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1. Kapitel Olivia
Olivia Jacob war hochbegabt, Pastorin einer wachsenden Gemeinde und hatte einigen Menschen zu einem persönlichen Durchbruch verholfen. Obwohl sie sich ihre Stärken wie ein Mantra pausenlos ins Gedächtnis rief, fand sie seit Wochen kaum Ruhe. Genauer gesagt, seit sich eine Frau aus ihrer Kirche die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Heute gelang es ihr nicht einmal, einzunicken. Das Kissen war zu warm, Tobias' Worte hallten in ihrem Kopf. Annas Suizid betrifft uns beide, dich und mich, hatte er mit eindringlicher Stimme eine Sprachnachricht geschickt. Olivia hatte ihn später zurückgerufen. Er wollte nicht sagen, worum es ging, und sie war zu erschöpft gewesen, um Tobias' Wunsch nach einem sofortigen Treffen nachzukommen. Ihre Augen waren verquollen vom Weinen und niemand sollte sie so sehen, besonders nicht jemand aus ihrer Gemeinde. Vielleicht hatten seine Worte ihr auch Angst eingejagt.
Annas Suizid betrifft uns beide.
Olivias Glieder kribbelten und sie lauschte dem gleichmäßigen Atem ihres Ehemanns, der sich neben ihr auf der Matratze eingerollt hatte. Tom schien eingeschlafen zu sein, also gab Olivia dem Drang ihres Körpers nach und drehte sich auf die andere Seite. Der Lattenrost unter ihr ächzte und sofort regte sich Tom. Sein Arm wanderte von hinten über ihre Taille und seine Hand legte sich auf ihren Bauch.
"Kannst du nicht schlafen?", flüsterte er und rückte näher zu ihr heran.
Olivia brummelte etwas, von dem sie hoffte, dass es wie ein Laut aus dem Halbschlaf klang. Toms Brust schmiegte sich fester an ihren Rücken, seine Wärme trieb ihr augenblicklich den Schweiß aus den Poren. Sie zwang sich, ruhig zu atmen und bewegungslos liegen zu bleiben. Ihr Blick huschte zu dem Wecker auf ihrem Nachttisch. 2:37 Uhr. Er würde erst in vier Stunden klingeln. Sie hatte Tobias angeboten, ihn gleich früh um acht Uhr in der Kirche zu treffen, und er hatte zugestimmt. Nun bereute sie, dass sie die Verabredung nicht sofort hinter sich gebracht hatte.
Tom hielt sie umschlungen, die von ihm ausgehende Hitze hüllte sie ein wie eine kratzige Decke. Vorsichtig schob sie seinen Arm von ihrem Körper.
"Was ist?", fragte Tom.
Olivia setzte sich auf und schwang die Beine über die Bettkante. "Schlaf weiter, ich muss nur etwas trinken."
"Geht es dir nicht gut?" Er hatte den Kopf angehoben und blinzelte im hereinscheinenden Licht der Straßenlaterne.
"Doch. Bitte schlaf." Olivia erhob sich und tappte aus dem Zimmer. In der Küche holte sie ein Glas aus dem Schrank, füllte es mit Leitungswasser, setzte sich damit an den Tisch und schwenkte es gedankenverloren hin und her. Der Pfalzblitz lag aufgeschlagen vor ihr. Mehrere Male hatte sie das Schmierblatt wegwerfen wollen, doch aus irgendeinem Grund brachte sie es nicht übers Herz. War es Annas ebenmäßiges Gesicht mit den melancholischen Augen und den kastanienbraunen Haaren, das ihr entgegensah? Daran musste es liegen, denn den Text kannte Olivia längst auswendig.
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Neben Datum und Uhrzeit des Geschehens wurde viel zu detailliert beschrieben, wie Anna von ihrer Putzfrau mit aufgeschnittenen Pulsadern in der Badewanne gefunden worden war. Die letzten Sätze des Artikels hatten sich wie ein Brandmal in Olivias Seele gefressen:
Anna R. war aktives Mitglied in der evangelischen Freikirche CGF, die sich mehrmals wöchentlich in der Kirche von Leinsweiler trifft. Leitende Pastorin der CGF ist die stadtbekannte Olivia Jacob, die gerne von der Presse als Engel der Südpfalz tituliert wird. Unweigerlich fragt man sich, warum niemand dort merkte, wie es um die Seele von Anna R. stand. Pastorin Olivia Jacob hat dafür eine knappe Erklärung: "Ich kann nicht in jeden unserer Besucher hineinsehen."
Olivia umklammerte das Wasserglas, ohne daraus zu trinken. Unter Tränen hatte sie diesen Satz zu dem Reporter mit dem Pferdeschwanz gesagt. Doch so, wie der es formuliert hatte, kam es schnippisch rüber. Gleichgültig.
Nein. Sie wollte den dunklen Gedanken keinen Raum geben. Entschlossen stand sie auf und kramte aus dem Garderobenschrank das Vokabelheft unter Mützen und Handschuhen hervor, dort, wo niemand etwas Persönliches vermuten würde. Mit dem Heft setzte sie sich wieder an den Tisch und schlug es auf. Alle Seiten waren durch einen senkrechten Strich in der Mitte getrennt. Doch Olivia lernte keine Vokabeln. Stattdessen nutzte sie die beiden Spalten für Lüge und Leben. Sie kannte die Dualität des Daseins, wusste, dass es für jeden Menschen zwei Geschichten gab, die sein Leben beschrieben. Eine Geschichte, die Gestalt annahm, wenn man den destruktiven Gedanken glaubte, und eine völlig andere, die auf der heilsamen Kraft der Wahrheit beruhte.
Ich bin überfordert, schrieb sie in die linke Spalte, über der das Wort Lüge stand. Ich bin eine Versagerin, weil ich keine Ahnung hatte, dass Anna Probleme hat. Die Menschen lachen mich aus, sie lesen den Pfalzblitz und denken, dass ich eine unfähige Pastorin bin. Ich werde auch Tobias nicht helfen können. Er wird enttäuscht sein und der Gemeinde den Rücken kehren. Toms Erinnerung daran, wie ich ihn gerettet habe, wird verblassen, er wird erkennen, dass er mir längst überlegen ist und dass unsere Ehe ihm nichts mehr geben kann. Ich bin nutzlos. Eine Last. Eine Verliererin.
Tränen liefen ihre Wangen herunter, doch Olivia wusste, dass dies ein gutes Zeichen war. Sie erkannte bereits die Lüge in den Worten und das schaffte Erleichterung.
Die Situation stellt eine Herausforderung dar, der ich mich stelle, schrieb sie in die rechte Spalte, welche die Überschrift Leben trug. Annas Tod ist für uns alle schrecklich, doch hätte Anna Hilfe gewollt, hätte sie darum gebeten. Ich bin für jeden da, der um Unterstützung bittet. Die Artikel aus dem Pfalzblitz haben keine Macht, denn ich weigere mich, diese zerstörerischen Worte anzunehmen. Ich werde Tobias mit Liebe und Verständnis begegnen und das wird ihn stärken. Ich werde mich inmitten des Sturms für Zuversicht und Leben entscheiden und Tom wird stolz auf mich sein. Ich bin ein Segen für ihn und die Gemeinde.
Befriedigt las Olivia die Zeilen erneut, wischte sich die Tränen von der Wange und lehnte sich zurück. Ja, diese zwei Seiten des Daseins waren real und sie spürte bereits die Kraft, die von der Geschichte des Lebens ausging. Es war ihre Entscheidung, welchen Weg sie einschlagen würde.
Plötzlich freute sie sich auf das Gespräch mit Tobias. Seit Monaten besuchte er die Gemeinde, beriet als Arzt die Menschen bei ihren Wehwehchen und leitete zwei Gruppen, in denen er die Teilnehmer ermutigte, ihre Gesundheit selbst in die Hand zu nehmen. Tobias hatte denselben Herzschlag wie Olivia und sie fühlte sich geehrt, dass er Rat von ihr wollte.
Annas Suizid betrifft uns beide, dich und mich, hallte es in ihrem Kopf. Weil wir beide mit Anna befreundet waren, antwortete sie sich selbst.
Die folgende Stunde saß Olivia still am Tisch und gab sich der gewonnenen Zuversicht hin. Als die Wanduhr zeigte, dass es fünf Uhr war, hielt sie es nicht mehr aus, stand auf und schlich in den Flur. Dort hatte sie Jeans und Shirt bereitgelegt, um Tom nicht zu wecken. Leise zog sie sich an, schlüpfte in ihre Sneakers, griff ihre Handtasche und verließ die Wohnung. Die Fahrt von Landau nach Leinsweiler dauerte keine zwanzig Minuten und am Horizont sah sie bereits den hellen Streifen, mit dem sich die aufgehende Sonne ankündigte. Die enge Kirchgasse mit ihren Pflastersteinen war leer. Natürlich war sie das. Hier in Leinsweiler gab es keine Clubs, nur unzählige Weingüter, die spätestens um Mitternacht die Tore schlossen. Olivia verriegelte den Wagen, stieg die steilen Stufen hinauf bis in den Garten der Kirche und blieb einen Moment unter der hohen Linde stehen. Was für ein Segen, dass die Landeskirche Mitglieder verlor. Nur einmal im Monat fand hier ein regulärer Gottesdienst statt und man hatte ihr erlaubt, die Kirche für ihre Versammlungen zu nutzen. Wir dienen demselben Gott, hatte der alte Pastor lächelnd zu Olivia gesagt. Sie legte den Kopf in den Nacken und sog die Luft ein, die nach der feuchten Erde des Spätsommers duftete. Tobias würde erst um acht Uhr kommen, sie hatte genug Zeit, um hier aufzutanken. Der Wind raschelte im Laub der alten Linde und strich durch ihre Haare. Dieser Ort war dem Leben geweiht, das hatte sie vom ersten Moment an gespürt.
Langsam ging sie die letzten Meter und holte den Eisenschlüssel aus dem Fach unter den Fake-Steinen. Es schepperte, als sie ihn ins Schloss schob und versuchte, ihn zu drehen. Er klemmte mal wieder. Sie rüttelte am Knauf, zog den Schlüssel raus und steckte ihn erneut in den Schlitz. Schob ihn hin und her, bis er sich endlich umdrehen ließ. Die Tür knarrte, als sie aufschwang.
Olivias Blick fiel auf Tobias und sie erstarrte.
Links von ihr befand sich die Empore unter der Kirchendecke. Man hatte ihr erzählt, dass diese Empore einst die ganze Wand eingenommen hatte, doch irgendwann hatte ein leidenschaftlicher Musiker der Kirche eine kleine Orgel gestiftet, die nun weiter hinten stand. Dafür hatte man die Empore verkleinert.
Olivia wunderte sich, warum sie ausgerechnet in diesem Moment darüber nachdachte. Vielleicht, weil der Gedanke einfacher zu ertragen war als das, was sie sah. Ihr wurde übel. Sie wollte schreien, aber kein Laut kam über ihre Lippen. Sie blinzelte in der Hoffnung, dass ihr übermüdeter Verstand ihr einen...
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