DIE BÄRENHÖHLE
2016:
Ich höre ihn schnaufen. Seinen vollen, kräftigen Atem, den er rhythmisch in die kristallklare, eiskalte Luft stößt, während er durch den knirschenden Schnee stapft. Ich liege bäuchlings auf seinem Rücken und verschwinde fast in seiner dunkelbraunen Wolle. Sein Fell ist so warm und weich, dass es ist, als würde mich ein großes Sofa durch diese weiße, wunderschöne, weite Landschaft tragen. Ich bin schlapp, liege einfach so da, meine Arme und Beine hängen von seinem mächtigen Körper und ich schaue auch nicht, wohin wir gehen. Er wird es mir schon zeigen, es ist mir egal. Nur hier, nur in diesem Moment, auf diesem wunderbaren Büffel, kann ich einfach ich sein. So müde und so verletzlich, wie ich eben bin. Nach all den Jahren, nach all den unglaublichen Dingen, die ich in meinem Leben schon gehört, gefühlt, gesehen und erschaffen habe, liege ich hier auf diesem Wisent, den es gar nicht mehr gibt. Er trägt mich, wie immer. Dafür ist er da. Er steht für die unendliche Fülle, für das immer Versorgtsein. Für das Vertrauen darin. Bis heute fällt es mir schwer, diese Botschaft anzunehmen, für die er steht. Es wird immer genug da sein, ich werde immer versorgt sein.
Und so liege ich da. Die Augen geschlossen, lasse mich von seinem Gang durch die Kälte schaukeln und genieße die Wärme und diesen würzig-weichen Duft seines Fells.
Doch irgendwann bleibt er stehen. Ich richte mich auf. Und schaue auf einen See, er ist gefroren. Auf ihm liegt Schnee. Er ist groß, weiß und weit. Ich erkenne in der Ferne ein anderes Ufer und stöhne innerlich: Oh nein, müssen wir hier nun rüber?
Ich nenne meinen Büffel bei seinem Namen, den nur wir beide wissen dürfen. Und bemerke im gleichen Moment, dass ich Fell auf meinen Armen trage. Es ist Bärenfell. Ich erschrecke. Trage ich etwa einen Bärenpelz? Nein, so ist es nicht. Das ist mein Fell. Ich bin ein Bär. Das wundert mich. Und mein Büffel sagt: "Schau dir diesen See an. Möchtest du da rüber?" Ich muss nicht lange nachdenken: "Nicht wirklich. Wir könnten einbrechen. Das ist mir zu riskant. Müssen wir denn? Ich habe keine große Lust."
"Wenn du ein Bär wärst, was würdest du nun tun?", fragt mich mein Büffel.
"Ich würde mich in meine Bärenhöhle begeben. Ich bin müde und möchte mich dort einkuscheln, mich ausruhen und abwarten, schlafen."
"Ganz genau", sagt der Büffel. "Ganz genau das solltest du tun."
"Ja. Und wenn der Frühling kommt, dann kann ich wieder herauskommen, ausgeschlafen. Ich kann mal schauen, wie ich dann weitergehe. Ob ich mich am Ufer des Sees bewege, die Früchte der Natur nasche und mich langsam zur anderen Seite begebe oder ob ich durch den See schwimmen möchte, um schneller dort zu sein."
Mein Büffel nickt. Dreht um und trägt mich fort. Ich sinke zurück in sein Fell. Genauso ist es: Winterschlaf ist angesagt!
Als ich die Augen wieder öffne, sehe ich meine Schüler am Boden liegen. Sie haben sich wie kleine Tetris-Figuren auf Isomatten und Tierkissen gebettet in meinem Wohnzimmer auf dem Boden liegend arrangiert und lauschen meiner Trommel. Ja, ich trommle. Und gebe ihnen somit den Raum und die Zeit, sich mit Pferden und allen Tieren zu unterhalten. In ihrem Kopf. Innerlich lache ich kurz auf. Sie sehen so entspannt aus, so vertrauensvoll, so motiviert. Und ich fühle mich kein bisschen verrückt oder komisch, dass ich auf meiner Trommel den Herzschlag der Welt imitiere. Nein, es fühlt sich einfach richtig an. Und schön. Einfach selbstverständlich. Es ist eben so: Ich spreche mit Tieren, telepathisch, und scheine sehr gut darin zu sein, es anderen Menschen beizubringen. Ohne Tricks, ohne Esoterik. Ohne Mystik. Es geht, einfach so. Und die Leute machen es selbst. Seit sieben Jahren schon. Es gab nicht einen einzigen Kurs, in dem es nicht geklappt hätte, in dem die Leute nicht berührt und verändert nach Hause gegangen wären, nachdem sie bemerkt haben, wie einfach und naheliegend es ist, sich so mit Tieren zu verbinden.
Und doch bin ich es. Einfach ich, die ich immer schon war. Schon mit elf Jahren, als ich, so wie heute, in Gedanken auf meinem Büffel, damals auf May, meinem Lieblingspony, einschlief. Ich, die keine Lust auf Verantwortung hatte, schreckliche Angst vor Fremdbestimmtheit und immer wiederkehrenden, vor Langeweile mich erdrückenden Zwängen hatte. Auch diejenige, die sich schon mit drei Jahren so fühlte, als wüsste sie einfach. Ich bin es. Tini, die kleine Schwester, die Schulschwänzerin. Die schwierige Tochter und die coole Freundin. Die Wilde, die Musik brauchte, um zu fühlen. Die, vor der manche Angst hatten. Die gern allein ist. Die dachte, sie sei zu anders, um zu gefallen. Die sich gern vor ihrem Licht versteckte. Diejenige, die sich nur dann wirklich lebendig fühlt, wenn ein Pferd sie so schnell über das Land trägt, dass ihre Augen davon tränen. Wenn das Meer sie so oft durch den Wellenwaschgang schickt, bis sie Demut kennt und dann getragen wird von derselben Welle. Wenn sie zusammen mit Tausenden von Menschen einstimmig mit ihrer Lieblingsband Pearl Jam singt.
Dieses Ich sitzt da und trommelt. Einfach so. Es hat alles schon erlebt. Alles gesehen, alles getan, alles gefühlt. Dieses Ich, es war an Orten, die ich meinen nie geboren werdenden Kindern nie zeigen möchte. Es hat mitgespürt, was niemand fühlen sollte. Es hat erkannt und verstanden, was nicht zu verstehen ist.
Am Morgen nach dem Kurs werde ich durch das sehr laute Klingeln meines Festnetztelefons geweckt. Wie altmodisch, denke ich. Kaum einer hat überhaupt noch eine Festnetznummer. Aber ich mag das. Festnetz. Ganz fest sitzt es hier bei mir zu Hause und bedeutet: Ich arbeite hier. Dies ist mein fester Arbeitsplatz. Irgendwie brauche ich das, um nicht ins Absurde abzurutschen. Telepathie funktioniert überall. Immer. Distanz gibt es nicht in der Telepathie. Ob das Tier direkt neben mir sitzt oder ob es in Australien lebt und ich hier am Festnetz hänge, es macht keinen Unterschied. Die Verbindung ist immer gleich gut.
Ich könnte also von überall arbeiten. Ist das nicht grandios? Aber manchmal, da macht es mir Angst. Wenn ich könnte - wieso tue ich es dann nicht? Immer? Überall?
Ich möchte in meiner Höhle bleiben, den Winterschlaf einläuten. Meine Bärenhöhle ist mein winziges Schlafzimmer. Es ist unglaublich kuschelig und der Eingang ist auch noch geheim. Man muss durch den Schrank gehen. Niemand vermutet ein Zimmer dahinter. Nur das Festnetz. Das weiß genau: Ich bin hier drinnen. Und ich soll gefälligst herauskommen.
Der Anrufbeantworter springt an. Eine Frau spricht mit weinerlicher Stimme auf mein Band. Ihr Pferd, ein Notfall, er würde fast nichts mehr fressen, schon seit ein paar Tagen. Niemand wüsste, warum. Die Tierärzte auch nicht. Sie müsste entscheiden, ob er leben oder sterben solle und zwar schon morgen. Ich sei ihre letzte Hoffnung. Sie schnieft und dramatisiert. Ich habe wenig Mitleid mit ihr, kann schon an ihrer Nachricht heraushören: Es geht ihr nicht wirklich um das Pferd. Es geht um sie.
"Fies!", denke ich. "Jetzt verurteile doch die Frau nicht gleich!", und stöhne. Ich stehe auf und überlege, ob ich heute die Kraft haben werde für eine Menschenkommunikation. Denn eigentlich arbeite ich nicht mit Pferden. Sie sind der kleinste Faktor meiner Arbeit. Sie sitzen nicht gespannt oder verkrampft mit großen Augen auf meinen Stühlen, wenn der Kurs beginnt. Sie sind nicht mal dabei. Sie sind auch nicht diejenigen, die sich schwertun, zu verstehen, was ich sage. Sie sind auch nicht die, die schwierig zu verstehen sind, wenn ich telepathiere.
Ich arbeite mit Menschen. Und gebe jedes Mal alles, wenn ich es tue. All meine Liebe, all meine Kraft, all mein Verständnis, all meine Souveränität. Ich bin Profi. Dafür lasse ich mich auch bezahlen.
Aber heute - die Höhle ruft laut. Sieben Jahre lang immer alles gegeben zu haben, das lastet auf meinen Schultern. Mein Kurs war anstrengend. Ich brauche eine Pause.
Später dann zwingt mich mein Gewissen, mich doch mit der Frau und dem Wallach auseinanderzusetzen. Ich hinterlasse ihr eine Nachricht in meinem ruhigsten, liebevollsten Tonfall. Versichere ihr, dass sie heute gar nichts entscheiden müsse. Dass ich gern mit ihrem Pferd sprechen kann, noch heute Nachmittag.
Als ich dann im Stall bei meinen Pferden bin, ruft sie wieder an. Wieder hinterlässt sie eine weinerliche Nachricht, diese klingt für mich noch bedenklicher als die zuvor. Irgendetwas stimmt hier nicht. Aber der Wallach wird es mir schon sagen, denke ich.
Doch dieses Mal kommt es nicht so weit. Der Wallach, nein, die Frau wird einer der "1% - Fälle". So nenne ich die Fälle, in denen ich kein richtiges Pferdegespräch führen kann. Die Schüler meiner Pferdeflüsterer Ausbildung malen sich vor ihrem Abschluss, dem Profikurs, gern alle möglichen Problemfälle aus, was alles im Umgang mit Kunden passieren könnte. "Was ist, wenn mal jemand mich braucht, um über Leben und Tod zu entscheiden? Was, wenn ich falsch entscheide?" oder "Was, wenn jemand mich testen will?" oder "Was, wenn das Tier keine gute Antwort weiß?". Die Menschen, die ich unterrichte, durchlaufen in meiner Ausbildung ca. 3 Stadien, bevor ich sie als Tierkommunikatoren in die Welt schicke: 1. Sie merken, dass es funktioniert und sie es sogar selbst können. Faszination, Rührung, pure Freude oder vielleicht ein leichter Schockzustand sind meist das Resultat davon. Wenn sie das verarbeitet haben und...