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Nachdem in der Nacht auf den 3. April 1968 in zwei Frankfurter Kaufhäusern mehrere Brandsätze zündeten, fanden die Ermittler bei den Tatverdächtigen einen Zettel: »Der Konsumzwang terrorisiert euch. Wir terrorisieren die Ware.« Die Anschläge, an denen unter anderem die späteren Mitbegründer der RAF Andreas Baader und Gudrun Ensslin beteiligt waren, griffen eine im Kontext des Kalten Kriegs erstarkende Dimension der Gesellschaftskritik auf. Verstand die klassische marxistische Analyse die Produktion als die eigentliche Sphäre der Unterdrückung, so erschien nun zunehmend der Konsum als Reich der Unfreiheit. Widerstand gegen den »Konsumterror« galt als legitim, einigen sogar dann, wenn er militante Formen annahm.
Gestützt auf umfangreiche Archivstudien, zeichnet Alexander Sedlmaier die Entwicklung der Konsumkritik in der Bundesrepublik nach. Er erläutert die insbesondere durch Herbert Marcuse formulierten theoretischen Grundlagen und stellt dar, wie sich der Protest im Zuge der Kampagnen gegen die Springer-Presse und Fahrpreiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr radikalisierte, bevor er in der Hausbesetzerszene zu einer eigenen Lebensform wurde.
Konsum ist der einzige Sinn und Zweck aller Produktion.
Adam Smith (1776)[70]
Im Kontext der Systemkonkurrenz des Kalten Kriegs resultierten interne Spannungen und Risse in der imaginativen Überhöhung des westlichen Konsummodells gerade aus einer seiner primären Antriebskräfte: der ständigen Vervielfältigung des Angebots. Jugendbewegungen trugen entscheidend zur Entstehung von Alternativen bei, welche die bipolare Struktur der Konsumdebatten während des Kalten Kriegs infrage stellten. Die Wirtschaft und der Markt reagierten auf die rebellische Haltung junger Menschen, griffen sie im Sinne der ihnen eigenen Logik der Kommerzialisierung auf und verhalfen ihr so auch zur Artikulation. Dieser Mechanismus war eine der Ursachen der sogenannten Halbstarkenkrawalle gegen Ende der fünfziger Jahre.[71] Häufig entwickelten sich Unruhen und Proteste wie diese an Orten und auf Veranstaltungen des Kulturkonsums, etwa nach Kino- oder Konzertvorstellungen. Nonkonformistisches Verhalten im öffentlichen Raum, z.??B. in Einkaufsstraßen und auf Plätzen, erregte Anstoß bei Anwohnern und Passanten.
Ende der fünfziger Jahre war eine kritische Einstellung zur Konsumgesellschaft jedoch noch eher eine Angelegenheit besorgter Eltern und Erzieher. Voll Skepsis gegenüber der Kommerzialisierung und ihrem Einfluss auf die heranwachsende Generation empfahlen sie gesellschaftliches Engagement, kritisches Denken und Politisierung als Gegenmittel. Die öffentliche Debatte über die Jugend war beherrscht von der Vorstellung, die Werbung übe eine manipulative Macht über die Menschen aus. In den pädagogischen Ausprägungen der west-deutschen Kalte-Krieg-Mentalität wurden häufig drei Symptome des Niedergangs der Moderne in die »Vermassung« miteinander vermischt: Nationalsozialismus, Kommunismus und Konsumgesellschaft.[72] Diese kritische Einstellung wandelte sich nach und nach zu einer Gleichsetzung der Konsumgesellschaft mit Imperialismus und Unterdrückung, die sich in den Studentenrevolten der zweiten Hälfte der sechziger Jahre großer Popularität erfreute, was letztlich einen wichtigen Wendepunkt in der Geschichte des politischen Denkens im späten 20. Jahrhundert markieren sollte.
In der marxistischen Vorstellung galt politische Arbeit in der »Reproduktionssphäre« allenfalls als Nebenschauplatz revolutionären Handelns. Doch in den sechziger Jahren kam es auch in dieser Sphäre verstärkt zu politischen Aktionen, was aus dem wahrnehmbaren Wandel in den Strukturen der Arbeitswelt und aus Enttäuschungen bei Interventionsversuchen in der klassischen Produktionssphäre resultierte. Ab dem Ende der Dekade gediehen Ansätze, die beide Bereiche durch innovative Protestformen miteinander zu verbinden suchten. So konzentrierten sich beispielsweise ab November 1970 Frankfurter Aktivisten auf die Opel-Werke in Rüsselsheim, um dort an die großen Streiks in den Pariser Renault-Fabriken im Mai 1968 und in den Turiner Fiat-Werken im Herbst 1969 anzuknüpfen. Bei dieser recht erfolglosen Fabrikagitation reichte der Fokus radikaler Rebellion weit über den engeren Bereich der Produktion hinaus. Ziel des Angriffs war der gesamte von der deformierten Bedürfnisbefriedigung gezeichnete »entfremdete« Alltag.[73] Die Fabrikaktivisten gelangten auf ihre Weise zu Adam Smith' berühmter, eingangs zitierter Einsicht, Konsum sei der Endzweck aller Produktion. Ein Protokoll der Gruppe Revolutionärer Kampf betonte, der Lebensstil der Aktivisten unterscheide sich erheblich von dem ihrer Adressaten: »Es ist irgendwie hirnverbrannt, gegen soviel Arbeit zu wettern, wenn die meisten eine Motivation haben, mehr zu arbeiten, ohne die ganze kapitaladäquate Konsumscheiße zu diskutieren. Wer unbedingt einen Farbfernseher haben will, ein neues Auto oder Schlafzimmer, wird kaum etwas gegen Überstunden unternehmen.«[74] Reimut Reiche, 1966/67 Bundesvorsitzender des SDS, wies auf die beträchtliche Distanz hin, die er gegenüber dem Lebensstil und den Konsumgewohnheiten der Menschen empfand, die er agitieren wollte: »Ich wäre schon nach zwei Tagen in der Psychiatrie echt gelandet, wenn ich mit ihnen ihre Lebensweise auch noch nach Feierabend teilen müßte, in den Kneipen oder zu Hause und den Fraß fressen müßte, den sie fressen!«[75]
Die niederländischen Provos gehörten zu den Pionieren unter denen, die den Schwerpunkt politischer Kampagnen auf den Konsum legten. Sich selbst als Speerspitze einer neuen Gesellschaft betrachtend, erklärten sie: »Unsere Angriffsziele: die Konsumgesellschaft und die staatliche Ordnung. Wir erstreben die unbeschränkte Selbständigkeit des Einzelwesens. Wir sind Anarchisten.«[76] Im Jahr 1968 druckte ein West-Berliner Untergrundalmanach ein Statement der Provos:
Wir leben in einer geschmacklosen Einheitsgesellschaft. [.] Verhalten und Konsum werden uns vorgeschrieben oder aufgezwungen durch kapitalistische oder kommunistische Big Bosses. [.] Aber die Provos wollen [.] die kreativen Freizeitbeschäftiger von morgen sein! Weg mit Philips, weg mit Seven-up, LEXINGTON, DAF, PERSIL, Prodent. Das Provotariat verabscheut den versklavten Konsumenten![77]
Das Bestreben der Provos, die Staatsmacht durch nicht gewaltförmige Provokationen zu gewalttätigen Reaktionen zu veranlassen, wie es sich in ihren Aktionen zur kostenlosen Benutzung von öffentlichen Fahrrädern, in Hausbesetzungen aus Protest gegen Immobilienspekulation und in ihrer Kritik an der Presseberichterstattung zu ihren Aktionen zeigte, antizipierte entscheidende Aspekte einer künftigen Verflechtung der Kritik an Versorgungsregimen mit Gewaltdiskursen.
Die zahllosen Aktivisten und Protestierenden, die auf strukturelle Transformationsprozesse im Produktions- und Distributionssektor sowie auf den damit zusammenhängenden Wandel in der sozialen Schichtung hochentwickelter Gesellschaften reagierten, markierten zudem einen Wendepunkt in einer längerfristigen Entwicklung: Das rapide Wirtschaftswachstum seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte zumindest theoretisch die Mittel zur Lösung der sozialen Frage und zur Schaffung von Wohlstand für alle erbracht. Somit stellte sich die Frage, ob nicht bestimmte Arten von Eigentum und Macht Ungerechtigkeiten erzeugten, die eine bessere Verteilung und Nutzung des gesellschaftlichen Reichtums verhinderten, besonders wenn diese Perspektive auf die Verteilung im globalen Rahmen ausgeweitet wurde. Um den tiefgreifenden Wandel verstehen zu können, der sich in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren vollzog, müssen die Widersprüche und Schattenseiten analysiert werden, die mit dieser Kulmination des Wachstums einhergingen. Kritische Intellektuelle, entlassene Arbeiter und Angehörige benachteiligter Minderheiten hinterfragten die Versprechen der Politiker auf ubiquitären Wohlstand und entwickelten ein Bewusstsein vom Unbehagen in der Konsumgesellschaft. Der neue materielle Segen hatte seinen Preis. Das erhöhte Konsumniveau, die Teilhabe an den Märkten und der bescheidene, aber komfortable Besitz der Lohnabhängigen in westlichen Nachkriegsgesellschaften wurden begleitet von weniger komfortablen Veränderungen und Anpassungsprozessen im Arbeitsleben, wie etwa dem Verlust von Autonomie oder der Zerstörung gewachsener Sozialstrukturen. Die Konsumgüterschwemme führte nicht notwendigerweise zu einer sozial breiteren Verteilung von Eigentum. Reichtum und Einfluss konzentrierten sich in den Händen derjenigen, die zugleich die oligopolistischen Marktstrukturen dominierten.
Dieses Kapitel liefert keine umfassende Geschichte der Nachteile der Konsumgesellschaft der sechziger und siebziger Jahre. Stattdessen konzentriert es sich auf Angehörige des linksalternativen Milieus, die die Konsumsphäre als Gegenstand der gesellschaftlichen und politischen Kritik wie auch als materiellen Raum der Agitation entdeckten. Der halböffentliche Raum des Einzelhandels wurde für sie zum Sinnbild des kapitalistischen Systems und schließlich zum Ziel militanten Protests, was in den späten sechziger Jahren in Brandanschlägen auf Warenhäuser kulminierte. Um aber die Bedeutung des Warenhauses als Ziel für derartigen Protest nachvollziehbar zu machen, werde ich zunächst...
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