Kapitel 4
Milans Geschichte
Als ich meine Stute Mouna schon ein paar Jahre hatte, zog ich auf meinen eigenen Resthof. Es war immer mein Traum gewesen, einen eigenen Hof zu haben. Mouna war außerdem in ihrem damaligen Stall nicht sehr glücklich und wünschte sich, noch mehr mit mir zusammen zu sein und weit blicken zu können. So ging es mir auch. Als wir den richtigen Hof gefunden hatten, traf ich die Entscheidung, ein zweites Pferd zu kaufen. Die Alternative wäre gewesen, Einsteller dazuzunehmen. Aber aus Erfahrung weiß ich, dass Einsteller nicht für immer bleiben, und ich wollte Mouna die Chance geben, neben mir wenigstens ein beständiges Herdenmitglied zu haben, welches nicht wieder gehen würde. Jemand, der das Pferdeleben 24 Stunden mit ihr teilt. Den sie nicht verlieren würde, egal, was kommt.
Also machte ich mich auf die Suche. Eigentlich wollte ich eine weitere Stute kaufen. Ich fand auch einige, die mir gefielen. Ich durchforstete das Internet nach allen möglichen Pferden, die irgendwie in Frage kämen. Ich besuchte sogar einige. Ich wollte einen Kompromiss machen für Mouna und mich. Es sollte ein Pferd sein, welches wir beide mögen. Schnell stellte sich heraus, dass eine Stute keine wirkliche Option für Mouna war. Ich hörte immer nur "Nein, nein, nein", wenn ich ihr die in Frage kommenden Stuten geistig präsentierte und sie um ihre Meinung bat.
So gingen wir Hunderte von Pferden durch und langsam verlor ich den Mut, jemals ein passendes Pferd für uns zu finden. Ich erweiterte die Suche um Wallache. Irgendwann gab es einen Friesen, der uns gefiel. Nur lebte dieser in Österreich und krank war er auch noch. Ich war dennoch im Kontakt mit seinem Menschen.
Und dann entdeckte ich Milan. Er sah nicht sonderlich ansprechend auf den Verkaufsfotos aus, aber Mouna ließ das erste Mal ein klares "Ja!" hören, als ich ihn ihr gedanklich präsentierte. Ich hingegen war mir nicht so sicher, ob er wirklich DAS Pferd sein sollte. Auf den Fotos sah er sehr introvertiert, unmotiviert und frustriert aus. Auf allen Fotos schaute er gleich. Sonderlich schön fand ich ihn nicht. Er war mir auch schon ein bisschen zu alt. Das einzig Gute war, dass er tatsächlich ganz in der Nähe stand, nur sechs Kilometer von uns entfernt. Es würde ja nicht weh tun, ihn mal anschauen zu gehen.
Als ich ihn das erste Mal sah, sah ich vor allem seinen Hintern. Die Besitzerin ging mit uns um ihr Haus zu der Weide zwischen den Häusern. Dort stand er höchst gelangweilt, und als er seinen Menschen rufen hörte, wollte man meinen, er überlegte, sich in Luft aufzulösen. Ich habe selten ein so genervtes, frustriertes Pferd gesehen. Die Frau lamentierte laut, dass er ausgerechnet heute ja nicht zu ihr kommen wollte, und rief seinen damals sehr unangenehmen Namen bestimmt sechs Mal. Er kam nicht. Ich durfte ihn abholen. Noch auf der Weide, als ich einen Moment mit ihm allein hatte, sagte ich zu ihm, dass ich ein neues Zuhause für ihn hätte. Mit einer Stute, die ihm auf Lebzeiten versprochen war, wenn er das wollte. Er brauche nichts dafür zu tun. Ich sagte, dass ich mich freuen würde, wenn er auch Spaß am Reiten hatte, aber dass es keine Erwartungen meinerseits gab. Er solle mir einfach zeigen, wie er sich entschied. Ob er mitwolle.
Die Frau hatte schon länger versucht, ihn zu verkaufen. Seine Geschichte schilderte sie so, dass er von einer ambitionierten Züchterin als tolles Pferd an eine noch ambitioniertere Westernreiterin verkauft wurde, die Turniere mit ihm ritt. Er konnte viel und war sehr gut in seinem Job, doch gab es ein großes Problem: Milan entschied irgendwann, keine Lust mehr auf den Zirkus zu haben, und tat das kund, indem er sich einfach ganz stumpf mitten in der Prüfung in die Mitte des Reitplatzes begab und dort stehen blieb. Nichts konnte ihn dann bewegen, weiterzugehen. Er hatte schon immer ein dickes Fell und einen noch dickeren Kopf.
Milan war immer ein Pferd, welches wusste, was es nicht will. Und welches sich eher hätte Schmerzen zufügen lassen, als zu tun, was man verlangte. Um so deutlich und ruhig zu zeigen, wie es nicht geht, braucht man auch als Pferd eine enorme innere Größe, einen eisernen Willen und vor allem eine große Portion Selbstwert. Nicht zu vergessen eine ordentliche Prise Dickfelligkeit, Mut und Stolz, denn die Konsequenzen für solche Pferde sind oft unschön. Pferde müssen funktionieren. Kaum ein menschliches Ego, welches mit einer gewissen Erwartungshaltung an ein Pferd geht, duldet eine solche Verweigerung. Es ist klar, warum ich mich sofort in dieses Pferd verliebte.
Die Westernreiterin verkaufte ihn. Seine neue Besitzerin ritt zwar keine Turniere, aber auch bei ihr bekam er nicht die Anerkennung für das, was er war, sondern sollte funktionieren. Laut eigener Aussage biss sie sich die Zähne an ihm aus. Sie besuchte diverse Horsemanship-Kurse und andere Trainingslehrgänge, aber ihre Beziehung blieb eisig. Milan schenkte ihr nichts. Er ertrug sie, aber sie hatte Angst vor ihm. Sie hatte einfach keinen Spaß an ihm. Er ließ sich in der Bahn nur mit massivem Sporeneinsatz reiten und kehrte auch dort regelmäßig in die Mitte zurück, um stehen zu bleiben. Im Gelände war er hitzig, verweigerte oft die Wege, ging rückwärts oder rannte wie verrückt. Die Frau riet mir, niemals allein und ohne scharfes Gebiss mit ihm auszureiten. Sie hatte noch drei andere Pferde, mit denen sie eine kleine Reitschule betrieb. Diese Pferde waren erstaunlich nichtssagend und identitätslos. Es wollte mir damals nicht in den Kopf gehen, wieso sie diese drei Schatten ihrer selbst behielt und ihr einzig gutes Pferd verkaufen wollte. Es dauerte etwas, bis mir die schreckliche Wahrheit klar wurde: Genau deswegen verkaufte sie ihn. Milan war nicht zu brechen.
Milan war nie ein Pferd, vor dem man Angst haben musste. Er war zwar extrem wütend und frustriert, als ich ihn bekam. Jedoch hat er seine Contenance nie verloren. Milan ist wie ein Herr der alten Schule. Verliert nie die Fassung, tut niemandem weh. Passt sogar auf, dass niemand zu Schaden kommt. Liebt Kinder, Fohlen und Hunde, tut dies aber nur sehr leise und vorsichtig kund. Milan wollte aber generell mit Menschen nur noch wenig zu tun haben. Er äußerte seine Missgunst durch strikte Verweigerung. Als ich ihn bekam, hatte er sich längst geschworen, sich nie wieder auf die Kontrollspielchen der Menschen einzulassen, die von ihm nur wollen, dass er macht, was man sagt. Er hatte kein Interesse mehr an einer wirklich tiefen Freundschaft oder Bindung mit dem Menschen. Er brauchte so etwas nicht. Er wollte vor allem eine Stute haben, um die er sich kümmern durfte, und in Ruhe gelassen werden. Er hatte sich eine gewisse Grenze gesetzt, bis zu der man mit Kompromissen und Achtung vor seiner Seele mit ihm zusammen sein durfte.
Als ich ihn das nächste Mal besuchte, schaute er mir freudig entgegen, spitzte die Ohren und kam herüber, als ich ihn rief. Das war mein Zeichen: Er hatte sich entschieden. Beim dritten Besuch bekam er erst nicht mit, dass ich da war und stand wieder in seiner Ecke auf der Weide, mit dem Po zum Geschehen. Das andere Pferd, welches bei ihm stand, kam neugierig zu mir herüber, und noch bevor es drei Schritte tun konnte, bebte kurz die Erde. Milan kam in einem Affentempo auf uns zu galoppiert, als er mitbekam, dass ich da war. Er verscheuchte auf der Stelle das andere Pferd und bestand darauf, dass ich ihn mitnahm. Da war es sonnenklar: Er wollte zu uns gehören. Ich kaufte ihn. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich ihm Mouna gedanklich bereits mehrmals bekannt gemacht und beide gefragt, ob das nun der Deal sein sollte. Beide ließen mich ganz klar wissen, dass sie sich füreinander entschieden hatten.
Es sollte noch ein paar Monate dauern, bis unser Hof einzugsbereit war, und so lange ließ ich ihn bei seiner alten Besitzerin stehen und besuchte ihn mehrmals wöchentlich. Ich arbeitete frei mit ihm und ritt ihn aus. Seinen Sattel kaufte ich nicht mit, er bekam ein Reitpad. Ein paar Mal versuchte ich, ihn dort auch auf dem Reitplatz zu reiten, doch er zeigte mir sehr deutlich, was er davon hielt. Er kehrte immer wieder in die Mitte zurück und blieb dort stehen. Damals dachte ich noch, dass man reiten üben müsste. Ich war jahrelang nicht mehr wirklich geritten und fand, ich müsste erst wieder besser darin werden. Ich dachte, dass es etwas nützte, viel im Kreis zu reiten, um für das Pferd etwas zu tun und selbst sicherer zu werden. Milan sollte mich eines Besseren belehren und das war hoch an der Zeit. Er hat mich mit seiner Entscheidung, diesen Irrglauben der Menschen nicht mehr zu unterstützen, eine der wichtigsten Lektionen in Bezug auf das Verständnis für Pferde gelehrt.
In unserer Freiarbeit galoppierte er zwar gern umher und war froh, dass er sich mal zeigen durfte und seine Kraft demonstrieren konnte, aber auch hier kam er oft in die Mitte und stand da, mit gesenktem Kopf, traurig. Ich verbrachte viel Zeit damit, einfach bei ihm zu stehen. Trotzdem war ich damals noch sehr in dem Modus, doch irgendetwas mit einem Pferd machen zu müssen. Es musste ein Programm geben. So hatte ich es gelernt: holen, putzen, fertig machen, reiten, arbeiten, ausreiten, spazieren gehen, putzen, wegstellen. Wie ich anders mit einem Pferd zusammen sein konnte, war mir noch nicht ganz klar.
Es wurde zunehmend unangenehmer, in seinem alten Zuhause mit Milan zusammen zu sein, und wir waren beide äußerst froh, als ich ihn mitnehmen konnte. Als ich ihn holte, parkte ich den Hänger vor dem Haus, hinter dem er stand. Ich holte ihn am Halfter von der Weide, sein Kumpel wieherte ihm traurig hinterher, doch Milan drehte sich nicht einmal um. Er ging zügig mit mir ums Haus, zögerte keine Sekunde, als er den Hänger sah. Ohne anzuhalten, ging er hinein, sogar,...