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Mitte Mai des Jahres 1800 zog Napoleon mit 36.000 Mann über den Großen St. Bernhard, ein Unternehmen, das bis zu diesem Zeitpunkt für so gut wie ausgeschlossen gegolten hatte. Fast vierzehn Tage lang bewegte sich ein unabsehbarer Zug von Menschen, Tieren und Material von Martigny aus über Orsières durch das Tal von Entremont und sodann in endlos scheinenden Serpentinen hinauf auf die zweieinhalbtausend Meter über dem Spiegel des Meeres liegende Höhe des Passes, wobei die schweren Kanonenrohre von der Truppe in ausgehöhlten Baumstämmen teils über den Schnee und das Eis, teils über die bereits aperen Felsplatten geschleift werden mußten.
Zu den wenigen nicht namenlos gebliebenen Teilnehmern an dieser legendären Alpenüberquerung gehörte Henri Beyle. Er war damals siebzehn Jahre alt, sah das Ende seiner ihm auf das tiefste verhaßten
Kindheit und Jugend
gekommen und stand mit einiger Begeisterung im Begriff, seine Laufbahn im Dienste des Heeres anzutreten, die ihn, wie wir wissen, noch weit in Europa herumführen sollte. Die Notizen, in denen Beyle im Alter von dreiundfünfzig Jahren - er hielt sich zur Zeit ihrer Niederschrift in Civita Vecchia auf - die Strapazen jener Tage aus dem Gedächtnis heraufzuholen versucht, demonstrieren eindringlich verschiedene Schwierigkeiten der Erinnerung. Einmal besteht seine Vorstellung von der Vergangenheit aus nichts als grauen Feldern, dann wieder stößt er auf Bilder von solch ungewöhnlicher Deutlichkeit, daß er ihnen nicht glaubt trauen zu dürfen, beispielsweise auf dasjenige des Generals Marmont, den er in Martigny zur Linken des Wegs, auf welchem sich der Troß voranbewegte, in dem himmel- und königsblauen Kleid eines Staatsrats gesehen zu haben meint, und das er genau so, wie er uns versichert, immer noch sieht, wenn er, die Augen schließend, sich die Szene in Erinnerung ruft, obschon Marmont ja damals, wie Beyle sehr wohl weiß, seine Generalsuniform und nicht das blaue Staatskleid getragen haben muß.
Beyle, der behauptet, um diese Zeit, aufgrund einer völlig verkehrten, allein auf die Ausbildung bürgerlicher Fertigkeiten ausgerichteten Erziehung, die Konstitution eines vierzehnjährigen Mädchens gehabt zu haben, schreibt auch, daß er von der großen Anzahl der toten Pferde am Wegrand und von dem sonstigen Kriegsgerümpel, das die sich fortwindende Armee als ihre Spur hinterließ, derart betroffen gewesen sei, daß er von dem, was ihn seinerzeit mit Entsetzen erfüllte, inzwischen keinerlei genaueren Begriff mehr habe. Die Gewalt des Eindruckes hätte diesen selber, so käme es ihm vor, zunichte gemacht. Die nachstehende Zeichnung ist darum bloß anzusehen als eine Art Hilfsmittel, durch welches Beyle versucht, sich zu vergegenwärtigen, wie es war, als der Truppenteil, mit dem er sich fortbewegte, in der Nähe des Dorfes und der Festung Bard unter Feuer kam.
B ist das Dorf Bard. Die drei C auf der Anhöhe zur Rechten bezeichnen die Kanonen der Festung, welche die Punkte L L L auf dem über dem jähen Abhang P sich hinziehenden Weg unter Beschuß nehmen. Wo das X steht, im Abgrund, liegen die in wahnsinniger Angst vom Weg unrettbar hinuntergestürzten Pferde, und H steht für Henri, die eigene Position des Erzählers. Freilich wird Beyle, als er sich auf diesem Punkt befand, die Sache so nicht gesehen haben, denn in Wirklichkeit ist, wie wir wissen, alles immer ganz anders.
Im übrigen schreibt Beyle, es sei selbst da, wo man über lebensnahere Erinnerungsbilder verfüge, auf diese nur wenig Verlaß. Nicht anders als die großartige Erscheinung des Generals Marmont in Martigny, vor Beginn des Aufstiegs, habe, unmittelbar nach der Überwindung der schwersten Strecke des Wegs, der Abstieg von der Paßhöhe und das gegen die Morgensonne sich öffnende St. Bernhardstal einen in seiner Schönheit unauslöschlichen Eindruck auf ihn gemacht. Er sei damals aus dem Schauen überhaupt nicht mehr herausgekommen, und fortwährend seien ihm dabei die ersten italienischen Worte - quante miglia ci sono da qui a Ivrea und donna cattiva - durch den Kopf gegangen, die ihm tags zuvor ein Pfarrer, bei dem er einquartiert war, beigebracht hatte. Beyle schreibt, er habe lange Zeit in dem Glauben gelebt, sich an diesen Ritt in allen Einzelheiten erinnern zu können, insbesondere an das Bild, in dem sich, bei schon abnehmendem Licht, die Stadt Ivrea aus einer Entfernung von etwa einer dreiviertel Meile ihm zum erstenmal dargeboten habe. Wo es aus dem breiter werdenden Tal langsam in die Ebene hinausgeht, lag sie, etwas zur Rechten, während links, in die Tiefe der Entfernung hinein, sich die Berge erhoben, der Resegone di Lecco, der ihm später noch soviel bedeuten sollte, und ganz im Hintergrund wohl der Monte Rosa.
Es sei, schreibt Beyle, für ihn eine schwere Enttäuschung gewesen, als er vor einigen Jahren bei der Durchsicht alter Papiere auf eine Prospetto d'Ivrea untertitelte Gravure gestoßen sei und sich habe eingestehen müssen, daß sein Erinnerungsbild von der im Abendschein liegenden Stadt nichts anderes vorstellte als eine Kopie von ebendieser Gravure. Man sollte darum, so rät Beyle, keine Gravuren von schönen Aus- und Ansichten kaufen, die man auf Reisen sehe. Denn eine Gravure besetze bald schon den ganzen Platz der Erinnerung, die wir von etwas hätten, ja, man könne sogar sagen, sie zerstöre diese. An die wundervolle Madonna von San Sisto beispielsweise, die er in Dresden gesehen habe, könne er sich bei aller Anstrengung nicht mehr erinnern, weil sie von der Gravure, die Müller von ihr gemacht habe, überdeckt worden sei, wohingegen er nach wie vor die miserablen Pastelle von Mengs aus derselben Galerie, von denen ihm nie und nirgends eine Nachzeichnung untergekommen sei, auf das deutlichste vor Augen habe.
In Ivrea, wo sämtliche Häuser und öffentlichen Plätze von der biwakierenden Armee belegt waren, gelang es Beyle, für sich und den Capitaine Burelvillers, in dessen Gesellschaft er in die Stadt eingeritten war, im Warenlager einer Färberei zwischen allerlei Fässern und kupfernen Kesseln ein von einer eigenartig säuerlichen Luft durchwehtes Quartier aufzutun, das er, kaum war er abgestiegen, auch schon gegen eine marodierende Horde verteidigen mußte, die die Fensterläden und Türen aus ihren Angeln reißen wollte, um sie in das Lagerfeuer zu werfen, das sie in der Mitte der Hofstatt angeschürt hatte. Beyle fühlte sich, nicht allein durch diese Tat, sondern durch die Erlebnisse der letztvergangenen Tage überhaupt, großjährig geworden und begab sich, in einem Anflug von Unternehmungslust, weder seines Hungers noch seiner Übermüdung, noch des Einspruchs des Capitaines achtend, in das Emporeum, wo, wie er auf mehreren Affichen angezeigt gesehen hatte, an diesem Abend Cimarosas Il Matrimonio Segreto gegeben wurde.
Beyles Phantasie, die schon aufgrund der allseits herrschenden Irregularität stark in Bewegung war, wurde nun durch die Musik Cimarosas noch weiter aufgewühlt. Bereits an jener Stelle des ersten Aufzugs, an der die insgeheim verehelichten Paolino und Caroline ihre Stimmen zu dem angstvollen Duett Cara, non dubitar: pietade troveremo, se il ciel barbaro non è vereinigen, glaubte er, nicht nur selber auf den Brettern der primitiven Bühne, sondern tatsächlich im Hause des schwerhörigen Bologneser Handelsherrn zu stehen und dessen jüngste Tochter in den Armen zu halten. So sehr zog es ihm das Herz zusammen, daß ihm im weiteren Verlauf der Aufführung wiederholt die Tränen in die Augen traten und er beim Verlassen des Emporeums überzeugt war, daß die Actrice, die die Caroline gegeben und die, wie er mit Sicherheit bemerkt zu haben glaubte, ihren Blick mehr als einmal eigens auf ihn gerichtet hatte, ihm die von der Musik versprochene Glückseligkeit würde bieten können. Es störte ihn keineswegs, daß das linke Auge der Sopranistin bei der Bewältigung der schwierigeren Koloraturen sich ein wenig nach außen hin verdrehte, noch daß ihr der rechte obere Eckzahn fehlte; vielmehr machten sich seine exaltierten Gefühle gerade an diesen Defekten fest. Er wußte jetzt, wo das Glück zu suchen sei; nicht in Paris, wo er es vermutet hatte, als er noch in Grenoble gewesen war, und nicht in den Bergen der Dauphiné, in die er sich in Paris manches Mal zurückgesehnt hatte, sondern hier in Italien, in dieser Musik, im Angesicht einer solchen Schauspielerin. An dieser Überzeugung vermochten auch die obszönen Späße über die zweifelhaften Sitten der Damen vom Theater nichts zu ändern, mit denen ihn der Capitaine am nächsten Morgen aufzog, als sie, Ivrea hinter sich lassend, auf Mailand zu ritten und Beyle die Bewegung in seinem Herzen ausufern fühlte in die Weite...
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