auf dem Boden liegen die Scherben eines Tellers, den du an die Wand geschleudert hast. Deine Schreie verstummen, und ich sehe dich am ganzen Körper zittern. Du lässt zu, dass ich dich ganz langsam und behutsam zu deinem Bett führe.
Ich zeichne einen Apfel, den Stella auf dem Tisch zurückgelassen hat. Du liegst auf dem Bauch und scheinst zu schlafen. Ab und zu höre ich dich wimmern. Du hast seit zwei Tagen nichts mehr gegessen. Das Licht strömt durchs Fenster und wirft Gitterstäbe aus Schatten auf den Fußboden.
»Es wird uns alle auflösen.« Ich halte im Zeichnen inne und blicke auf. Du hast dich auf die Ellbogen gestützt und starrst auf das Licht, das dein Kopfkissen...
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