Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
An einem strahlenden Herbsttag raste der Zug nach Süden in Richtung Göttingen. Eine Zeit lang verliefen die Gleise parallel zum flachen Wasser der Leine, wo sich das Licht auf den winzigen Wellen fing, die sich in der leichten Brise über die Oberfläche des Flusses kräuselten. Am Ufer ließen Weiden ihre Äste hängen, als reichten sie dem Wasser die Hand. Beim Blick zurück aus dem Zugfenster, das Tal hinunter, zeichnete das schmale Band der Bäume, die den Fluss säumten, seinen Lauf nach; wie Wächter standen sie zu beiden Seiten zwischen den Schienen und den Feldern, die sich in sanftem Anstieg zu den niedrigen Hügeln hinaufzogen. Auf der anderen Seite des Waggons waren die Hügel steiler und bewaldet. Ein erster Hinweis darauf, was unsichtbar - noch zumindest - in der Ferne lag. Der Zug raste nach Süden in Richtung Göttingen, neben dem Fluss und einem Weg her, der für Radfahrer asphaltiert worden war und auf dem ich am nächsten Morgen meine Reise beginnen wollte.
Am Stadtrand von Göttingen wurde der Zug langsamer. Reisende standen von ihren Sitzen auf, um ihr Gepäck zusammenzusuchen, die Felder und bewaldeten Hänge vor dem Zugfenster waren Outlet- und Shoppingcentern, einem Schrottplatz und Supermärkten gewichen. Auf einer verstopften Hauptstraße staute sich an einer Ampel der Verkehr, über der Szene türmte sich ein Wohnhochhaus auf und verdeckte die Sonne. Auch im Zug staute es sich; wir reihten uns im Gang vor der Tür auf, während die Waggons am Bahnsteig allmählich zum Stillstand kamen. Die meisten meiner Mitreisenden waren jung und mit Gepäck beladen: Rucksäcke auf der Ablage über den Köpfen der Passagiere, riesige Rollkoffer auf den Gepäckregalen im Einstiegsbereich. Überwiegend Studenten, dachte ich, die das erste Mal in die Stadt kamen oder rechtzeitig zum neuen Semester zurückkehrten.
Im Gedränge vor dem Bahnhofseingang genossen die Leute in ihrer Mittagspause die Sonne. Sie aßen Sandwiches, checkten ihre Smartphones und suchten Schatten unter Bäumen, die so ausladend und alt waren, dass sie aus einer Zeit zu stammen schienen, lange bevor es einen Bahnhof oder die Gleise gegeben hatte, die ihn mit dem Rest der Welt verbanden. Unter einem der Bäume, neben einem Trio aus Fahrrädern, die in aller Eile von zu einem Zug hastenden Menschen dort abgestellt worden waren, saß eine Frau mit im Schoß verschränkten Händen, die Augen geschlossen, als sei sie in Gedanken versunken.
Sie war nicht real. Nicht mehr. Ihr Name war Frau Charlotte Müller, so stand es eingraviert auf dem Steinsockel, auf dem sie saß. Sie war die älteste Marktfrau der Welt1 - wortwörtlich in Stein gemeißelt. Sie hatte den Reisenden Süßigkeiten und Obst verkauft, als es noch keinen Kiosk am Bahnhof gegeben hatte. Einen Platz im Buch der Rekorde und eine Statue unter einem alten, knorrigen Baum hatte sie bekommen, weil sie mit fünfundneunzig Jahren noch immer ihre Waren feilgeboten hatte. Manchmal werden wir eines einzigen Augenblicks der Inspiration, eines einzigen Erfolgs wegen berühmt. Manchmal, wenn wir lange genug ausharren, wird unsere Hartnäckigkeit belohnt. Die Statue war zwei Jahre nach Charlottes Tod aufgestellt worden. Nach der langen Zeit, die Frau Müller vor dem Bahnhof auf und ab gegangen war, hatte die Stadt ohne sie wohl nicht auskommen können. Sie ist einer der Geister von Göttingen und heißt den Reisenden bei seinen ersten Schritten in die Stadt auf ewig willkommen.
Ich schrieb Charlottes Namen in mein Notizbuch. Als Gedächtnisstütze. Hin und wieder, insbesondere an neuen und unvertrauten Orten, ist es leichter, die Geister, nicht die derzeitigen Einwohner zu erreichen. Die Geister haben nur ihre Geschichten zu erzählen, die Einwohner haben ein Leben zu führen. Der Spaziergänger streift durch eine Stadt oder ein Dorf bis zum Rand der Stadt oder zu einem kleinen Weiler in den Hügeln, wobei Begegnungen mit realen Menschen dem Zufall überlassen sind. Im Gegensatz dazu sind Charlotte und ihresgleichen stets zugegen und warten auf alle, die da kommen mögen, zu welcher Tages- oder Nachtzeit auch immer.
Und so sagen wir uns, sie seien der Schlüssel zur Geschichte, eine Abkürzung zum Verständnis des Ortes, an dem wir uns befinden. Sie warten vielleicht als Statue oder als Gedenktafel an einer Mauer. Als Grabstein auf dem Friedhof oder als Worte, vor langer Zeit geschrieben und doch neu zu lesen in frisch gedruckten Büchern. Sie warten auf uns in den Geschichten, die wir hören und die von Generation zu Generation weitergegeben, wiederholt und stets aufs Neue erzählt werden. In den Steinsockel, auf dem Charlotte kniend sitzt, können nicht allzu viele Worte eingraviert werden, aber das spielt keine Rolle. Wir haben trotzdem sofort Zugang zu ihrer Geschichte. Wir können sie abrufen und in Händen halten.
Auf der nächstgelegenen Bank hatte eine Frau ihr Sandwich aufgegessen und stand auf, um zu gehen. Ein älterer Mann blickte immer noch hochkonzentriert auf sein Smartphone. Ich hätte sie nach ihrer Geschichte fragen können, doch warum hätten sie sie mir erzählen sollen? Selbst wenn ich ihnen gesagt hätte, was ich vorhatte?
Vor allem wenn ich ihnen gesagt hätte, was ich vorhatte.
An der Rezeption des Hotels probierte ich es zum ersten Mal aus. Der Frau, die mich eincheckte, waren schon mein Rucksack, die an seiner Seite festgemachten Wanderstöcke und die schweren Stiefel an meinen Füßen aufgefallen. Sie hatte all das bemerkt und fragte trotzdem.
»Sind Sie mit dem Auto angereist?«
Es war schlicht eine Frage, die sie auf der Liste in ihrem Kopf abhaken musste. Es war Teil des Protokolls.
Ich schüttelte den Kopf und erzählte ihr stattdessen, was ich vorhatte. Dass ich mich am nächsten Morgen auf eine Wanderung in den Fußstapfen Heinrich Heines begeben wollte. Dass ich der Leine bis nach Northeim folgen und mich dann in die Hügel aufmachen wollte, durch Ortschaften hindurch und in Bergwerke hinunter, bevor es schließlich ganz nach oben auf den Brocken hinauf ging. Und dass ich danach, wenn ich es geschafft hatte, nach Hause, nach Berlin zurückkehren, mich hinsetzen und darüber schreiben wollte.
Die Frau sah kurz vom Bildschirm ihres Computers auf. Klickte mit der Maus. Nein, keine Anreise mit dem Auto.
»Ein Frühstücksbüfett gibt es derzeit aufgrund der aktuellen Maßnahmen leider nicht«, fuhr sie fort. »Sie können sich morgen früh an der Rezeption aber ein Frühstückspaket abholen und es auf Ihrem Zimmer essen. Sie müssen mir nur sagen, ob Sie Tee oder Kaffee dazu haben möchten .«
Auf der Weender Straße rangen Vergangenheit und Gegenwart um Aufmerksamkeit. Auf der zur Fußgängerzone umgewandelten Straße ließ es sich insbesondere im warmen Herbstsonnenschein angenehm schlendern. Letzterer fühlte sich wie eine Zugabe an, ein Verweilen des Sommers, das zu genießen alle an diesem Tag in Göttingen anscheinend entschlossen waren. An der gesamten Straße entlang, die hauptsächlich aus Fachwerkhäusern mit Geschäften im Erdgeschoss bestand, drängten sich die Menschen im Außenbereich der Cafés, solange auch nur ein Sonnenstrahl auf ihm landete. Eisdielen und Bäckereien, Restaurants und Bars.
Die meisten der Läden trugen Namen, die man auf den Hauptgeschäftsstraßen in ganz Deutschland finden kann, doch gab es auch Hinweise, die das Interesse des Besuchers weckten. Die Menschen, die hier umherbummelten, waren jung, wie meine Mitreisenden im Zug. Schließlich ist Göttingen eine Universitätsstadt. Und an der Straße, auf den öffentlichen Plätzen der Stadt und über unseren Köpfen, wo die Geschäfte aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert den Fachwerkkonstruktionen aus dem Mittelalter Platz machten, warteten noch einige weitere Geister von Göttingen darauf, entdeckt zu werden.
Vor dem Rathaus stand das Gänseliesel mit dem namengebenden Vogel auf seinem Brunnen und wartete auf die Blumen der Studenten oder den Kuss derjenigen, die ihre Doktorprüfung geschafft hatten. Ich hatte die Geschichte vom Gänseliesel und seinem Brunnen gelesen, bevor ich nach Göttingen gekommen war. Es war eine jener zeitlosen Geschichten, die Geschichte einer Tradition, die es bestimmt schon vor zweihundert Jahren, zu Heines Zeit als Student in der Stadt gegeben hatte. Aber wie so viele Traditionen wurde auch diese in deutlich jüngerer Zeit erfunden, als wir vielleicht denken. Die Statue wurde 1901 errichtet. Ein Wettbewerb war zur Gestaltung des Brunnens ausgeschrieben worden, und während die Stadtältesten einen prachtvolleren Entwurf vorgezogen hätten, bestanden die Einwohner von Göttingen auf dem Mädchen mit dem Draht zum einfachen Volk. Nicht lange danach begannen die Studenten mit dem Blumenbringen und Küssen. Wie man sieht, braucht es nicht viel, um eine Tradition zu...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.