Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Zahnärzte sind wie Petroleumsucher, sie setzen den Bohrer an und wühlen unbarmherzig und verbissen. Der Zahnarzt Doktor Aagaard kurbelt den Marterstuhl in seinem Ordinationszimmer hoch hinauf, beugt sein Gesicht ganz tief über Thesis Gesicht und arbeitet in ihrem Mund herum. Der Bohrer surrt. Daneben steht ein Fräulein im weißen Kittel, ihr Pferdegesicht glotzt teilnahmslos in Thesis aufgerissenen Mund. Sie hält ein Glas warmes Wasser in der Hand; wenn alles vorbei ist, darf Thesi den Mund ausspülen. Aber noch gar nichts ist vorbei, dieser Doktor Aagaard bohrt und bohrt.
Da versucht Thesi mit letzter Kraft in seine Hand zu beißen.
Doktor Aagaard zieht seine Hand aus ihrem Mund und sieht sie fragend an.
»Ich wollte nur fragen - suchen Sie etwas Bestimmtes in meinem Mund?«, fragt Thesi matt.
»Wa-ba?«, macht der Doktor und lässt sekundenlang den Bohrer sinken.
>Wa-ba<, sagt er, weil er ein Däne ist. Es heißt, >Wie beliebt?<, auf Dänisch und klingt nur für Ausländer so komisch, weil Dänisch überhaupt komisch klingt. Thesi ist keine richtige Dänin, manchmal vergisst sie noch, dass sie in Kopenhagen ist. Jetzt zum Beispiel, im Ordinationszimmer vom Zahnarzt. Zahnarztstühle schauen auf der ganzen Welt gleich aus. Thesi hat die ganze Zeit die Augen fest zugepresst und ein paar Minuten lang geglaubt, dass der Doktor Aagaard gar nicht der Doktor Aagaard ist, sondern der nette, alte Doktor Neumann. Aus Wien. Von früher. »Sie bohren so tief, suchen Sie etwas? Muss - muss das sein .?«, jammert Thesi.
»Mund ausspülen!«, sagt Doktor Aagaard nur; die Assistentin, die seit Jahren im Schein der grellen Zahnarztlampe verblüht, drängt Thesi das Glas mit dem lauwarmen Wasser auf. Auf lauwarmes Wasser kriegt jeder Mensch Brechreiz. Thesi spült und spült - sie weiß, je länger sie gurgelt, umso kürzer wird Doktor Aagaard nachher weiterbohren, im Wartezimmer sitzt doch noch ein Haufen Patienten. Das Glas wird schließlich leer, sie legt geduldig den Kopf zurück, der Bohrer surrt weiter.
Und jetzt beginnt Doktor Aagaard auch noch zu plaudern. Alle Ärzte plaudern mit ihren Patienten, wenn sie gerade im Begriff sind, ihnen besonders wehzutun.
»Eine interessante Verlobung steht uns bevor -«, plaudert mechanisch dieser Doktor Aagaard und konzentriert sich auf Thesis Weisheitszahn, links unten. »Sven Poulsen, Sie kennen doch den Namen, der große Architekt - übrigens ein reizender Mensch, langjähriger Patient von mir .«, renommiert Doktor Aagaard und bohrt stillvergnügt. »Ja, Poulsen wird wieder heiraten - nicht zucken, es tut ja nicht so weh, so - schön den Mund offen halten, brav - er wird sich mit Fräulein Karen Nielsen verloben, Tochter von Nielsens Söhne, die große Schiffsreederei - bitte, etwas Guttapercha, wir machen eine Füllung -.« Das eckige Fräulein reicht ihm irgendetwas, Thesi liegt noch immer mit geschlossenen Augen da und hält mechanisch den Mund offen, Doktor Aagaard plaudert .
». Fräulein Nielsen ist erst neunzehn. Aber was spielt das für eine Rolle bei einem Kerl wie Poulsen! Übrigens, seine neue Villa . Den Mund schön offen halten, jetzt kommt die Füllung - haben Sie noch nicht von der neuen Villa gehört, die sich Poulsen in Klampenborg gebaut hat? Bezaubernd, ich war neulich draußen. So - die Füllung hält, übermorgen kommen Sie wieder, sagen wir um -.« Thesi hebt den Kopf. Das Fräulein hält ihr wieder das lauwarme Wasser unter die Nase. Thesi steht erschöpft auf, tritt vor den Spiegel über dem Waschtisch und setzt den Hut auf. Der Hut sieht sehr mitgenommen aus. Thesi hat ihn die ganze Zeit zwischen den Händen gehalten, und wenn der Doktor fest bohrte, dann hat sie den Hut genauso fest verbogen.
»Also, übermorgen um halb elf?«, bestimmt Doktor Aagaard. Er steht beim Schreibtisch und studiert seinen Stundenplan, will ein Zeichen machen, hält inne. - »Verzeihen Sie - ich habe so ein schlechtes Namensgedächtnis. Zähne merke ich mir genau, jede Plombe von Ihnen weiß ich auswendig, aber Namen - Ihr werter Name?«
Thesi lächelt.
»Poulsen, Herr Doktor, Frau Poulsen«, sagt sie freundlich und schüttelt dem Doktor die Hand. »Mit Ihrem berühmten Patienten da - mit diesem Sven Poulsen war ich neulich verheiratet. Wiedersehen, Herr Doktor - Mittwoch um halb elf!«
Draußen ist sie.
Doktor Aagaard bemüht sich um ein würdiges Gesicht.
»Es ist mir peinlich, Fräulein Sorensen«, sagt er zu dem Pferd beim Marterstuhl. Das Pferd hantiert beim Spuckbecken herum.
»Die geschiedene Frau Poulsen, Herr Doktor - und ich habe Sie die ganze Zeit angeblinzelt«, sagt Fräulein Sorensen vorwurfsvoll.
»Zum Teufel Sie sind so kurzsichtig, Sie blinzeln einen ja immer an«, knurrt Doktor Aagaard und wäscht sich wütend die Hände.
»Also - den nächsten Patienten!«
Thesi ist nachmittags um halb drei vom Zahnarzt gekommen. Jetzt ist drei und sie liegt in der Badewanne. Morgens oder abends badet man schnell und gewohnheitsmäßig. Aber nachmittags, wenn Sonne ins Badewasser fällt - viel Sonne ist es leider nicht, Badezimmer haben schmale Fenster in den Hof hinaus - nachmittags ist es herrlich in der Badewanne. Neben der Badewanne steht ein Stuhl, auf dem Stuhl liegt die Aschenschale. Thesi zündet sich eine Zigarette an und liegt ganz still im Wasser. Heiß, herrlich heiß. Sie raucht einen tiefen Zug - dieses Biest von einem Zahndoktor bohrt und bohrt -, gut geht es einem in der Badewanne, man kann nachdenken und -
Und deshalb - also deshalb liegt sie jetzt in der Wanne, Montag drei Uhr nachmittags, während andere Leute im Büro sitzen oder spazieren gehen oder Kaffee trinken.
Thesi denkt nicht gern nach. Höchstens manchmal in der Badewanne. Komische Mission erfüllen diese Zahnärzte, überlegt sie. Zahnärzte sind das letzte Bindeglied zwischen geschiedenen Eheleuten. Dieser Doktor da - wie das Biest gebohrt hat! -, also dieser Doktor ist seit urdenklichen Zeiten der Zahnarzt von Herrn Poulsen. Dann hat Herr Poulsen die Wienerin geheiratet, die Thesi. Und als Thesi einen Zahnarzt brauchte, schickte er sie natürlich zu seinem Doktor Aagaard. So - Thesi ist vor zwei Jahren von Herrn Poulsen fortgegangen, Scheidung, Schluss mit Herrn Poulsen, seine Freunde grüßen sie kaum noch, und ihre Freunde, die neuen, jetzigen kennen ihn überhaupt nicht. Man lässt sich scheiden, das machen viele Leute; irgendwann bekommt man auch einen neuen Mann. Aber - wer wechselt freiwillig den Zahnarzt? Kein Mensch, überlegt Thesi, ich bleibe doch auch bei Doktor Aagaard. Bis der Tod uns scheidet .
Karen Nielsen . Thesi dreht den Wasserhahn auf und lässt heißes Wasser nachfließen, sie drückt das letzte Stückchen Zigarette aus, jetzt kann auch die rechte Hand ins Wasser kriechen. Thesi rutscht tief in die Wanne hinein, gar nichts denken, das heiße Wasser und der Dunst löschen alles aus, alles - nur nicht den Namen: Karen Nielsen.
Sie ist natürlich blond, denkt Thesi, eine Karen Nielsen muss blond sein. Wie angenehm, wenn man Karen heißen kann. Hier heißen fast alle Frauen Karen. Ein paar noch Ingrid oder Mette. >Thesi - was ist Thesi für ein Name<, - fragt jeder, der sie hier kennenlernt. Thesi seufzt auf: Karen, glückliche Karen .
Das heiße Wasser wird kühl. Thesi ist zu faul, um wieder den Wasserhahn aufzudrehen. Da liegt sie also und fröstelt. Dieser Sven hat eine neue Villa in Klampenborg und eine neue Braut. Sven und Thesi haben einmal in einer schönen altmodischen Wohnung in der Bredgade gewohnt. Sven baut die modernsten Häuser von Kopenhagen und sammelt heimlich alte Kommoden und Renaissancestühle. Vor zwei Jahren hat Thesi die Wohnungstür in der Bredgade wütend und endgültig hinter sich zugeknallt. Seitdem hat er sich eine Villa in Klampenborg gebaut. Zwei Jahre . In Dänemark muss man zuerst eineinhalb Jahre getrennt wohnen, dann gibt das Gericht die Scheidung. Das dänische Scheidungsgesetz ist sehr vernünftig, sagen die Juristen. In eineinhalb Jahren überlegt man sich viel. Thesi und Sven hatten sich nichts zu überlegen. Eineinhalb Jahre - in dieser Zeit wurde Thesi eine gute Modezeichnerin. Die großen Warenhäuser kaufen ihre Modelle und schreiben >Original Wiener Modelle< auf die Kleider, die nach Thesis Entwürfen geschneidert werden. Thesi ist früher in Wien in die Kunstgewerbeschule gegangen und hat ein bisschen Modezeichnen gelernt. Das war alles. Hier kauft man ihre Zeichnungen. Thesi hat eine energische Art, sie den Direktoren der Modellabteilungen einzureden, Thesi - selbst ein Original Wiener Modell. Nach eineinhalb Jahren schrieb sie Herrn Poulsen einen höflichen Brief: >Danke, ich verzichte auf Deine weitere Unterstützung, ich will von Dir nichts als die Scheidung.< Vor einem halben Jahr sind wir richtig geschieden worden, rechnet Thesi aus. Der Briefträger schiebt Thesis Post immer durch den Briefspalt an ihrer Wohnungstür, er läutet nie an, Thesi ist so unregelmäßig zu Hause. Vor einem halben Jahr findet Thesi auf dem kleinen Teppich vor der Tür einen unsympathisch seriösen Briefumschlag. Reißt ihn auf: die Scheidungsurkunde. Damals ist Thesi eine volle Stunde lang in der Badewanne gelegen.
So - und jetzt ist das Wasser wirklich saukalt. Thesi plätschert herum, man könnte sich auch waschen und fest mit dem Waschlappen abreiben, überlegt Thesi, aber sie ist zu faul, kein Mensch wäscht sich um halb vier Uhr nachmittags, also - heraus!
Thesi huschelt sich in einen riesigen Bademantel, grell geblümt, schleppend. Nimmt einen kleinen Handspiegel und eine Pinzette und legt sich auf die Wiese. Wiese ist eine breite, wiesengrüne Couch mit bunten Polstern und...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.