Schweitzer Fachinformationen
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Remslingen lag still in der Morgendämmerung.
Nun ja, so still es eben einer Kreisstadt im Speckgürtel von Stuttgart gegeben ist. Auf den Ausfallstraßen standen die ersten Pendler, allein im Kombi oder in der Limousine, an roten Ampeln, und auf den Gehwegen hinauf zum Bahnhof schlurften Männer und Frauen mit vollen Taschen und leerem Blick. Doch wer die Michaelskirche, deren Geläut gerade halb fünf schlug, hinter sich ließ und die Remsauen betrat, tauchte in relative Ruhe ein. Der Verkehr der Bundesstraße, die einen großen Bogen um Remslingen beschrieb, war hier nur noch ein stetes Rauschen, an manchen Stellen leiser als das Gurgeln des Flusses. Hier gab es keine müden Fußgänger, die einen anrempelten, weil sie nichts als die Abfahrtszeit der S-Bahn vor Augen hatten. Nur ab und zu einen einzelnen Hund, der an einem der Spielgeräte das Bein oder mitten auf der Wiese den Schwanz hob, und einen mürrischen Mann, der ihm nur kurz zupfiff und dann im Wegschlendern so tat, als ginge ihn das Tier und seine Hinterlassenschaft nichts an.
So still also lag Remslingen, und es war, als würde die Stadt noch einmal tief durchatmen, bevor die Hektik des beginnenden Dienstags einsetzte. Am Rand des Biergartens auf der Storcheninsel rauchte ein Obdachloser seine Kippe zu Ende und rollte den Schlafsack zusammen. Richie lümmelte in der Winnender Straße hundemüde auf dem Fensterbrett oberhalb der Eingangstür seines Scottish Pub herum und schimpfte vor sich hin, weil er seit ein paar Wochen nicht mehr vernünftig schlafen konnte. In der Langen Straße am Westrand des Marktplatzes schwang ein alter Holzklappladen auf, und der Puppenspieler beugte sich verschlafen aus dem Fenster, schlürfte geräuschvoll an seiner Bechertasse und ließ den Blick prüfend hinüber zum Marktplatz gleiten. Er sah Horst Schwarzfuß, der gerade damit begann, in seiner Metzgerei die Auslage zu ordnen. Hinter den Glasfronten rundherum war dagegen noch nirgendwo eine Bewegung auszumachen, obwohl auch der Buchladen, das Café Journal und Sonjas Vitaminoase um acht Uhr öffneten. Nur aus der Oberen Sackgasse war leise der Dieselmotor eines Transporters zu hören. Dort luden Sonjas Lieferanten frühmorgens ihre Waren ab und stapelten Obst und Gemüse in Kisten neben der Hintertür ihres Ladens. Und ließen eben manchmal den Motor laufen.
Der Motor des Transporters lief noch eine gute halbe Stunde, bis eine der Nachbarinnen auf die Gasse trat, um sich zu beschweren. Wütend griff sie durch die offene Fahrertür und stoppte den Motor. Dann baute sie sich breitbeinig vor dem Fahrer des Wagens auf, der vor der Hintertür von Sonjas Vitaminoase auf dem Pflaster lag, als ginge ihn das alles gar nichts an. Doch der Mann reagierte nicht auf ihre Schimpftirade. Er reagierte auch nicht auf das vorsichtige Anstoßen mit der Schuhspitze, mit der die Nachbarin den vermeintlich Schlafenden wecken wollte. Dann erst fiel der Frau auf, dass der Mann seltsam verkrümmt auf dem Boden lag und mit weit aufgerissenen Augen zur Hintertür von Sonjas Vitaminoase starrte. Und dass er nicht mehr atmete.
Erschrocken holte die Nachbarin Luft. Dann beendete ihr gellender Schrei die morgendliche Stille in Remslingen.
Was für eine Nacht! Selbst nach seinem Albtraum war es Robert Mondrian vorgekommen, als höre er Geräusche und Stimmen. Einmal glaubte er sogar, durch das geschlossene Schlafzimmerfenster den Schrei einer Frau zu vernehmen, und zog sich daraufhin die Decke über den Kopf - weshalb er das Summen des Weckers verschlief. Erst kurz nach neun schlüpfte er aus dem Bett und in die Klamotten. Er ließ nur schnell einen Kaffee aus der Maschine und schlurfte mit der Tasse in der Hand ins Treppenhaus hinaus. In der Gasse hinter dem Gebäude schien irgendetwas vor sich zu gehen, aber um nachzusehen, fehlten ihm im Moment das Interesse und die Zeit. Seinen schusseligen Mitarbeiter wollte er nicht länger als unbedingt nötig allein im Laden lassen, und falls es etwas Spannendes aus der Umgebung zu erzählen gab, würde Alfons ihm ohnehin gleich alles brühwarm berichten.
Er betrat den Buchladen durch die Hintertür, und kaum hatten die beiden Kakadus sein Eintreffen wie immer lärmend gemeldet, da kam Alfons um das Regal mit den Liebesromanen in englischer Originalausgabe geflitzt.
»Sherlock! Watson!«, rief Roberts Gehilfe. »Werdet ihr wohl den Schnabel halten!«
Die Vögel dachten natürlich nicht daran, ihm zu gehorchen, und so führte Alfons seinen Chef schnell ans andere Ende des Ladens, um ihm mit aufgeregter Stimme die Neuigkeit zu überbringen.
»Stellen Sie sich vor, Chef: Neben der Hintertür von Sonjas Vitaminoase wurde heute früh ein Toter gefunden. Die Kripo ist da und sichert Spuren. Mich haben sie auch schon gefragt, ob ich etwas beobachtet habe, aber leider .«
Roberts Mitarbeiter wirkte tatsächlich untröstlich, kein Wunder: Er liebte alles, was mit der Polizei zu tun hatte. Krimis waren die eine Leidenschaft von Alfons, die andere, noch größere, waren Superheldencomics, und während Robert inzwischen nachgegeben hatte und zumindest einige Klassiker der Kriminalliteratur führte, blieb er in seiner Ablehnung von Batman und Konsorten hart. Im Gegenzug änderte sich nichts in der gegenseitigen Anrede der beiden: Robert duzte seinen Mitarbeiter, der ihm das gleich am ersten Arbeitstag angeboten hatte - und im Gegenzug hatte auch er ihm das Du angeboten. Doch Alfons stellte sofort klar, dass er seinen Chef auf gar keinen Fall duzen könne, und Robert, obwohl er das anders sah, gab nach mehreren erfolglosen Anläufen nach.
»Meinetwegen kannst du gern raus und dir das mal aus der Nähe anschauen«, sagte Robert. »Außer deinen Kakadus ist ja noch niemand da.«
»Aber, Chef, Sie wissen doch, dass ich diese Kakadus nur in Pflege .«
Robert brachte ihn mit einer knappen Handbewegung zum Schweigen und deutete grinsend zur Tür. Die altmodische Ladenglocke bimmelte noch, da war Alfons bereits am Schaufenster vorbeigehuscht und um die Hausecke verschwunden. Robert schlürfte von seinem Kaffee und schaute nachdenklich auf den Marktplatz hinaus. Ein Toter in der Gasse hinter seinem Haus. Die Kriminalpolizei, die in ihren Ermittlungen womöglich mehr Staub aufwirbelte, als ihm lieb war. Seine Kiefer mahlten, die Miene war ernst.
Dann wurde sein Blick weicher: Sonja, die natürlich weit mehr als er von der Sache betroffen war - und anders als er mit solchen Situationen keinerlei Erfahrung hatte. Einen Moment lang dachte er darüber nach, zu ihr zu gehen und ihr seine Hilfe anzubieten. Doch schon im nächsten Augenblick fiel ihm ein, warum er genau das nicht tun würde. Nein, nicht, weil er seinen Laden sonst unbesetzt zurückgelassen hätte. Robert lachte bitter. Er mochte früher auf die meisten sehr mutig gewirkt haben - aber mit einem klaren Ziel vor Augen, einem kampfbereiten Gegner als Widersacher hatte er einfach seinen Job gemacht. Aber eine Frau, für die man mehr empfand als die übliche Sympathie für eine nette Nachbarin . das war noch einmal eine ganz andere Sache.
Etwa zwanzig Minuten dauerte es, bis Alfons in die Buchhandlung zurückkehrte. Auf seinem blassen Gesicht hatten sich vor Aufregung rote Flecken gebildet, und statt einer vernünftigen Schilderung brachte er nur kurze oder abgebrochene Sätze zustande, die er mit überschnappender Stimme durcheinanderpurzeln ließ. Robert musste sich konzentrieren, um daraus halbwegs schlau zu werden. Scheinbar war vor der Hintertür von Sonjas Obstgeschäft einer ihrer Lieferanten tot aufgefunden worden. Alfons erging sich in Kleinigkeiten, vom laufenden Motor eines Transporters über die Nachbarin, die den Toten entdeckt hatte, bis hin zum Puppenspieler, der nach ihrem gellenden Schrei erst den Notruf gewählt hatte und dann auf die Straße gestürmt war, um nach der Frau zu sehen. Die Kriminaltechnik sicherte Spuren, eine Rechtsmedizinerin war vor Ort, und Polizeibeamte befragten die Nachbarn, wo sie heute zwischen drei und fünf Uhr morgens gewesen waren und ob sie etwas beobachtet oder gehört hatten, das der Polizei weiterhelfen konnte. Offenbar war der Tote nicht an einem Herzinfarkt gestorben. So weit hatte er das meiste verstanden, nur ein Detail verwirrte, und deshalb unterbrach er Alfons nach einer Weile.
»Was meinst du mit >Schneewittchen<?«, fragte Robert.
»Was?«
»Du hast gerade von >Schneewittchen< gesprochen - was hat das mit dem Toten zu tun?«
»Ach so . na, weil er doch von dem Apfel gegessen hat.«
Robert hob die Augenbrauen, und Alfons machte ein Gesicht, als habe er einen besonders begriffsstutzigen Kunden vor sich.
»Von dem vergifteten Apfel«, wiederholte er. »Eben wie Schneewittchen.«
»Der Mann wurde vergiftet?«
»Ja, natürlich!«
»Mit einem präparierten Apfel?«
»Genau!«, rief Alfons aus, nickte beifällig und trug eine Miene zur Schau wie einst Roberts Mathelehrer, wenn bei einem schlechten Schüler endlich der Groschen gefallen war.
»Und woher weißt du das? Die Kripo wird's dir ja nicht erzählt haben.«
Die roten Flecken wurden kräftiger, nun glühte Alfons fast vor Stolz. Er beugte sich ein wenig zu seinem Chef vor und senkte seine Stimme, obwohl sie allein im Laden waren.
»Die Rechtsmedizinerin hat's mir verraten, versehentlich«, raunte er. »Ich stand direkt neben ihr, und sie hat mich wohl für einen von der Kripo gehalten. Erst, als sie aufsah, hat sie ihren Irrtum bemerkt und mich fortgescheucht.«
Die altertümliche Ladenglocke bimmelte, als die Tür aufschwang und zwei Männer in Jeans und Hemd hereinkamen. Sie schauten sich kurz beiläufig um und nahmen im Näherkommen Alfons und Robert ins Visier. Robert...
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