Schweitzer Fachinformationen
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Helsinki
Daniel Kuisma drehte den Zigarillo ein paarmal zwischen Daumen und Zeigefinger und zündete ihn dann mit einem Streichholz aus der Schachtel an, die der Kellner soeben an den Tisch gebracht hatte. Er drückte auf die Navigationstaste seines Telefons, um nach der Zeit zu sehen. 17.52 Uhr. Er war rechtzeitig hier im Café gewesen, für den Fall, dass der Journalist von Helsingin Sanomat auch pünktlich kam. Als das Display erlosch, lehnte er sich auf dem Terrassenstuhl zurück. Der Abend wurde anscheinend, was das Wetter anging, genau das Gegenteil vom Vormittag - die Sonne brannte vom Himmel, und die Leute, die auf dem Bulevardi von der Arbeit nach Hause oder in die Straßencafés strömten, sahen so aus, als würden sie in ihrer dunklen Kleidung fast ersticken.
Nur ein paar Stunden zuvor hatte sich Daniel bereit erklärt, eine Aufgabe zu übernehmen, die sich sehr stark von allem unterschied, was er bisher gemacht hatte. Er war überrascht, dass er ein solches Vertrauen genoss. Dass man im Ministerium gerade ihn ausgewählt hatte. Nun stand er jedoch vor der großen Herausforderung, den in der kroatischen Hauptstadt verschwundenen Finnen zu finden. Und die dortige Polizei war trotz des Drucks durch den finnischen Außenminister nicht über die Anfänge hinausgekommen.
Allerdings hatte er sich gefragt, welche Möglichkeiten er denn hätte, diesen Fall zu lösen? Genau da lag der Grund für seine Zusage. Seit ihn die Frau verlassen hatte, waren die Tage immer gleich und geruhsam. Zuweilen auch bedrückend und oft sogar sterbenslangweilig - aber sie hatten seine normale Handlungsfähigkeit wiederhergestellt. Und jetzt war er bereit zu handeln. Im Nachhinein betrachtet kam Hämäläinens Vorschlag gerade richtig. Er brauchte etwas, das ihn stimulierte, etwas, in das er sich mit Feuereifer stürzen konnte.
Das Merkwürdigste an diesem ganzen Fall war, dass anscheinend niemand Jare Westerlund kannte. Zumindest nicht sehr gut. Westerlund war auf seine Weise auffallend sozial gewesen, aber an verkaterten Tagen, so die Aussage eines seiner Kollegen, »war er einfach nicht vorhanden«.
Aus Hämäläinens Unterlagen ging hervor, dass Westerlund seine Kindheit und Jugend in Tammisaari verbracht hatte. Beachtung verdiente, dass seine Eltern ungefähr zu der Zeit, als Westerlund volljährig wurde, bei einem Brand ihres Eigenheims umgekommen waren. Er wurde in einer vom Sozialamt organisierten Notunterkunft untergebracht, zog aber wenig später nach Helsinki, machte alle möglichen Gelegenheitsarbeiten und studierte schließlich an der Universität Helsinki Kommunikationswissenschaft.
Ein geradezu glücklicher Zufall half Daniel dabei, sich ein Bild von Westerlund zu machen: Einer seiner engsten Studienkollegen, Jakke Timonen, Redakteur bei Helsingin Sanomat, war mittlerweile ein wichtiges Verbindungsglied zwischen der Redaktion der größten finnischen Tageszeitung und der Helsinkier Polizei und insbesondere Raimo Hämäläinen. Die Kooperation des Polizisten und des Journalisten funktionierte äußerst effizient: Hämäläinen gab Timonen Tipps zu laufenden Ermittlungen, und der sorgte seinerseits für die Veröffentlichung bestimmter Nachrichten und Reportagen und reichte nötigenfalls Hinweise, die er bekommen hatte, an die Polizei weiter.
Auf der Terrasse des Cafés blieb eine alte Romafrau gebückt neben Daniel stehen, sie hielt ihm ein kleines Blechgefäß hin und formte mit fast zahnlosem Mund Worte, die er nicht verstand. Sanft schüttelte Daniel den Kopf, und hätte die Frau Finnisch verstanden, hätte er ihr gesagt, dass er das Betteln aus prinzipiellen Gründen nicht unterstützte. Er wusste zu viel über die organisierte Kriminalität, die im Hintergrund der Bettler agierte, und gab deshalb selbst Kleinkindern, die mit ausgestreckter Hand herumliefen, keinen einzigen Euro.
»No, no, away please!«, rief der Kellner, der aus dem Café gekommen war, und bedeutete der Bettlerin mit einer Handbewegung weiterzugehen. Daniel zuckte die Achseln, als er Blicke mit dem Kellner wechselte, der nun vor der Terrasse Posten bezogen hatte, um sicherzustellen, dass die Bettlerin tatsächlich weiterging.
Die Romafrau lief in ihrem watschelnden Gang angesichts ihres äußeren Erscheinungsbildes überraschend flott über den Bulevardi und wich entschlossen der Straßenbahn aus, die rumpelnd aus Richtung Erottaja heranraste. Der Frau kam ein langhaariger, hagerer Mann entgegen, der ein dunkles Sakko und Jeans und unterm Arm ein Tablet trug. Zumindest war der Mann pünktlich, dachte Daniel, während er erneut auf die Uhr seines Telefons sah, die jetzt 17.58 Uhr anzeigte. Der Journalist nickte ihm zu, noch bevor er das Straßenpflaster überquert hatte und den Fußweg betrat. Daniel erhob sich und stieß den Stuhl mit den Kniekehlen nach hinten, sodass der Asphalt unter den Stuhlbeinen krächzte.
»Daniel Kuisma. Danke, dass du gekommen bist«, sagte er und reichte dem skeptisch dreinblickenden Mann die Hand.
»Timonen, Jakke. Du bist also von der Polizei? Ich habe bisher noch nie von dir gehört«, erwiderte der Journalist mit gleichgültigem Gesichtsausdruck und strich ein paar Haare zur Seite, die ihm in die Stirn gefallen waren.
»Ich bin Armeeangehöriger und unterstütze die Polizei im Fall Westerlund.«
»Armee? Seit wann übernimmt denn die die Untersuchung, wenn Finnen im Ausland verschwinden?«, fragte Timonen ungläubig und setzte sich an den Tisch.
»Das ist ein besonderer Fall, und ich bin dabei, weil ich dank meines Backgrounds bei der Aufklärung der Sache von Nutzen sein kann. Mehr darf ich derzeit nicht sagen«, erklärte Daniel. Ihm gefiel die Art nicht, wie der Journalist das Gespräch eröffnet hatte.
»Na klar.« Timonen holte eine Schachtel Camel aus der Jackentasche und lächelte spöttisch: »Du erzählst mir nichts, ich muss dir alles erzählen und darf natürlich nichts darüber in der Zeitung schreiben.«
»Als Journalist wirst du verstehen, dass allzu viel Öffentlichkeit die Ermittlungen erschweren kann«, entgegnete Daniel und beobachtete, wie sich Timonen routiniert eine Zigarette zwischen die Lippen steckte. Es herrschte Schweigen, als er sie anzündete, einen tiefen Zug nahm und Daniel mit gerunzelter Stirn ansah.
»Ich erzähle natürlich das, was ich weiß. Dein Freund bei der Polizei verhält sich mir gegenüber immer anständig, also habe ich versprochen, dich zu treffen und zu sehen, ob ich behilflich sein kann.«
»Raimo Hämäläinen ist ein anständiger Kerl.«
»Manche Leute bei der Polizei empfinden uns investigative Journalisten als Bedrohung. Oder als Störfaktor. Hämäläinen hat diese Faxen nie mitgemacht.« Timonen legte eine Pause ein und blickte mit zusammengekniffenen Augen gen Himmel. »Vor allem aber wünsche ich mir, dass Jare bald gefunden wird und zwar - was das Wichtigste ist - unversehrt.«
»Wir tun unser Bestes, damit das geschieht«, sagte Daniel ganz ruhig, holte aus seiner Brusttasche einen kleinen Notizblock samt Kugelschreiber und fuhr fort: »Wenn ich das richtig verstehe, seid ihr alte Bekannte, du und Westerlund?«
»Jare und ich, wir sind ursprünglich Studienkollegen an der Uni in Helsinki gewesen. Wir haben vor sieben Jahren zur gleichen Zeit am Institut für Kommunikationswissenschaften angefangen. Neben dem Studium haben wir beide als Laufburschen im Radisson Blu in der Mikonkatu gejobbt, das damals aber wohl noch Radisson SAS hieß. Anyway, man könnte sagen, dass wir während des Studiums sowohl an der Uni und bei dem Job als auch größtenteils in der Freizeit viel miteinander zu tun hatten.«
»Also beste Freunde?«
»Na ja, so könnte man das schon formulieren. Wir haben zu der Zeit wirklich viel zusammen gemacht. Allerdings lief das nur ein reichliches Jahr so. Dann hat Jare beschlossen, das Studium abzubrechen - er hatte das Gefühl, dass die Kommunikationswissenschaft doch nicht das Richtige für ihn war.«
»Was ist dann passiert?«
»An der Uni ist er nicht mehr aufgetaucht. Im Hotel hat Jare noch etwa ein halbes Jahr gejobbt, aber mit weniger Schichten als vorher. Wir haben uns auch nicht mehr so oft getroffen - ein paarmal pro Monat waren wir ein Bier trinken oder Badminton spielen. Man bekam den Eindruck, dass er trotz des abgebrochenen Studiums mehr unter Zeitdruck stand als vorher.«
»Hatte er einen anderen Job oder Hobbys?«
»Bevor Jare sein Studium aufgegeben hat, war er im Urlaub drei Wochen im kroatischen Split und irgendwie fasziniert von dem Feeling dort. Wieder zurück in Finnland hat er sich einen Privatlehrer gesucht und an ein paar Abenden pro Woche angefangen, die Sprache zu lernen. Schon damals hat er gesagt, es wäre nur eine Frage der Zeit, dass er nach Kroatien zieht.«
»Gab es dafür einen konkreten Grund? Hatte Westerlund dort möglicherweise eine Frau kennengelernt?«
»Meines Wissens nicht. Außerdem war Jare nicht so einer.« Timonen warf kurz einen Blick auf die Passanten und wandte sich dann wieder Daniel zu, der ihn fragend ansah. »Ich meine damit, dass er nicht der Mensch war, der sich einfach so verlieben und deshalb alles aufgeben würde. Ich habe ihn manchmal danach gefragt, aber er hat es zumindest nie zugegeben«, fuhr Timonen fort.
Daniel war nicht entgangen, dass der Journalist die Asche seiner Zigarette mehrmals neben dem Porzellangefäß, das als Aschenbecher diente, auf den Tisch fallen ließ. Der Mann fühlte sich eindeutig nicht wohl, wenn er über Westerlund sprach. Nach einer kurzen Pause holte Timonen tief Luft und sprach weiter:
»Ich muss sagen, dass er sich, aus heutiger Sicht...
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