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Kapitel 2 Kira
Du bist eine Getriebene, hatte ihr Ehemann gesagt. Eine, die das Milieu des Todes braucht, um ihre eigenen Schatten zu verdrängen. Sechs Monate inmitten von Wald und Weinbergen werden dich in den Wahnsinn treiben.
Kira Lilienfeld zog die Beine zum Schneidersitz hoch und war entschlossen, ihm und sich selbst das Gegenteil zu beweisen. Sie sah hinauf zu den Sternen und genoss die aufkommende Kühle nach einem heißen Tag.
Wahrscheinlich hatte er das nur behauptet, weil er wütend war, dass sie nicht das Haus und seine schrecklichen Katzen hütete, während er mit der neuen Flamme am Great Barrier Reef tauchte. Natürlich übernehme ich die Nebenkosten, hatte er gesagt. Sicher hatte er mit seinem unfassbar großzügigen Angebot vor dem blonden Flittchen geprahlt. Und die hatte pikiert ihr winziges Näschen gerümpft über die giftige Ex, die lieber die Katzen dem Tierheim überließ, statt eine gute Verliererin zu sein.
Kira rieb Daumen und Zeigefinger gegeneinander. Eher würde sie hier eingehen, als einen weiteren Tag in dem gemeinsamen Haus zu verbringen. Ihr Rücken versank in dem weichen Kissen und der Hängesessel schaukelte sanft. Das idyllische Anwesen sah genauso aus wie in der Anzeige. Haupthaus, Scheune und die Wohnung, die für die nächsten Monate ihr Heim sein würden, bildeten ein U, eine Backsteinmauer mit eingelassenem Tor schützte den Hof vor Blicken von der Straße. Die ausladende Kastanie in der Mitte des Hofes bot tagsüber Schatten, der efeuüberwucherte Brunnen und die Kübel mit duftenden Oleandersträuchern unterstrichen das mediterrane Ambiente. Sie griff nach dem Handy auf dem Abstelltisch und schaltete die Kamera ein. Ein neues Selfie für ihr Nachrichtenprofil würde jeden überzeugen, wie tiefenentspannt sie war. Sie neigte ihren Kopf und lächelte, während sie das Display mit ausgestreckter Hand auf sich richtete. Doch die Person, die ihr entgegenblickte, sah alles andere als entspannt aus. Straff zurückgebundenes, braunes Haar, Schatten unter den hellbraunen Augen, blasse Haut. Es gab Frauen, an denen Blässe elegant aussah. Sie selbst gehörte nicht dazu. Als sportlicher Typ brauchte es eine gesunde Gesichtsfarbe, um die persönliche Attraktivität zu entfalten.
Schritte knirschten auf dem Kies und sie ließ das Handy sinken. Die schmächtige, gebeugte Gestalt ihrer Vermieterin kam auf sie zu.
"Fraa Lilie'feld?", fragte Frau Nagel in die Dunkelheit hinein.
"Ich bin hier."
"Des isch ä scheenes Plätzel, gell?"
"Es ist traumhaft hier."
"Do isch ä Viertele Graaburgunder. Sie hän doch Weißwei' gern?"
"Wie bitte?"
"Ich habe ein Viertele Grauburgunder für Sie." Frau Nagel betonte jede Silbe und es war deutlich, wie anstrengend es für sie war, hochdeutsch zu sprechen. "Mögen Sie Weißwein?"
"Wahnsinnig gerne." Die Wahrheit war, dass es Tage gab, wo sie alles wahnsinnig gerne trank, das reinhaute. Heute war so ein Tag. So wie gestern und der Tag davor. Sie nahm das Glas.
"Kann ich Ihnen noch ebbes Gutes tun?"
"Ich bin wunschlos glücklich."
Frau Nagel lächelte und neigte den Kopf, als würde sie auf etwas warten.
"Möchten Sie sich zu mir setzen?"
"I sollt net, aber I tu's doch." Frau Nagel kicherte und setzte sich auf die Bank neben dem Hängesessel. "Verraten Sie mir, was eine schöne, junge Frau in die südliche Pfalz verschlägt?"
Kira grinste, obwohl ihr klar war, dass sie mit ihren 43 Jahren für ihre Vermieterin tatsächlich jung war. "Mein erwachsener Sohn studiert in Karlsruhe und ich lege ein Sabbatjahr ein. Wenn ich schon eine Pause von der Arbeit mache, dann in seiner Umgebung."
Frau Nagel strahlte. "Der Sohnemann wird sicher froh sein, die Frau Mama in der Nähe zu haben."
Sebastian, der Sohnemann, hatte gar nicht froh geklungen, als sie ihm vor einigen Tagen verkündet hatte, wo sie geruhte, ihre Auszeit zu verbringen, statt wie geplant den Pacific Trail in Kalifornien zu marschieren. Dies war nämlich der ursprüngliche Plan gewesen. Mit der gemeinsamen Wanderung wollten sie und ihr Noch-Ehemann ihre Ehe retten. Blöd nur, dass ihm kurz vor der Rettungsaktion die große Liebe in Gestalt einer vollbusigen Endzwanzigerin begegnet war.
Kira räusperte sich. "Mein Sohn studiert Informatik und hat viel zu tun."
"Dann haben Sie ja jede Menge Ruhe für sich selbst. Jetzt trinke Se mol ebbes."
"Ihr Viertele. Sie haben noch nicht getrunken."
Kira nahm einen Schluck vom honigfarbenen Wein. Würzige Wärme erfüllte ihren Mundraum und floss die Kehle herunter wie Samt. "Der schmeckt fantastisch!"
"Das freut mich." Frau Nagel strahlte. "Der isch extra lieblich. Touristen aus dem Rheinland mögen keine trockenen Weine."
Sie nahm einen weiteren Schluck. Neben diesem Grauburgunder schmeckten all die Weine, die sie jemals getrunken hatte, wie Brause gemischt mit billigem Wodka.
"Und Sie haben keinen Mann?" Frau Nagel verschränkte die Hände auf dem Schoß.
"Wir leben getrennt."
"Des isch aber schaad." Sie holte Luft. "Das ist schade. Aber vielleicht kommen Se wieder zusammen."
"Vielleicht."
"Hat er Sie verlassen?"
Kira umklammerte das Glas.
Frau Nagel schüttelte erbost den Kopf, als sei Kiras Schweigen Antwort genug. "Männer wissen ääfach net, was se wolle'. Mal wolle' sie ä Mama, dann widder ä Luder." Sie schnaufte empört und Kira fragte sich, wie sie aus dieser Konversation fliehen konnte, ohne es sich gleich am ersten Tag mit ihrer Vermieterin zu verscherzen.
Schreie erklangen aus der Ferne.
Kira hob den Kopf. Nein, es war keine Einbildung. Jemand, oder besser eine Frau, schrie hysterisch und kam eindeutig näher. Sie stand auf und lauschte in die Dunkelheit.
Hilfe! Tim, bist du da? Hilfe!
Panik lag in der hellen Stimme. Kira sprang auf und sprintete über den Kies zum Hoftor, spitze Steine bohrten sich in ihre nackten Fußsohlen. Draußen auf der Straße war niemand zu sehen, doch das Schreien kam vom Haus gegenüber.
Tim, bist du da? Tim, bitte, bitte, mach auf!
Kira rannte entlang des Holzzaunes zur Vorderseite des Fachwerkhauses mit den üppig bepflanzten Blumenkästen. Als sie um die Ecke bog, sah sie die Frau. Besser gesagt das Mädchen. Eine magere Gestalt in einem sackartigen, weißen Kleid und krausen, blonden Haaren, die ihr bis zur Hüfte reichten. Sie stand unter einem Fenster und rief verzweifelt nach Tim.
"Hey, wie kann ich dir helfen?" Kira rannte zu ihr, geweitete Augen starrten ihr entgegen. "Alles okay, du bist hier sicher. Verfolgt dich jemand?"
Das Mädchen schüttelte den Kopf und atmete hektisch.
"Wie heißt du?"
"Ich ." Ihr Atem pfiff und die schmalen Schultern hoben und senkten sich hastig unter dem viel zu weiten Gewand.
"Langsam ausatmen", sagte Kira. "So ist es prima. Und jetzt tief einatmen. Alles ist okay, du machst das gut."
"Ich muss zu Tim."
"Wer ist Tim?"
Das Mädchen starrte auf das Fenster im ersten Obergeschoss.
"Ist er dein Freund?"
Sie nickte hektisch.
"Ich glaube nicht, dass jemand da ist, im Haus ist alles dunkel."
Hinter ihr hörte sie Schritte, und als sie sich umdrehte, eilte ihnen Frau Nagel entgegen.
"Was hosch'n, Juna?"
Das Mädchen schluchzte erneut und presste die Hände vor die Augen.
"Sie kennen sie?", fragte Kira.
"Natürlich. Des isch d'Juna."
Kira ging in die Hocke und umfasste die Oberarme des verängstigten Mädchens. "Juna, ich bin hier, um dir zu helfen. Was ist geschehen?"
Sie hob den Kopf. Ihre Wangen glänzten nass, die schmalen Augen waren geschwollen. "Arely ." Entsetzen spiegelte sich in ihrem Blick, als würde alleine die Erwähnung des Namens die Dämonen anstacheln.
"Was ist mit Arely?"
"Sie ist tot!", schrie Juna. "Arely ist tot!" Ihre Stimme hallte schrill von der Hauswand, sie ließ sich auf den Hosenboden sinken und vergrub das Gesicht in den Händen.
"Wo ist Arely?"
"Sie hängt am Pfahl! Sie brennt!"
Verrückt. Dieses Mädchen in dem seltsamen Gewand musste verrückt sein. Sie suchte im Gesicht von Frau Nagel etwas, das dies bestätigte. Verständnis, Mitleid, irgendetwas. Doch der Mund der alten Frau war geöffnet, die kleinen Augen entsetzt aufgerissen. "Kennen Sie Arely?"
"Des isch d'Schweschter von der Juna."
"Rufen Sie sofort die Polizei." Sie wandte sich zu Juna. "Wo genau ist Arely?"
Juna starrte auf den Boden.
"Ich weiß, wo das Feuer ist", sagte Frau Nagel monoton.
"Dann sagen Sie das der Polizei."
Die alte Dame wandte sich um und eilte mit winzigen Schritten zu ihrem Haus.
"Wo wohnst du?", fragte Kira.
"Da oben." Sie sah hinüber zu dem Berg, der wie ein mächtiger Schatten unter dem Mond aufragte. Bei ihrer Ankunft hatte die Sonne auf die Weinreben gebrannt, die sich in endlosen Reihen bis zur Spitze zogen. Dort thronte ein herrschaftliches Anwesen, dessen weißer Turm Kira an ein Schloss erinnert hatte.
"Du lebst in dem Herrenhaus?"
Sie nickte.
"Wie alt bist du?"
"Siebzehn."...
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