Schweitzer Fachinformationen
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Wieder Winter, 1989.
Die Entbindungsstation im Brigham Hospital.
Fola, aufgestützt im Krankenhausbett, noch blutig von den Wehen, klammert sich an seinen Arm.
Die Zwillinge, neun Jahre alt, schlafen tief und fest im Wartezimmer, auf diesen scheußlichen blauen Stühlen mit der gelben Schaumgummipolsterung, ineinander geschoben, wie sie das immer machen, ein lustiges japanisches Holzpuzzle: Taiwos Kopf auf Kehindes Schulter und Kehindes Wange auf Taiwos Kopf, ein Mädchen und ein Junge mit den gleichen Bernsteinaugen, die Funken aus den sonst so sanften Kindergesichtern schleudern.
Olu, der Apfelscheiben isst, schon mit vierzehn Jahren auf Gesundheit bedacht, und der Alles zerfällt liest; einziges Anzeichen seiner wachsenden Unruhe das mechanische Auf- und Ab-Wippen seines Oberschenkels.
Und das Neugeborene, noch ohne Namen, das in seinem Brutkasten um sein Leben kämpft. Und verliert.
Baby Sai.
In dem widerlichen Kreißsaal.
»Was ist mit Idowu? Wo wird sie hingebracht?«
Sie umklammerte seinen nackten Arm. Er trug noch seinen Operationskittel, sonst nichts, die Arme nicht bedeckt. Er war gerade beim Vernähen, als bei ihr die Wehen einsetzten (zu früh). Ein Freund am Brigham hatte ihn (über die Sprechanlage) angepiepst, er war durch den Schnee gerannt, vom Beth Israel hierher, die wirbelnden Flocken hatten seinen Blick verschleiert und die Wörter, zwei Wörter, sein Denken. Zu früh.
»Es war zu früh.«
»NEIN.«
Kein menschliches Geräusch. Ein Tier. Ein grollendes Knurren, aus dem eben leer gewordenen Bauch. Ein Schlachtruf. Aber wer war der Gegner? Er. Der Geburtshelfer. Die Zeit. Der Bauch selbst. »Folasadé«, murmelte er.
»Kweku, nein«, knurrte Fola mit zusammengebissenen Zähnen, und ihre Fingernägel gruben sich in seine Haut. Bis es blutete. »Kweku, nein.« Jetzt begann sie zu weinen.
»Bitte«, flüsterte er. Erschlagen. »Nicht weinen.«
Sie schüttelte den Kopf, weinend, immer noch seinen Arm durchbohrend (ohne auf seine anderen durchbohrbaren Teile zu achten). »Kweku, nein.« Als würde sie im Kopf seinen Namen ändern, von Kweku, einfach nur Kweku, zu Kweku-nein.
Er drückte die Lippen sanft auf ihren Kopf, stolz gekrönt von dem wunderschönen Afro, Folas Haar, der durch den Schweiß auf die Hälfte reduziert war. Eine Wolke winziger Spiralen, jede an der nächsten klebend, solidarisch, nach Indian Hemp riechend. »Wir haben drei gesunde Kinder«, sagte er leise zu ihr. »Wir können uns glücklich preisen.«
»Kweku-nein, Kweku-nein, Kweku-nein.«
Der letzte Ruf war schrill, fast Wut, Anklage. Er hatte Fola noch nie so aufgelöst erlebt. Die anderen beiden Schwangerschaften waren problemlos verlaufen, medizinisch gesprochen, die Entbindung wie ein Uhrwerk, wie im Lehrvideo. Die erste in Baltimore, als sie noch Kinder waren, die zweite hier in Boston, ein Kaiserschnitt, die Zwillinge. Und nun das. Zehn Jahre später, ein absoluter Zufall, ein Unfall, diese dritte Schwangerschaft (obwohl alle absolute Zufälle gewesen waren, in gewisser Weise). Bei dieser war Fola von Anfang an anders gewesen. Sie bestand darauf, sofort das Geschlecht zu erfahren. Dann bestand sie darauf, dass er niemandem etwas erzählte, nicht einmal den Kindern, weder (a) dass sie schwanger war, noch (b) was es war. Beides wurde aber offensichtlich an einem Sommerabend, als sie mit vier Eimern rosaroter Farbe nach Hause kam. Sie wählte den Namen ohne ihn, für »das Kind, das nach Zwillingen kommt«. Das überraschte ihn nicht besonders. Sie legte plötzlich Wert auf ihr Yoruba-Erbe, nachdem sie eine iya-ibeji geworden war, Mutter von Zwillingen. Er mochte den Namen nicht, der Klang gefiel ihm nicht, Idowu, und was der Name bedeutete, gefiel ihm noch weniger. Irgendetwas von Konflikt und Schmerz. Andererseits war er froh, dass sie nicht etwas noch Dramatischeres ausgesucht hatte, wie Yemanja, so wie sie sich die ganze Zeit aufführte. Schreine bauend.
Und nun das. Zehn Wochen zu früh. Man konnte nichts tun.
»Du musst etwas tun. Irgendetwas.«
Er schaute zur Krankenschwester.
Eine Trinkerin, würde er schätzen, nach dem Bauch und der Rosazea zu urteilen. Irisch, nach dem Süd-Bostoner »a« zu urteilen. Aber keine Spur von der Bigotterie, die oft damit einhergeht, und sanfte Augen, grau-blau, leuchtend. Diese Frau schaffte es, die Stirn zu runzeln und gleichzeitig zu lächeln. Mitfühlend. Während Fola Blut aus seinem Arm kratzte. »Wo ist sie hingebracht worden?«, fragte er, obwohl er es wusste.
Die Schwester lächelte stirnrunzelnd. »Auf die N.I.C.U.«
Er ging in den Warteraum.
Olu blickte hoch.
Er setzte sich neben Olu, legte eine Hand auf sein Knie. Olu legte Achebe weg und schaute auf sein Knie, als würde er jetzt erst merken, dass es wippte. »Pass auf deinen Bruder und deine Schwester auf. Ich bin gleich wieder da.«
»Wohin gehst du?«
»Ich will nach dem Baby sehen.«
»Kann ich mit?«
Kweku warf einen Blick auf die Zwillinge.
Ein lustiges japanisches Holzpuzzle. Sie schliefen wie seine Mutter. Olu betrachtete die beiden ebenfalls. Dann warf er Kweku einen flehenden Blick zu.
»Gut. Komm mit.«
Sie gingen schweigend den Krankenhausflur entlang. Vor ihnen sein Kameramann, rückwärts gehend. In dieser Szene: Ein hochangesehener Arzt geht mit energischen Schritten den Gang hinunter, um seine unrettbare Tochter zu retten. Ein Western. Wäre gut, wenn er eine Waffe hätte. Einen kleinen sechsschüssigen Revolver, Silber. Zwei. Etwas mit mehr Glanz als ein Hopkins-Arzt. Ein klarerer Gegenspieler wäre auch gut. Oder ein Gegenspieler, der weniger anspruchsvoll ist als die Grundregeln der medizinischen Wissenschaft. Als die Statistik.
Jetzt, Olu: »Und?«
Ende der Szene.
»Nichts.« Kweku lachte leise. »Nur müde, mehr nicht.« Er tätschelte seinem Sohn den Kopf. Oder, genauer gesagt, die Stirn seines Sohnes, weil der Kopf nicht mehr da war, wo er sich in seiner Erinnerung befand. Kweku musterte Olu aufmerksam, überrascht von seiner Größe (und von anderen Dingern, die er gesehen, aber noch nicht richtig registriert hatte: der breite Latissimus dorsu, der große Rückenmuskel, das kantige Kinn, die Yoruba-Nase, Folas Nase, breit und gerade, die straffe Haut, die gleiche Farbe wie seine und glatt wie ein Babypopo, noch jetzt in der Pubertät). Er war nicht hübsch wie Kehinde - der wie ein Mädchen aussah: ein unmögliches, unmöglich schönes Mädchen -, aber er war im Laufe eines einzigen Wochenendes, so schien es ihm, ein wirklich sehr gut aussehender junger Mann geworden. Er drückte Olus Schulter, um ihn zu beruhigen. »Mir geht's gut.«
Olu machte ein ernstes Gesicht, angespannt. »Ich meine das Baby. Was ist es? Welches Geschlecht?«
»Ach so. Richtig.« Kweku lächelte. »Es war ein Mädchen«, dann: »Es ist ein Mädchen«. Aber zu spät. Olu hatte die Zeit gehört (»war«) und musterte ihn misstrauisch.
»Was ist mit dem Baby?«, fragte er, seine Stimme angespannt.
»Der Fluch ihres Geschlechts. Ungeduld.« Kweku blinzelte. »Sie konnte nicht warten.«
»Kann man sie retten?«
»Unwahrscheinlich.«
»Kannst du's?«
Kweku lachte jetzt laut, ein unerwartetes Geräusch in der Stille. Er tätschelte Olus Kopf, diesmal erwischte er die Haare. Dass sein ältester Sohn seine Fähigkeiten als Arzt so hoch schätzte, erstaunte ihn immer wieder und freute ihn. Versöhnte ihn. Sein anderer Sohn interessierte sich überhaupt nicht dafür, was er tat, obwohl sie alle von seiner Arbeit lebten. Kweku nahm das nicht persönlich. Wenigstens dachte er das. Wenigstens ließ er es sich nicht anmerken, wenn der Kameramann dabei war. Er war ein intelligenter Vater, zu rational, um ein Lieblingskind zu haben. Und ein richtiger Mann, der über solchen kleinlichen Unsicherheiten steht. Und ein hochangesehener Arzt, einer der besten auf seinem Gebiet, verdammt nochmal!, ob es nun Kehinde interessierte oder nicht. Außerdem. Der Junge war nicht zu beeindrucken. Ewig gleichgültig. Alle seine Lehrer sagten das, Jahr für Jahr. Außerordentliche Begabung, beispielhaftes Verhalten, aber die Schule interessiert ihn nicht. Was tun? Kehinde interessiert gar nichts, sagte ihnen Kweku. Außer Taiwo. Immer außer Taiwo.
»Nein«, antwortete er Olu, und sein Lachen blieb, als Lächeln. Olus Augen ruhten seitlich auf seinem Gesicht. Dann entfernten sie sich. Sie gingen weiter den Gang entlang, schweigend. Plötzlich blickte Olu hoch.
»Doch, du kannst es.«
Als Kweku viele Jahre später an diesen Augenblick denkt, kann er den Ausdruck auf dem Gesicht des Vierzehnjährigen vor sich sehen. Olu schien - innerhalb von Sekundenbruchteilen - wieder ein kleines Kind zu werden, voller Vertrauen. Der Junge verwandelte sich, sein Gesicht weit offen, seine Augen so frei von Zweifel, dass Kweku den Blick senkte. Dass sein ältester Sohn seine Fähigkeiten als Arzt so hoch schätzte, brach ihm das Herz (ein zweites Mal. Das erste Mal hatte er es nicht gespürt). Er schüttelte schwach den Kopf und blickte auf seine Hände. Seine Finger, immer noch starr von dem schnellen Lauf durch den Schnee. Er taumelte am Abgrund, aber er wusste nicht, an welchem; irgendeine seltsame Kraft baute sich immer mehr auf, in ihm und gegen ihn. »Sie hat nicht das Herz dafür .«, begann er, unterbrach sich aber dann. Sie waren jetzt an der Glastür zum Säuglingssaal.
Kweku spähte hinein.
Da war es.
Auf der linken Seite.
Zweieinhalb Pfund, kaum atmend, kaum ein...
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