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In diesem Kapitel werden wir psychoanalytische Konzepte und empirische Befunde zu der Altersphase der jungen Erwachsenen kennenlernen und dabei den Fokus auf Untersuchungen in Deutschland legen. Zunächst werde ich das Konzept und die Forschung zu der neuen Entwicklungsphase »emerging adulthood« vorstellen, die sich im Zuge der Theorie von Jeff Arnett (2004) rasant entwickelte. Dieser Begriff bedeutet »entstehendes Erwachsenenalter«, was gelungen unterstreicht, dass sich Personen in dieser Phase keineswegs als Erwachsenen verstehen - wobei ihre Eltern diese Einschätzung teilen -, sondern irgendwo »dazwischen« und dass sie sich durch spezifische Merkmale auszeichnen. Es ist zu unterstreichen, dass diese Studien nicht an Patienten, sondern an klinisch unauffälligen jungen Erwachsenen durchgeführt wurden.
Anschließend geht es um die psychoanalytischen Konzeptionen, die in diesem Rahmen heranzuziehen sind, zum einen die Erikson'sche Theorie der Identität, die in den 1950er Jahren entstanden und aktueller denn je ist, wenn sich auch manche Ansprüche an die zeitliche Aufeinanderfolge zu lösender Konflikte (Sequenzierung) heute nicht mehr so aufrechterhalten lassen. Auf der Konzeption Eriksons aufbauend gab es viel Forschung zur Identitätsentwicklung und da sich diese Forschung über mehrere Dekaden erstreckt, konnte man gut belegen, was sich wirklich geändert hat. Dies wird uns ausführlich im nachfolgenden Kapitel ( Kap. 3) beschäftigen, denn die Auswirkungen der verzögerten Identitätsentwicklung auf Beziehungen sind gravierend und betreffen auch die therapeutische Beziehung ( Kap. 6). Schließlich sind Probleme in der Autonomie von den Eltern und in (Partner-)Beziehungen oftmals Anlass für eine Psychotherapie und es stellt sich natürlich auch die Frage, wie weit sich junge Leute in dieser Phase der Mobilität und des starken Selbstbezugs auf eine therapeutische Beziehung einlassen können, die doch ein erhebliches Commitment über einen längeren Zeitraum erfordert.
Havighurst, ein Entwicklungspsychologe, der 1956 ebenfalls eine Theorie darüber entwickelt hat, welche Aufgaben denn 18- bis 30-Jährige zu bewältigen hätten, wird ebenfalls in diesem Kapitel vorgestellt. Auch die psychoanalytische Konzeption von Blos (1973/2015) verdient eine ausführlichere Würdigung, besonders hinsichtlich der Frage: Was ist heute noch »normal?« Zum Schluss dieses Kapitels möchte ich eine Integration versuchen und die Frage beantworten: Was ist neu an dieser Phase des »emerging adulthood«? Bevor wir allerdings auf die empirischen Belege für die stattgefundenen Veränderungen eingehen, möchte ich erläutern, warum mir der Zeitbezug so wichtig ist.
In der Psychotherapie spielt Zeit eine enorme Rolle: Die Stunden sind zeitlich genau festgelegt, der zeitliche Rahmen der Erstreckung einer Therapie wird zu Beginn vereinbart und nach Möglichkeit eingehalten. Vor dem Verlängerungsantrag wird mit den Patienten das bisherige Erarbeitete und Erlebte sowie die zukünftige Perspektive besprochen. Viele Veränderungen in psychodynamischen Therapien brauchen Zeit. Dies ist auch einer der Gründe, weshalb die Effekte dieser Therapien einige Monate nach Beendigung der Behandlung (follow up oder Katamnese) noch deutlicher sind als zu Abschluss der Behandlung (Steinert & Leichsenring, 2017).
Im jungen Erwachsenenalter haben sich nun Verschiebungen in den Lebensphasen ergeben, in denen die jungen Leute einiges noch nicht können, was eigentlich in ihrem Alter »dran wäre«. Demgegenüber sind sie aber in anderen Bereichen durchaus schon reif und keineswegs mehr Jugendliche. Gerade der veränderte Zeitbezug macht es aber schwierig, die Krankheitswertigkeit einer Störung einzuschätzen, die ja immer noch, solange das Gutachterverfahren in Deutschland besteht, belegt werden muss, um eine Kassenfinanzierung zu gewährleisten.
Die Entwicklungspsychologie hat sich schon früh mit Lebenslaufkonstellationen und Altersgradierungen beschäftigt. In der Regel ging man von Siebener-Gliederungen aus, und diese strikte Unterteilung des gesamten Lebens in einzelne Abschnitte mit einer spezifischen Entwicklungsdynamik war sehr hilfreich. Allerdings hat sich hier in den letzten Jahrzehnten einiges verändert: Die Kindheit als Entwicklungsphase ist durch die früher eintretende körperliche Reife »geschrumpft«, die sich anschließende Adoleszenz hat sich dagegen durch die körperliche Akzeleration und die verlängerte Schulzeit ausgedehnt. Und schließlich war man in den letzten 20 Jahren darauf gestoßen, dass es offenkundig eine neue Altersphase gibt mit Personen, die nicht mehr Jugendliche sind, aber auch noch keine Erwachsenen. Altersmäßig umgreift diese Personengruppe das Alter von 18 bis 25 Jahren, in einigen Aspekten auch bis 30 Jahre. Es haben sich weitere Veränderungen ergeben, die erwähnenswert sind: Inzwischen gilt das mittlere bis hohe Erwachsenenalter keineswegs mehr länger als eine stabile Phase - das wird uns in Bezug auf die Eltern der jungen Erwachsenen noch beschäftigen ( Kap. 7). Vor allem aber: Die Phase der »nachelterlichen Gefährtenschaft« - das Paar lebt nach dem Auszug der Kinder alleine zusammen - ist inzwischen die längste Lebensphase geworden mit im Durchschnitt 40 Jahren (Seiffge-Krenke & Schneider, 2012). Auch wenn neue Partnerschaften gelebt und neue Kinder geboren werden oder in die Patchworkfamilie kommen - es bleibt auch gegenwärtig die längste Familienentwicklungsphase.
Für die neue Entwicklungsphase »emerging adulthood« (Arnett, 2004) ist charakteristisch, dass es zu Veränderungen in mehreren Bereichen gekommen ist. Zum einen sind Verschiebungen in objektiven Markern des Erwachsenenalters (wie Auszug aus dem Elternhaus, Berufseintritt, feste Beziehungen und Elternschaft) aufgetreten, die sich bis ins dritte Lebensjahrzehnt hinziehen und in Bezug auf die Elternschaft, oftmals noch viel später in Angriff genommen werden. Für diese Entwicklungsphase zeigt sich des Weiteren eine starke Selbstfokussierung und ein sehr langsames Fortschreiten der Identitätsentwicklung mit einem deutlich veränderten Beziehungsverhalten und veränderten beruflichen Perspektiven und Möglichkeiten.
Allerdings wurde bereits in den letzten 50 Jahren diskutiert, dass ein gesellschaftlicher Wandel eingetreten ist, der zu einem Strukturwandel der Jugendphase geführt hat. Man bemerkte, dass es zunehmend schwieriger wurde, Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter voneinander abzugrenzen, von einer »Entgrenzung der Jugendphase« war die Rede. Im Anschluss an Ziehes These vom »neuen Sozialisationstyp« war bereits Ende der 1970er und frühen 1980er Jahre die Diskussion um diese Veränderungen von narzissmustheoretischen Bezügen gekennzeichnet, Begriffe wie »orale Flipper« oder »neuer Sozialisationsstyp« waren stark soziologisch geprägt und bekamen medial viel Aufmerksamkeit; narzisstische Aspekte spielen auch gegenwärtig bei der Charakterisierung der neuen Entwicklungsphase »emerging adulthood« eine Rolle (Seiffge-Krenke, 2021a). Die Tendenz zur Verlängerung von Jugend, eines zunehmend langgestreckten sowohl bildungsbezogenen als auch jugendkulturellen Moratoriums wird also schon länger diskutiert. Allerdings blieben die Beschreibungen global. Was diese jungen Leute - im Vergleich zu früheren Generationen - denn genau ausmacht, blieb also eher vage, vergleichende Untersuchungen fehlten.
In den folgenden Jahren wurde aber immer deutlicher, dass da etwas Neues entstanden ist. Erst Jeff Arnett (2004) hat die neue Entwicklungsphase genauer bzgl. typischer Merkmale beschrieben, die sich so noch nicht im Jugendalter und nicht mehr im Erwachsenenalter finden. Es setzen dann Untersuchungen in vielen Ländern der Erde, so auch in Deutschland, ein, die Arnetts Thesen zu bestätigen scheinen. Heute gibt es eigene Zeitschriften (Emerging Adulthood), eine eigene Fachgesellschaft (Society for Study of Emerging Adulthood [SSEA]) und im Jahr 2022 etwa 1.300.000 Einträge in google scholar, was auf eine sehr hohe Forschungs- und Rezeptionsaktivität hinweist.
Dass neue Entwicklungsphasen entstehen, ist in der Geschichte der Menschheit keine ungewöhnliche Entwicklung, aber eine spannende. So waren Kinder früher mit der Welt der Erwachsenen vermischt, sie mussten arbeiten, konnten verheiratet und sogar als Bestrafung...
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