Schweitzer Fachinformationen
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Jörg Burghamer hörte den alten Frieder schon kommen, noch bevor er ihn sehen konnte. Zwar hatte er ihm gestern gesagt, er solle endlich seinen rostigen Drahtesel in Ordnung bringen und vor allem die quietschenden Pedale ölen, aber so schlecht, wie Frieder inzwischen hörte, störte ihn der Geräuschpegel vermutlich nicht mehr allzu sehr. Also drückte Burghamer seinem Campinggast die letzte Broschüre in die Hand, die er für seinen morgigen Tagesausflug brauchte, und ging nach draußen. Unterwegs griff er sich das Ölfläschchen, das er für solche Fälle im Regal stehen hatte, und winkte dem heranrumpelnden Frieder zu.
»Hallo, Jörg!«, rief der Alte mit schwerer Zunge, und der Gast, der in diesem Moment ebenfalls aus der Rezeption des Campingplatzes trat, sah erschrocken zu ihnen hinüber, weil Frieder so laut gerufen hatte. »Na, ausgeschlafen?«
Burghamer grinste gutmütig und hob das Ölfläschchen hoch. Frieder stoppte sein dreirädriges Vehikel und verzog sein faltiges Gesicht zu einer zerknirschten Miene.
»Oh, die Pedale?«, lallte er. »Hab ich ganz vergessen, entschuldige.«
Burghamer winkte ab und ging vor Frieders Gefährt in die Knie. Frieder hob erst das eine und dann das andere Bein an und sah dem Betreiber des Campingplatzes dabei zu, wie er den Pedalen mit ein paar Tropfen Öl das Quietschen austrieb.
»Danke, Jörg«, krähte Frieder schließlich. »Ich muss dann auch wieder, es ist sechs, und du weißt ja: Da mach ich meine Runde!«
Der Alte tippte mit dem Zeigefinger kurz an seine Hutkrempe, trat in die Pedale und brachte sein rostiges Dreirad wieder in Fahrt. Gemächlich rumpelte er ein paar Meter weit in den Campingplatz hinein und dann über die Zeltwiese zum Seeufer. Auf der Ladefläche des Lastenrads schepperten ein Blecheimer, eine Sichel und einige andere Utensilien. Eine Sense war notdürftig befestigt, deren langer hölzerner Griff hinten herausragte und mit jedem Rumpler des Rades mal in die eine, mal in die andere Richtung schwankte.
Burghamer holte eine Limo aus dem Kühlschrank in der Rezeption und setzte sich in seinen kleinen Biergarten. Hier hatte er einen schönen Blick auf den Platz und auf den See, und nach Hause konnte er auch in einer Stunde noch fahren. Der Campingplatz war sein Leben, sein Garten, sein Beruf und sein Hobby zugleich, während der Hauptsaison auch sein Wohnsitz. Deshalb wussten die meisten Gäste auch, dass das Schild mit den Öffnungszeiten der Rezeption nicht ganz ernst gemeint war. »Täglich von 9.00 bis 13.00 und von 15.00 bis 18.00 Uhr«, stand dort - aber außerhalb dieser Zeiten war sie immer offen, wenn Burghamer ohnehin gerade da war.
Bob und Werner, die gemächlich näher schlurften, jeder mit drei Flaschen Bier in der Hand, wollten aber nichts Geschäftliches von ihm. Burghamer stand auf und holte ihnen zwei Weißbiergläser. Werner setzte sich zu ihm, während Bob ein drittes Glas holte und es vor dem Campingplatzbetreiber abstellte.
»Feierabend, Jörg«, knurrte er mit seinem gutmütig dröhnenden Bass. »Jetzt kommt dieses Zuckerwasser weg, wir trinken ein Weißbier miteinander.«
Frieder radelte am Biergarten vorbei und winkte den Männern, dann wurde das Gerumpel und Geschepper seines vollbeladenen Gefährts auch schon wieder leiser und verklang in Richtung der Trekkinghütten.
Bob, Werner und Burghamer lachten über alte Geschichten, die sie sich schon dutzendfach erzählt hatten, und als aus einiger Entfernung metallisches Klopfen zu hören war, prosteten sich die drei Männer zu.
»Auf den alten Frieder«, deklamierte Werner. »Und darauf, dass er noch lange fit genug ist, um seine Sense zu dengeln!«
Es war wirklich ein Glück, dass Frieder eine Aufgabe gefunden hatte, und Burghamer ließ ihn dafür gerne auf seinem Campingplatz werkeln. Früher war er ein geschickter Schreiner gewesen, selbstständig mit einer kleinen Werkstatt drüben im Dorf, am Ortsrand von Oberried, in demselben windschiefen Häuschen, in dem Frieder noch heute wohnte. Dann erlitt er daheim einen Schlaganfall, wurde erst recht spät von einer Nachbarin auf dem Boden liegend entdeckt - und als er endlich wieder aus dem Krankenhaus entlassen wurde, konnte er nicht mehr arbeiten. Doch anstatt aus lauter Verzweiflung das Saufen anzufangen, kämpfte Frieder tapfer gegen die Folgen des Schlaganfalls an und war irgendwann wieder so weit, dass er sich mit gelegentlichen Aufträgen ein paar Euro dazuverdienen konnte. Stühle und Tische bekam er zwar nicht mehr hin und seine Arbeiten fielen recht grob aus, aber jeder im Dorf, der etwas brauchte, was nicht allzu elegant werden musste, ging damit zu Frieder.
Als der Campingplatz seinerzeit eröffnet wurde, hatte Frieder alle Schreinerarbeiten erledigt. Er hatte auch die Trekkinghütten gebaut, die mit ihren bunt lackierten Holzwänden neben der Rezeption wie ein winziges skandinavisches Dorf beisammenstanden. Heute reparierte er beschädigte Bretter an den beliebten Unterkünften, so gut es ging, und Burghamer übertrug ihm auch andere Arbeiten, selbst wenn er manchmal danach noch einmal selbst Hand anlegen musste - natürlich ohne dass es Frieder mitbekam.
Zu Fuß war der Alte seit dem Schlaganfall nicht mehr besonders gut unterwegs, er humpelte stark, aber auf seinem Dreirad kam er ordentlich voran. Obendrein hatte seine Aussprache sehr gelitten, oft gelang ihm nur noch ein manchmal schwer verständliches Lallen, und viele, die ihn nicht kannten, hielten ihn deshalb für betrunken - dabei rührte Frieder fast nie Alkohol an. Am schlimmsten war es mit seinen Ohren: Schon vor dem Schlaganfall hatte er schlecht gehört, inzwischen aber war er beinahe taub.
Für die Arbeiten, die für ihn auf dem Campingplatz anfielen, spielte das nur selten eine Rolle. Schwieriger waren da schon seine Marotten zu ertragen. Seine Wachgänse zum Beispiel, die er vor zwei Jahren angeschleppt hatte: Frieder hatte sie Burghamer angepriesen, weil sie ihm doch einen Wachhund ersparten, wenn man sie nachts draußen ließ. Da hatte er zwar recht, aber die Gänse regten sich leicht auf - und nicht jeder Gast fand es witzig, wenn ihn mitten in der Nacht wildes Geschnatter aus dem Urlaubsschlaf schreckte. Deshalb durfte Frieder die Viecher nur außerhalb der Hauptsaison am Westrand der Campingwiese halten, wenn nur Dauercamper wie Bob und Werner hier waren. In der Ferienzeit musste er seine Wachgänse rüber auf sein Grundstück am Dorfrand bringen, wo sie in einen Verschlag mit angrenzender Wiese kamen.
Anton hingegen durfte das ganze Jahr über am See bleiben. Er war zu seinen besten Zeiten der fleißigste Deckhengst eines Pferdezüchters drüben in Deisenhausen gewesen, und als er nicht mehr gut genug seinen Mann stand, wollte ihn sein Besitzer an den Pferdemetzger verkaufen. Frieder, der dem Züchter seit Jahren die Zäune und Ställe gerichtet hatte, überredete ihn, ihm den Gaul zu überlassen. Zum Ausgleich arbeitete er einige Stunden unentgeltlich für den Pferdebesitzer - der sparte dadurch vermutlich mehr Geld, als ihm der Metzger bezahlt hätte, und Anton landete erst auf Frieders Grundstück am Ortsrand und später in einem kleinen »Offenstall«, einem umzäunten Stück Weide, für dessen Bau Burghamer dem Alten nicht weit von den Trekkinghütten entfernt eine Ecke seines Platzes überlassen hatte.
So hatten alle Beteiligten etwas davon: Der frühere Besitzer machte keinen Verlust, Frieder hatte einen schönen Flecken für sein Pferd, Burghamer kam kostenlos zu einer Attraktion für die Kinder, und Anton hatte einen schönen Platz mit Blick auf den See - und in Frieder einen treuen Freund, der mehrmals täglich nach ihm schaute und sich ausgiebig mit ihm unterhielt.
Dann kam der Schlaganfall.
Anton war völlig durch den Wind, als Frieder ihn von einem Tag auf den anderen nicht mehr besuchte. Immer wieder riss er aus seinem Gehege aus und suchte nach Frieder, anfangs nur auf dem Campingplatz, später auch drüben in Oberried. Burghamer kümmerte sich natürlich um den Gaul, und die Kinder auf dem Platz - Frieder hatte es mitten in der Hauptsaison umgehauen - balgten sich beinahe darum, ihm dabei helfen zu dürfen. Anton war trotzdem kaum zu beruhigen, ständig stellte er die Ohren auf und schaute auf den Weg, über den Frieder immer zu ihm gekommen war. Er schnaubte und wieherte, immer häufiger auch nachts, und es klang, als wollte er seinen alten Freund zu sich rufen.
Burghamer musste sich einige Beschwerden anhören, aber er brachte es nicht übers Herz, den Gaul hinter Frieders Rücken zu entsorgen. Bald darauf war er froh, dass er ausgehalten hatte. Anton wirkte zwar anfangs etwas ungehalten, als die Therapeutin den weitgehend gelähmten Frieder im Rollstuhl zu seinem Gatter rollte. Aber als das Pferd nach kurzem Zögern seine schwarzen Nüstern gegen den Oberkörper des Alten rieb und wie der mit viel Mühe seine weniger gelähmte Hand hob und sie dem Gaul auf die Schnauze legte - da wandte sich Burghamer schnell ab, um sich die Tränen unbeobachtet in der geschlossenen Rezeption abtupfen zu können.
Ohnehin hätte Burghamer gewettet, dass es die Freundschaft zu Anton war, die Frieder die nötige Kraft verlieh, seine Therapien, seine Übungen und all die Untersuchungen und Behandlungen durchzustehen. Während sich Burghamer und seine beiden Gäste wieder auf ihr Gespräch und ihr Bier konzentrierten, stand Anton dicht am Holzzaun, der seine kleine Weide umgab, und äugte zu seinem Besitzer hinüber, der sich in ruhigen Sensenschnitten und kleinen Schritten auf der Wiese zwischen dem Zaun und den Trekkinghütten voranarbeitete. Die Nüstern des Gauls bebten, als...
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