Schweitzer Fachinformationen
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Gemobbt? Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Er wurde nicht gemobbt. Er hat gemobbt.
Er war ein seltsamer Typ, manchmal richtig unheimlich. Er mochte Waffen. War ganz besessen vom Tod. Er hasste die meisten Leute, weil er sie alle für Trottel hielt.
In gewisser Weise konnte ich nachvollziehen, wo das bei ihm herrührte.
Wir haben zusammen im Pizza Himmel gearbeitet. Er war ziemlich cool. Ich glaube, er hat sich ziemliche Sorgen gemacht, weil er bei den Frauen ständig Pech hatte. Darüber hat er oft geredet.
Ich kannte ihn nicht einmal. War er neu hier?
Ich habe gehört, er hatte eine Todesliste.
Seine Eltern sind für diese Katastrophe verantwortlich. Sie sollten jetzt im Gefängnis sitzen.
(Interviews mit Schülern und Lehrern der Quiet High)
»Bist du sicher?«
»Natürlich«, sage ich verärgert. »Ich bin absolut so weit, wieder in die Schule zu gehen, Mutter.« Ich betone das letzte Wort, weil ich weiß, dass es sie nervt. Vor langer Zeit schon hat sie darauf bestanden, dass ich sie mit ihrem Vornamen anreden soll. »Das ist viel erwachsener«, hatte sie mir erklärt. Damals war ich fünf.
Jetzt wirft Melissa mir nur einen mitfühlenden Blick zu, einen von denen, die sie sich für die Momente aufspart, wenn sie vor Mitleid fast zerfließt, wie damals, als ich mir den Zeh gebrochen hatte oder als ich beim Wissenschaftswettbewerb nur Dritte wurde. Es bedeutet immer, dass sie noch aufgewühlter ist als ich.
Seit jenem Tag ist eine Woche vergangen, und ich habe es satt, zu Hause rumzusitzen. Die Quiet High war sieben lange Tage geschlossen gewesen, während Mitarbeiter und freiwillige Helfer die kaputten Möbel und Fenster repariert, die Flure und Klassenräume saubergemacht und die Einschusslöcher verputzt hatten. »Eine dicke Schicht Farbe, und es ist wie neu«, hatte der Vorsitzende der Schulverwaltung in einem Fernsehinterview behauptet.
»Ich weiß nicht«, sagt Melissa skeptisch. »Du hast ein schreckliches Trauma erlitten.«
Trauma. Wenn ich das Wort noch einmal höre, dann schreie ich. Melissa hört sich an wie die Frau mit den fransigen Locken, die zwei Mal hier war, um mich zu nötigen, über das zu reden, was geschehen ist. »Du erlebst einen Flashback, stimmt's?«, fragte sie, als ich an ihren wirren, wie Flügel abstehenden Haaren vorbeistarrte und versuchte, ihre schrille Stimme auszublenden. Ich fühle so ziemlich gar nichts, und ich will nicht darüber reden. Doch seit Jesse mich an jenem Morgen aus der Schule geführt hatte, weil meine Beine so taub waren, dass ich kaum laufen konnte, rechnet Melissa mit meinem Zusammenbruch. Jesse musste mich festhalten, und ich lehnte mich gegen seine Brust, spürte sein Herz kräftig und sicher schlagen.
Jesse war der Held des Tages. Nachdem der Amokläufer das Schloss mit Leichtigkeit aufgebrochen und die Tür zur Abstellkammer zerschmettert hatte, hatte Jesse ihm mit einem metallenen Regalbrett, das er vorher aus der Wand gerissen hatte, eins übergebraten. Der Amokläufer brach benommen zusammen, die Waffe auf den Boden gerichtet. So stellte ich es mir zumindest vor. Den Rest hörte ich von Melissa, die tagelang andächtig jede Nachrichtensendung verfolgte. Sie haben die ganze Sache nachgestellt, mit diesen niedlichen, animierten Diagrammen, in denen eine Figur steifbeinig durch den Gang schleicht, wo vereinzelte Xe den Rest von uns Schülern darstellen sollten. Ich habe nicht viel davon gesehen, aber Melissa hat mir erklärt, wie es abgelaufen ist. Am Ende stand Jesse über dem Amokläufer, als der seine Waffe anhob. Sein Arm zitterte heftig. Jesse wich zum Schrank unter dem Waschbecken zurück. Er stand vor mir. In dem Moment zog der Amokläufer den Abzug.
Aber er hat nicht Jesse erschossen. Der Amokläufer hat sich selbst getötet. Nach all dem, nach seiner ganzen Protzerei und der Zerstörung und der Angst hat er lediglich sich selbst umgebracht. Ich war stinksauer, als ich es herausfand. Irgendwie war das nicht richtig. Jetzt werde ich ihn niemals fragen können Warum?.
In den ersten paar Tagen kampierten die regionalen und landesweiten Medien vor unserem Haus, aber ich bin nie rausgegangen. Sie haben nur ein Bild von mir, das aufgenommen wurde, direkt, nachdem Jesse mich aus dem engen Schrank gezogen hatte. Auf dem Foto hält er mich in einem Arm, das Metallbrett in dem anderen. So war ich auf der Titelseite der Quiet Daily News zu sehen, mit rotem, verschwitztem Gesicht, verwirrt und erschöpft aussehend, als sei ich gerade einen Marathon gelaufen, ohne es zu merken.
»Gibt's was Neues in den Nachrichten?«, frage ich Melissa, während ich widerstrebend einen Löffel lauwarmen Haferbrei in den Mund schaufle. Ich wische mir die Lippen ab und stampfe mit dem rechten Fuß auf, der neuerdings dazu neigt, aus heiterem Himmel taub zu werden. Melissa sagt, das wird bald wieder verschwinden.
»Sie haben wieder drei Leute aus dem Krankenhaus entlassen. Es ist wirklich unglaublich.« Melissa bezieht sich auf die Zahl der Toten: insgesamt einer. Und das ist der Amokläufer selbst. Glück für uns, dass er entweder ein miserabler Schütze war oder lieber auf Gegenstände als auf Leute zielte. Die Gewehrkugeln haben Vitrinen mit Trophäen zerschmettert, Schließfächer zertrümmert, Spruchbänder zerrissen und den Kopf des ausgestopften Gürteltiers zerfetzt, das als Maskottchen über dem Schulbüro hing. Von den fünfundzwanzig verletzten Personen waren alle indirekt getroffen worden, entweder von herumfliegenden Trümmern oder Querschlägern. Inzwischen liegen nur noch zwei Personen im Krankenhaus: Ein Zehntklässler hat sich das Bein gebrochen, als er auf einer Wasserlache unter einem tropfenden Wasserbrunnen ausgerutscht ist, und eine Sekretärin hat während der Schießerei einen leichten Herzinfarkt erlitten. Sie war an dem Tag allerdings mit einer Erkältung zu Hause geblieben und hatte die Berichterstattung im Fernsehen verfolgt.
In den Medien nennt man das Ganze ein Wunder, als sei es ein besonderer Glücksfall, wenn ein Psycho mit der Auge-Hand-Koordination eines Street Monkeys eine Kanone mit in die Schule bringt und alle terrorisiert. »Stell dir nur einmal vor, welchen Schaden er hätte anrichten können.« Dieser ständige Refrain verwirrt mich. Warum sollte ich mir das vorstellen?
Das gelbe Wandtelefon klingelt, und Melissa schnappt sich den Hörer mit der freien Hand - in der anderen hält sie einen hölzernen Kochlöffel und versucht, den angepappten Haferbrei aus dem Topf zu kratzen.
»Ja«, sagt sie geduldig ins Telefon. Der Haferbrei schmeckt wie Kleister. Ich weiß es zu schätzen, dass Melissa versucht, etwas mütterlicher zu sein, aber ihre Kochkünste kann man echt vergessen. Sie sieht vom Telefon zu mir herüber und lächelt. Sie deutet auf meinen Löffel. Lecker, was?, sagt ihr Blick. Sie ist so stolz auf sich, dass ich einen großen Löffel voll schlucke, um ihr einen Extrakick zu verschaffen. Wahrscheinlich hat sie es nötig. Diese Woche war auch für sie hart.
Normalerweise vergräbt Melissa sich ganz in ihre Forschungsarbeit, anstatt mir klebrigen Haferbrei zu kochen und sich um mich zu sorgen. Sie lässt den Kochlöffel klappernd ins Spülbecken fallen und versucht, eine ausgeblichene Cordjacke anzuziehen, während sie das Telefon mit Kopf und Schulter festhält. Dabei sticht sie sich fast die unechte Mohnblüte aus dem Knopfloch ins Auge. Sie gehört zu den wenigen Menschen, denen der Hippie-Chic steht. Bei ihr sieht ein Vintage-T-Shirt zu ihrem hässlichen Rock mit Blumenmuster nach Secondhand und stilvoll zugleich aus. Ich habe eindeutig ihr Stilempfinden geerbt, aber ich sehe niemals auch nur halb so gut aus wie sie. Außerdem sieht sie ein kleines bisschen aus wie Julia Roberts, außer, dass Melissa niemals Make-up trägt und dass sie klein ist - viel kleiner als ich. Trotzdem, sie hat genau dasselbe kastanienbraune Haar wie Julia Roberts und genau so ein meilenbreites Lächeln. Und sie ist der klügste Mensch, den ich kenne. Mit sechzehn war sie mit der Highschool fertig, hatte zwei Studienabschlüsse, noch ehe sie einundzwanzig war, und sie ist die jüngste Person, die jemals am MIT promoviert hat. Ich habe schon oft gedacht, dass ich mit einer anderen Mutter - zum Beispiel einer ebenfalls brillanten Wissenschaftlerin, die außerdem noch krankhaft fettleibig ist oder von einem unseligen Hautausschlag geplagt wird - eventuell viel angepasster wäre.
Sie murmelt immer noch »Hmm, mmh, mmmh« in einem eintönigen Singsang ins Telefon, doch jetzt geht sie mit der langen Schnur bis ins Wohnzimmer, und ihre Stimme wird leiser. Ich kann sie überhaupt nicht mehr verstehen, was mich natürlich neugierig macht. Melissa tut normalerweise nicht so geheimnisvoll - im Gegenteil, sie ist eher ein Mensch, der mit nichts hinterm Berg hält. Allein der Gedanke, wie sie dem Kassierer im Supermarkt erzählt hat, ich hätte angefangen »zu menstruieren«, während sie mit der Packung Binden vor seiner Nase herumfuchtelte, lässt mich immer noch erschaudern.
»Rufen Sie mich in einer Minute zurück«, höre ich sie in normaler Lautstärke sagen. Sie hängt den klobigen Hörer - ein Überbleibsel der früheren Besitzer - wieder an den Wandapparat. »Bist du sicher, dass ich nicht mitgehen soll?«, fragt sie.
»Ich bin ziemlich sicher, dass ich es allein zur Schule schaffe.«
»Nun .«, sagt sie skeptisch, aber ich merke, dass sie mit ihren Gedanken bereits woanders ist. Sie schnappt sich eine braunfleckige Birne von der Arbeitsplatte. »Ich bin in meinem Büro, ein paar Anrufe erledigen,...
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