Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Es war der erste Kaffee des Tages. Den brauchte Marlene immer dringend. Egal, ob Werktag oder Wochenende, lange bevor alle anderen aufwachten, genoss sie die große Tasse mit der frisch aufgebrühten hellbraunen Flüssigkeit. Nur in dieser genehmigte sie sich einen Schluck Sahne, später musste die fettarme Milch reichen. Vor ihr lag die aufgeschlagene Zeitung, doch die beachtete sie nicht weiter. Ihre Gedanken waren woanders, ihr Blick schweifte durch die Küche nach draußen, über den Balkon mit den Blumenkästen, in denen nach und nach die Frühblüher ihre farbenfrohen Blüten zeigten, und die Dächer der Reihenhäuser, die wie feingezogene Schnüre hübsch parallel von ihrer Straße abgingen. An deren Wendehammer befand sich das Mehrfamilienhaus, in dessen zweiten Stock sie vor Jahren mit Karsten gezogen war und wo sie seit sechs Monaten nun allein mit ihrer Tochter lebte.
Marlene liebte diese Jahreszeit, wenn die Natur wieder ihre schönsten Farben zum Vorschein brachte. Sie selbst trug auch bevorzugt farbenfrohe Kleidung. Apropos Kleidung, ein schneller Blick auf die Wanduhr sagte ihr, dass es langsam Zeit wurde, sich fertig zu machen. Es war der erste Samstag im Monat und damit »Frühstücksfrauen-Samstag« in ihrem Lieblingscafé, dem Violoncello. Irgendwann hatten sie sich so genannt, weil sie sich einmal im Monat zum Frühstücken trafen. Marlene konnte gar nicht mehr sagen, wer die Idee mit dem Namen gehabt hatte. War es Alix gewesen, die wohl Schlagfertigste unter ihnen? Oder Josefin, die handwerklich sehr geschickt war, aber als Halbschwedin, die zudem viele Jahre in verschiedenen Ländern gelebt hatte, manchmal mit dem Deutschen haderte? Oder Romy, die mit ihren drei Kindern eigentlich immer den Kopf voller Dinge hatte? Oder war es am Ende doch sie selbst gewesen? Immerhin arbeitete sie seit Jahren in einer Werbeagentur. Zwar nicht unbedingt im textlichen Bereich, sondern eher im gestalterischen, aber vielleicht hatte ja der tägliche Umgang mit Spots, Plakaten und markigen Sprüchen seine Spuren hinterlassen. Egal.
Unwillkürlich musste sie lächeln. Sie freute sich auf die Freundinnen, und sie freute sich auf ihr gemeinsames Frühstück. Insgeheim musste sie sich eingestehen, dass diese Treffen das Highlight ihres Monats darstellten. Sie hatten sich im Geburtsvorbereitungskurs kennengelernt und sich nach den Entbindungen weiter getroffen. Zunächst unregelmäßig und meistens mit ihren Kindern, später dann allein. Es gab kaum etwas Schöneres, als sich mit Freundinnen auszutauschen, die sich in einer ganz ähnlichen Situation befanden, obwohl sie charakterlich zum Teil recht unterschiedlich waren. Besonders, als die Kinder noch ganz klein gewesen waren, hatte es ihnen allen gutgetan, mal rauszukommen und in den Gesprächen festzustellen, dass die anderen mit den gleichen großen und kleinen Sorgen, Fragen und Nöten zu kämpfen hatten. Seit fünf Jahren trafen sie sich nun und waren sehr stolz darauf, es durchgezogen zu haben. Oft genug hatten sie dabei gegen Widerstände zu kämpfen gehabt. Regelmäßig hatte Karsten gemotzt, wenn sie am Samstagvormittag das Haus verließ, um endlich mal etwas für sich zu tun, nachdem sie sich die ganze Woche mit Windelwechseln, Wäschewaschen und Babybrei herumgeschlagen hatte. Er hatte nie begreifen können, wie sehr sie wenigstens einmal im Monat etwas Luft gebraucht hatte. Natürlich liebte sie Paola über alles und ging vollkommen in ihrem Muttersein auf, aber trotzdem musste man doch auch mal raus, oder etwa nicht?
Im Aufstehen leerte sie ihren Lieblingskaffeebecher mit den großen Rosen darauf und stellte ihn in die Spüle. In einer halben Stunde würde Karsten hier sein, um Paola abzuholen, und da wollte sie nicht im Nachthemd und mit wirren Haaren die Tür öffnen müssen. Obwohl sie nach wie vor schrecklich unter der Trennung litt, wollte sie nicht, dass man es ihr ansah. Dass Karsten ihr ansah, wie schlecht es ihr wirklich ging. Dass Paola bemerkte, wie angeschlagen ihre Mutter war. Für sie musste sie doch stark sein.
Marlene seufzte und straffte gleichzeitig die Schultern, während sie ins Kinderzimmer hinüberhuschte. Im Bett regte sich der kleine Körper ihrer Tochter, als das Sonnenlicht aus dem Flur in den noch dunklen Raum fiel. Sofort überflutete sie eine Woge von Liebe für ihr Kind.
»Guten Morgen, mein Schatz«, sagte sie sanft, ging zum Fenster, um die Jalousie hochzuziehen, was ein Brummen ihrer Tochter zur Folge hatte. Ruckartig wurde die Decke über den Kopf gezogen, sodass nur noch ein paar dunkle Haarsträhnen hervorblitzten, aber nun die Füße frei lagen. Vorsichtig setzte Marlene sich an den Bettrand und kitzelte zärtlich Paolas Fußsohlen, die daraufhin quiekte, die Decke zurückschlug und sie aus ihren wunderschönen braunen Augen verschlafen anblickte.
»Hallo, Mama.«
»Hallo, Liebes.« Sie beugte sich hinunter und gab Paola erst einen Kuss auf die eine Wange, dann auf die andere und zum Schluss noch einen auf die Nasenspitze.
»Ih, das kitzelt.« Energisch rieb sich Paola über die Nase. »Du riechst nach Kaffee.«
»Tue ich das nicht immer?«
Paola verzog das Gesicht. »Wahrscheinlich schon.« Sie schien zu überlegen. »Es ist Wochenende, oder?« Marlene nickte. »Was machen wir heute?«
»Du gehst doch zu Papa.«
»Ach ja, Papa-Wochenende.«
Es klang neutral, und Marlene gelang es nicht zu deuten, wie ihre Tochter das fand. Sie wirkte allerdings nicht übermäßig begeistert. Oder wollte sie ihre Freude, den Papa wiederzusehen, nur nicht zeigen, um sie, ihre Mutter, nicht traurig zu machen? Das Ganze war ein ständiger Balanceakt, und einmal mehr kroch die Wut in Marlene hoch, weil Karsten alles, was sie gehabt hatten, so leichtfertig weggeworfen und unnötig verkompliziert hatte. Und sie in Windeseile durch eine andere, natürlich jüngere Frau ersetzt hatte.
»Bestimmt macht ihr etwas Schönes.« Sie wollte nicht, dass Paola sich um ihre Mutter Sorgen machte. Es reicht schon, wenn ich mich ständig frage, wie sie das alles verkraftet. »Stehst du langsam auf und ziehst dich an?«
»Okay, Mama, gleich«, sagte Paola und drückte Trinchen an sich, ihren Kuschelhund.
Sie hatten bereits am Vorabend alles bereitgelegt und Paolas kleines Köfferchen gepackt. Eigentlich hatte Karsten sie - wie an jedem zweiten Wochenende - bereits am Freitagnachmittag abholen sollen, aber da er wieder einmal auf Dienstreise gewesen war, war es ihm erst heute möglich zu kommen. Logischerweise war damit auch der Mittwochnachmittag flachgefallen - wie so oft -, der eigentlich »sein« Nachmittag pro Woche mit seiner Tochter sein sollte. Das war während der »Verhandlungen« direkt nach der Trennung ein Zankapfel gewesen. Wie sie sich denn bitte schön vorstellte, dass er jede Woche einen Nachmittag freinehmen solle? Immerhin sei er schließlich derjenige, der Vollzeit arbeite! »Ja, danke, reib mir nur unter die Nase, dass ich für die Familie kürzergetreten bin und auf Fortbildungen und Aufstiegsmöglichkeiten verzichtet habe«, hatte sie ärgerlich geantwortet. Als Paola alt genug gewesen war, um in den Kindergarten zu gehen, hatte Marlene feststellen müssen, dass sie zu lange aus ihrem Beruf raus gewesen war und sich in der Zwischenzeit enorm viel verändert hatte. Ein neuer Chef hatte das Ruder der Werbeagentur übernommen, in der sie vor einigen Jahren als Grafikerin angefangen hatte, Kollegen waren gekommen und gegangen, auch das EDV-System war generalüberholt worden. Bei ihren paar Arbeitsstunden in der Woche hatte es niemand für nötig gehalten, weiter in sie zu investieren. Sie war halt eine Mutter, würde wahrscheinlich eh bald wieder schwanger werden und danach womöglich ganz wegbleiben. Überhaupt, Mütter zu beschäftigen war ein arbeitspolitisches Risiko - schließlich fielen sie ständig aus, weil irgendwas mit dem Nachwuchs war. Der alte Chef, der sie noch ausgebildet hatte, hätte Marlene vielleicht weiter unterstützt, weil er ihre fachlichen Kompetenzen und ihre Arbeitsmoral kannte, aber der neue hatte keinerlei Verbindung zu ihr. Sie wurde wie ein lästiges Anhängsel behandelt und war längst abgehängt, bekam nur noch die langweiligen Aufträge, die jeder Hinz und Kunz machen konnte und auf die sonst keiner Lust hatte. Immer öfter wurden ihr einfache Bürotätigkeiten zugeschoben, hin und wieder durfte sie mal ein neues Plakat oder eine Anzeige für einen ihrer wenigen verbliebenen Stammkunden gestalten, aber das war's dann auch. Sie machte weiter, was blieb ihr anderes übrig? Zum Glück hatte Karsten dann doch eingewilligt, anscheinend überrascht darüber, wie vehement sie in der Sache für sich eingetreten war. Wenn sie jemals wieder auf die Füße kommen wollte, musste sie ihrem Arbeitgeber zumindest einen Nachmittag in der Woche anbieten können. Hatte sie gedacht. Aber niemand war auf sie zugekommen. Man brauchte sie nicht, hatte sie sich ein weiteres Mal eingestehen müssen.
Nun ja, Marlene hatte vergangenen Mittwoch also nichts Besseres vorgehabt, und so hatte sie kurzerhand Paola nach dem Kindergarten abgeholt und war mit ihr Eis essen gegangen. Das erste Eis des Jahres. Paola hatte einen Biene-Maja-Eisbecher verspeist und sie den mit Amaretto und viel Sahne. Eine echte Sünde, aber unwiderstehlich. Manchmal musste man sich einfach etwas gönnen, fand sie.
Ihr Blick fiel auf das hübsche dunkelblaue Kleidchen, auf dessen Brust ein Herz aus rosa-silberfarbenen Wendepailletten prangte und dessen Rockteil aus einem fließenden Tüllstoff bestand, der beim Drehen hochwehte. Paola liebte dieses Kleid, wollte es unbedingt tragen, wenn ihr Vater sie abholte.
»Ich ziehe mich jetzt auch an.« Sie...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.