Schweitzer Fachinformationen
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Der Nieselregen fiel leicht in mein Gesicht, das seltsam erhitzt war, und die feinen Regentropfen kühlten meine Wangen. Sie mischten sich mit meinen langsam versiegenden Tränen. Es war furchtbar kalt an diesem Freitagmorgen Ende April, viel kälter, als es in den vergangenen Wochen gewesen war, und ich zog meinen dünnen Mantel fest um mich. Ich hatte Gespräche der Gäste mit angehört, die sich über das Wetter unterhielten, hatte hier und da einen Fetzen ihrer Erzählungen aufgeschnappt, hatte immer mal wieder freundlich genickt und unzählige Hände geschüttelt. Aber eigentlich hatte ich gar nichts mitbekommen.
Die Kälte, die an meinen in einer schwarzen Strumpfhose steckenden Beinen hochkroch, war mir egal, und wer von unseren Verwandten und Bekannten gekommen war, war mir auch egal. Erst recht, was sie zu erzählen gehabt hatten. Jetzt waren sie alle fort. Meine Kinder Caro und Steffen kümmerten sich mit meinen beiden Schwestern um die Formalitäten, rechneten mit dem Café ab und würden dann wohl wieder nach Hause fahren, während ich erneut hier stand. Ich wollte noch einmal mit ihm allein sein. Mit Frederik, meiner großen Liebe. Wir waren beinahe dreißig Jahre verheiratet gewesen, im August hätten wir unsere Perlenhochzeit gefeiert.
Wir hatten noch so viel vorgehabt. Wollten reisen, wenn er in Rente ging und wir endlich mehr Zeit haben würden. Wollten die bunten Basare von Marrakesch sehen und das Pergamonmuseum in Berlin besuchen, in Venedig eine Fahrt mit einer Gondel machen .
Wir hatten Höhen und Tiefen in unserer Ehe erlebt, zuletzt mehr Tiefen. Das musste ich wohl vor allem seiner Krankheit zuschreiben - im Nachhinein. Sie hatte ihn verändert, schon, als er noch nicht davon wusste, und erst recht, als wir die Diagnose bekamen. Koronare Herzkrankheit, die vor fünf Jahren durch einige kleinere Angina-pectoris-Anfälle eingeleitet worden war. Erst hatte er die immer wieder auftretenden Schmerzen in der Brust zu ignorieren versucht, schließlich hatte ich ihn im wahrsten Sinne des Wortes zum Arzt geschleift.
Doch Frederik hatte nicht wahrhaben wollen, dass er sich in Behandlung hätte begeben müssen. Statt etwas zu unternehmen, war er hartherzig und immer verschlossener geworden - und entsetzlich eigensinnig. Weniger arbeiten? Undenkbar! Die Ernährung umstellen? So ein Unsinn! Mit dem Rauchen aufhören? Unmöglich. Und mehr Sport treiben? Na ja, er war mit seinen Kollegen vom Versicherungsstammtisch kegeln gegangen, aber dass dabei ordentlich gebechert und gegessen wurde, ließ er unerwähnt. Alles für die Katz also. Es hatte mich traurig und wütend gemacht, dass er nichts für seine Gesundheit hatte tun wollen.
Ich starrte auf das nun mit Erde zugeschüttete Grab. Der Sarg war aus Mahagoniholz, ich hatte ihn mit roten Rosen und weißen Lilien schmücken lassen. Es waren meine Lieblingsblumen, Frederik hatte sich nicht besonders viel aus Pflanzen gemacht. Er hätte wahrscheinlich auch gut damit leben können, ohne Blumenschmuck beerdigt zu werden. Pah, damit leben können - was für eine Wortwahl! Leben könnte er vielleicht jetzt noch, wenn er nur befolgt hätte, was die Ärzte gesagt hatten. Der verdammte Sturkopf.
Ich hörte Schritte hinter mir. Eine Hand legte sich auf meinen Rücken.
»Du wirst ja ganz nass bei dem Regen, Beate.«
Christine, mit ihren vierundvierzig Jahren die jüngste von uns Schwestern. Ich zuckte mit den Schultern. Sie verstand das wohl falsch, nahm ihre Hand weg und stellte sich neben mich. Schnell fasste ich ihre Hand und drückte sie fest als Zeichen dafür, dass ich froh war, dass sie bei mir war. Auch wenn ich einen Moment vorher noch fest davon überzeugt gewesen war, allein sein zu wollen, so war es nun doch schön, sie in dieser Situation bei mir zu haben.
Gleiches galt für unsere älteste Schwester Ramona, die wir nur Mona nannten. Sie erschien an meiner anderen Seite. Gemeinsam schauten wir einen Moment schweigend auf das Grab, das mit Kränzen von Verwandten und den Freunden aus der Versicherungsagentur geschmückt war. Obwohl jeder von ihnen seine eigene kleinere oder größere Agentur führte und sie damit eigentlich in Konkurrenz zueinander standen, hatte sich dieses Netzwerk über die Jahre gehalten. Frederik hatte zu Beginn seiner Selbstständigkeit einen Stammtisch gegründet und war bei den Kollegen sehr beliebt gewesen.
Ich hatte mich in den vergangenen Jahren ein wenig von meinen Schwestern zurückgezogen, hatte genug mit meinem eigenen Leben um die Ohren gehabt, mit meinen Kindern und mit Frederik. Natürlich hatten wir uns dann und wann gesehen oder telefoniert, aber jede von uns dreien war sich doch im Grunde selbst genug gewesen. Nun waren Caro und Steffen längst erwachsen und standen auf eigenen Beinen. Ich merkte immer öfter, dass ich sie ziehen lassen musste. Wahrscheinlich würden sie mich erst wieder richtig brauchen, wenn sie selbst Kinder hatten. Und jetzt war auch noch Frederik fort. Ich war allein, vollkommen allein. Es tat gut, meine Schwestern in der Nähe zu wissen. Wir sollten uns unbedingt wieder mehr umeinander kümmern.
»Caro lässt dich noch mal drücken«, sagte Mona. »Sie und Olaf mussten gleich nach dem Kaffeetrinken zurück nach Ahrensburg. Das weißt du, nicht?«
Ich nickte. »Ja, wir hatten schon vorher darüber gesprochen. Olaf muss heute Abend wegen eines für ihn sehr wichtigen Kongresses nach Hamburg. Caro wollte bei mir bleiben, aber .« Ich ließ den Satz in der Luft hängen.
»Du wolltest es gar nicht?«, fragte Christine, und es klang überrascht.
Wieder zuckte ich mit den Schultern. »Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Ich stecke in so einem Gefühlschaos. Ich glaube, ich muss mich erst mal wieder sortieren.«
»Das verstehe ich gut.« Mona lächelte verständnisvoll und legte den Arm um mich. »Du warst in der vergangenen Woche ja so gut wie abgetaucht.«
Ich seufzte. »Dafür schäme ich mich ein bisschen, dass ich Caro und Steffen mit allem belastet habe. Es ist nicht richtig, dass ich die Kinder mit der Organisation so gut wie allein gelassen habe. Danke auch euch, dass ihr mit eingesprungen seid und tatkräftig mitgeholfen habt: beim Kartenschreiben, dem Raussuchen der Adressen, den Telefonaten, dem Gespräch mit dem Pfarrer . Ich konnte einfach nicht . Mir war alles zu viel .« Ein Kloß bildete sich in meiner Kehle, als ich an die vergangene Woche dachte. Schnell schluckte ich. »So kenne ich mich gar nicht.«
»Wir dich auch nicht«, sagte Christine und streichelte mir liebevoll über die Wange. »Aber es ist ja vollkommen verständlich.«
Dankbar sah ich von ihr zu Mona. »Es tut gut, dass ihr da seid.« Ich seufzte erneut, und plötzlich spürte ich Nässe und Kälte, merkte, wie durchgefroren ich war. Es kam mir vor, als hätte mich jemand ruckartig aus einem warmen Nebel zurück in die Realität gezerrt. »Vielleicht sollten wir doch langsam wieder zurückgehen.« Ich warf noch einen letzten Blick auf Frederiks Grab. Ich hatte es überstanden. Dann hakte ich mich bei Mona und Christine unter.
»Du musst dir nicht so viele Gedanken um deine Kinder machen«, meinte Mona da. »Du hast ihnen, vor allem deinem Sohn, immer sehr viel abgenommen. Aber sie sind groß, stark und selbstbewusst. Trau ihnen zu, Verantwortung zu übernehmen.«
Ich schaute meine ältere Schwester nachdenklich an. In ihrem Blick lag keine Kritik an meiner Erziehung, nichts Herablassendes, wie es sonst durchaus mal vorkommen konnte. Nein, ihr Blick war voller Wärme.
»Vielleicht hast du recht«, murmelte ich zögerlich.
»Bestimmt«, bemerkte Mona selbstsicher wie immer. »Sie scheinen besser mit dem Tod ihres Vaters fertigzuwerden als du.«
Christine sog scharf Luft ein. Neben ihren durchaus guten Eigenschaften war Mona leider nicht immer besonders taktvoll. Aber ich wusste, von wem es kam, und nahm es ihr nicht übel, außerdem hatte ich weder die Kraft noch die Lust, sie hier und jetzt zurechtzuweisen.
»Caro hat schon sehr getrauert«, erklärte ich dennoch. »Sie hat alles versucht, Frederik zu einem Lebenswandel zu bewegen, genauso wie ich. Wie oft hat sie mit Engelszungen auf ihn eingeredet, seine Ernährungsgewohnheiten zu ändern, mehr Sport zu treiben, seine Medikamente zu nehmen. Ich glaube, zum Schluss war sie einfach verzweifelt aufgrund seiner Sturheit. Wenn sie und Olaf mal am Wochenende zu Besuch kamen, war sie manchmal richtig ungehalten Frederik gegenüber. Ich glaube, in der letzten Zeit hat sie sich unbewusst schon langsam von ihrem Vater entfernt, vielleicht sogar verabschiedet. Sie kamen immer seltener zu uns.« Ich seufzte erneut. »Wahrscheinlich hatte Caro längst das Stadium erreicht, in dem ich erst jetzt bin.«
»Welches Stadium?«, fragte Christine.
»Das der Wut auf Frederik. Darüber, dass er nichts für seine Gesundheit getan hat, nichts, um am Leben zu bleiben.«
Wir drei schwiegen eine Weile. Der Kies knirschte unter unseren Füßen. Wir kamen jetzt zum älteren Teil des Friedhofs, er befand sich in der Nähe des Ausgangs.
»Und Steffen?«, fragte Christine. »Wie hat er den Tod seines Vaters verkraftet?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ihr kennt Steffen, er ist sehr pragmatisch. Hat genug mit seinem eigenen Leben zu tun, mit seinem Job als Projektleiter bei Mercedes-Benz.« Ich dachte kurz an ihn und seine Freundin Tatjana, mit der er seit zwei Jahren in Bremen zusammenlebte. Dem heimeligen Lilienthal, in das Frederik und ich gezogen waren, kaum dass wir verheiratet waren, und in dem wir das Haus für unsere Familie gebaut hatten, hatte er schnellstmöglich den Rücken gekehrt und war schon früh in die benachbarte Großstadt gezogen. Er hatte in mehreren WGs gelebt. Ob Tatjana seine...
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