Klar vorn und achtern
»Adieu, Sophie, wisch ab dein Gesicht, ein jedes Schiff, das sinkt ja nicht.« Es würgte ihm gewaltig in der Magengegend. Fast brach der langgezogene Urschrei »Uuuulrich« aus ihm heraus, wie sonst nur im Seegang beim Wiedererscheinen des Frühstücks. Jan Maat, der Seemann, schleppte im Lichte der untergehenden Augustsonne seinen Reisekoffer in der Körperhaltung eines an die Wand urinierten Fragezeichens von Sachsen nach Preußen, zweihundert Meter weit von der Ost- in die Westhalle des Leipziger Hauptbahnhofs. Wieso begeben wir uns ausgerechnet mit dieser technisch und politisch anachronistisch anmutenden »Reichsbahn« aus jenen vergangenen Tagen in eine sonnige Zukunft, ging es ihm plötzlich im Pulk der am Bahnsteig Wartenden durch den Kopf.
Was bedeuteten vierzehn Tage Ostseeurlaub am FKK-Strand in Prerow schon anderes als das Himmelreich auf Erden. Nackte Jungfrauen bis hin zum Horizont. Die Gnade einer Geburt zwischen Rostocker Pils und Brambacher Mineralwasser ermöglichte es. Vom Wüstensand verstaubte Gotteskrieger müssen sich für ein derartig himmlisches Vergnügen erst in die Luft sprengen.
Ganz unter uns gesagt, dieses pralle Leben im Garten Eden ging solange gut, bis die um ihr Seelenheil besorgten Prüden von Rhein und Main mit ihrer schmutzigen Fantasie Besitz von den Stränden östlich von Travemünde ergriffen. Sie fühlten sich vom Skandal um Adam und Eva noch immer rein benommen, gebenedeit sei unser Heiland, und organisierten mit PRALINE und PLAYBOY unterm Arm stracks die Vertreibung der Nackten aus dem Paradies zwischen Boltenhagen und Ahlbeck, diese Heuchler. Empört euch! Freiheit statt Katholizismus!
Nach einer Reise in diese himmlischen Gefilde sahen die schmutziggrünen Waggons mit dem vergilbten DR-Logo in Wagenmitte und den verdreckten, blinden Fensterscheiben wahrlich nicht aus, eher wie hinter dem Mond. Schurrend und knirschend rollten sie am Bahnsteig 12 entlang, hintenan eine dröhnende Taigatrommel aus Woroschilowgrad, bis sie drei Meter vor dem Prellbock am Querbahnsteig endgültig zum Stehen kamen. An den klappenden Türen sammelten sich Trauben kofferschleppender reiseseliger Urlauber. An das Bemerkenswerteste dieser Türen kann sich mancher noch heute erinnern - die mehrsprachige Beschriftung, mit der auch in Russisch darauf hingewiesen wurde, dass hierzulande die Türen nicht vor Halt des Zuges zu öffnen sind. Nje otkriewatchj! Eine Hommage an den einzigen Sowjetmenschen, der je fahrplanmäßige Personenzüge der Reichsbahn benutzte, an einen inkognito reisenden Agenten des KGB.
Zur Küste, zur Küste - ein vom freien Bündnis der Gewerkschaften geschürter Traum wurde nach jahrelangem Ausharren, Urlaubsfreuden im Schrebergarten und drei Kniefällen vor der Ferienkommission des volkseigenen Betriebes für ausgesprochen unangemessen wenig Geld endlich wahr. Auch ein heimlich zugestecktes Päckchens Jacobs-Kaffee aus dem Westpaket von Tante Frieda tat dabei manchmal Wunder.
Den Seefahrer hingegen hatte es wieder einmal die größte Überwindung gekostet, aus dem warmen Schoß der Familie geklettert zu sein, um in den von Karl-Marx-Stadt kommenden D-Zug in Richtung Ostsee zu klettern. Er trug selbst die Schuld an seiner Misere, hätte er sich doch auch für eine Karriere als Erntekapitän inmitten wogender Getreidefelder entscheiden können. Musste er unbedingt in jener bösen, von Ausbeutern, Finanzhaien und Pommesbuden dominierten Westwelt herumschiffen?
Von dieser seelischen Belastung abgesehen, brachte den Reichsbahnprofi, wie es ein zur See fahrender Bewohner der mitteldeutschen Schluchten nun einmal sein musste, nichts aus der Ruhe, weder die muffligen Zugbegleiter noch der einsetzende kotzerig machende Seegang nach Verlassen des Bahnhofs. Die harten Stöße der Weichen erinnerten den Seemann vielmehr an jene Schläge, die sein Schiff in der Biscaya wegsteckte, wenn es mit der Schnauze in zehn, fünfzehn Meter hohe Wellenberge stieß, Tonnen grünen Wassers tosend auf die Back krachten und achtern die Schraube rumpelnd aus dem Wasser kam.
Der Zug konnte zwischen Karl-Marx-Stadt und Leipzig noch nicht die angenehmste Reisetemperatur erreichen. Sommer war's. Kühle Nächte im August lagen außerhalb der Vorstellungskraft der Reichsbahngewaltigen wie Schnee im Winter bei denen der Bundesbahn. Im Liegewagen bekam der frischgebackene Familienvater kein Auge zu. (Damals galt eine inzwischen veraltete Rechtschreibung. Frisch gebacken wie eine duftende Semmel, nun korrekte Schreibweise seit August 2006, fiel Hein Seemann erst in Rostock aus überheizten Zugabteilen heraus. Es war nicht alles schlecht in den Siebzigern. Zumindest vermochte sich der Mensch entsprechend der Regeln im Duden noch klar und deutlich auszudrücken.)
Auch die zwanzig Zentimeter weißes Linnen unterm Kinn auf der Pritsche des Liegewagens, die dem Reisenden ein Gefühl für die Sterilität der darin steckenden Pferdedecke vermitteln sollten, wiegten nicht in den Schlaf. So wie sich die Decke anfühlte, schien sie einst zur Ausstattung eines Lazarettzuges an die Ostfront gehört zu haben, ohne den Zügen an den Atlantikwall eine bessere Ausstattung unterstellen zu wollen. Und überhaupt, dieses Kapitel deutscher Geschichte in diesem Zusammenhang zu erwähnen, ist politisch nicht opportun.
Unter den Füßen der Reisenden in den rappelvollen Abteilen mit den sechs Sitzplätzen und den noch volleren Gängen mit den exklusiven Stehplätzen zwischen Bergen von Reisegepäck sangen die Räder ihr Lied der Arbeit. Sie rumpelten über die holprigen Schienen wie die ungeborenen sieben Geißlein im Bauch ihrer Mutter, und Jan Maat rumorte es im Herzen und sein Magen rebellierte. Irgendein diffuses Gefühl des Unwohlseins stieß ihm ganz sauer auf, obwohl die Silhouette des Überseehafens mit seinen Kranen und Schiffsleibern sich noch gar nicht in Sichtweite befand. Und zum wiederholten Male fragte sich der Seemann: »Was bin ich, warum, und wenn ja, was soll das alles?« Schon die alten Römer wussten darauf die eineindeutige Antwort: »Navigare necesse est - Seefahrt tut not.«
Um die Seele wieder zum Baumeln zu veranlassen, hatte es keinen Zweck jetzt über Sinn oder Unsinn des Aphorismus aus dem mystischen Faust, der Tragödie zweiter Teil, zu sinnieren: »Er sank von Stufe zu Stufe, zuletzt wurde er im Hafen gesehen.« Der Bildungsbürger Goethe verwendete in diesem Falle den Begriff »Hafen«, wie seinerzeit üblich, als Synonym für einen ganz profanen Nachttopf, der unter seiner Bettstatt von spät bis früh der Dinge harrte, die da kommen sollten. Seltsamerweise bekam der Spruch, in diese Richtung gedacht, wieder einen aktuellen Bezug, denn nur zu oft wurde der Seemann bei allen möglichen Gelegenheiten im In- und Ausland angepinkelt.
Erst vor einer Woche hatte Jan Maat seinen Erstgeborenen samt Mutter mit einem nicht auf Pump bezahlten Automobil der Marke Trabant aus der Geburtsklinik nach Hause geholt. Ausgerechnet an diesem Tage wollte das Miststück von Shiguli, diese der Heuer eines Seefahrers angemessene Luxuskarosse von der Wolga, nicht auf Pump bezahlt, mal wieder nicht anspringen. In den 23 Jahren ihrer friedlichen Koexistenz verweigerte diese Kutsche ihm hin und wieder den Dienst im kritischsten Moment. Doch dieses Missgeschick machte Jan Maat um eine beglückende Erfahrung im Leben reicher - einmal im Leben im Trabi zu fahren, Beispiel für die Bodenhaftung der werktätigen Massen, seemännisch Grundberührung genannt. Als Youngster im Toyota durch Singapore zu düsen, wenn auch nur als Fahrgast, ähnelte dem fröhlichen Jugendleben in der Republik nämlich nur sehr bedingt.
Neugeboren derart mobil, konnte es zukünftig im Leben nur noch besser werden. Bereits im pränatalen Stadium der Menschwerdung bekam dieser Knabe gegenüber dem Rest des Volkes den Vorzug, gemeinsam mit seinen Eltern die halbe Welt zwischen Yokohama und Rostock bereist zu haben. Jetzt, wo er endlich das Licht der Welt erblicken durfte, mussten sich die Wege so urplötzlich schon trennen. Es stimmte, was schon die Alten sungen: Kein Schwanz ist so hart wie die Seefahrt.
Trotz allem seelischen Leidens nicht zum Sterben bekümmert in den Zug steigen zu müssen, dazu gab Jan Maat die optimistische Predigt des Dorfpfarrers seiner Gemeinde Anlass, gehalten anlässlich einer Kindstaufe vor rund 150 Jahren:
»Heil den Kindern, möchte man hier ausrufen, die so glücklich sind, Eltern zu besitzen, die gemeinschaftlich das Wohl ihrer Kinder beraten, gemeinschaftlich es auszuführen sich keine Mühe verdrießen lassen. Man denke dagegen an Eltern, bei denen diese gemeinschaftliche Übereinstimmung nicht stattfindet, von denen der eine Teil gewöhnlich das Entgegengesetzte von dem wählet, was der andere vorgeschlagen hat, die ohne alle Schonung in Gegenwart der Kinder ihre vermeinten oder wirklichen Fehler sich vorhalten, auf die niedrigste Weise toben und schimpfen, und wohl gar zu tätlichen Misshandlungen sich hinreißen lassen, oder aus Verdruss und Verzweiflung sich der Trunkenheit ergeben; was muss hier die Folge für die Kinder sein? Wird nicht frühzeitig durch das tägliche Ärgernis, welches sie vor Augen haben, der Sinn für ein sanftes, liebevolles Betragen gegen andere in ihren Seelen ertötet werden? Werden sie nicht geradezu zum Eigensinn, zur Halsstarrigkeit, zu einem anmaßenden, zurückstoßenden Wesen, zum Zanke, zur Zwietracht, zur Rohheit und zu vielen anderen Lastern hingeführt? Wahrlich, hier muss man sprechen: Wehe dem, der da ärgert dieser Geringsten einen! Denn die entsetzliche Verschuldung, die solche gewissenlosen Eltern auf sich laden, liegt ganz klar am Tage. Beobachtet nur die Kinder in ihrem Umgange, und findet ihr da solche, die wegen ihres hämischen, ränkevollen und wirklich boshaften Betragens recht viel...