Schweitzer Fachinformationen
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Die hellen Schreie der Küstenseeschwalben kündigten den Sommer an. Bonnie saß im satten Gras und drehte den Stängel einer Wildblume zwischen den Fingerspitzen. Sie sog die laue Luft in ihre Lungen und ließ den Blick über die Steilklippen schweifen. Das Rauschen des Meeres bildete die Hintergrundmusik dieser Region. In verlässlicher Gleichmäßigkeit schlugen die Wellen gegen die roten Felsen, wie um den Takt des Lebens entlang der Küste vorzugeben. Sie schloss die Lider und lauschte dem Summen einer Biene.
»Bonnie, du kommst zu spät zum Dienst«, drang wie aus weiter Entfernung eine Stimme zu ihr. Dann kroch Kälte an ihren Beinen hinauf.
Sie schlug die Augen auf und sah Juliana vor sich stehen, die Bonnies Bettdecke in den Händen hielt. Unter den Augen ihrer Zimmergenossin und Arbeitskollegin prangten dunkle Schatten, die genau wie der Abdruck, den die kürzlich abgesetzte Haube auf Julianas hellbraunen Haaren hinterlassen hatte, auf deren Nachtschicht verwiesen.
Bonnie setzte sich auf und zog fröstelnd das Nachthemd bis zu den Knöcheln hinunter. Sie war nicht an Schottlands Küsten. Ganz im Gegenteil, ihre Heimat schien so weit von London entfernt zu sein wie ein anderes Leben. Und es war auch nicht Frühsommer, sondern ein weiterer trüber Novembertag, der gerade begann.
»Ich habe dich schon vor über einer halben Stunde geweckt, ehe ich zum Frühstück gegangen bin«, sagte Juliana und schüttelte den Kopf. »Wirst du etwa krank?« Sie musterte ihre Arbeitskollegin mit dem geübten Blick einer Krankenschwester. »Du bist doch sonst schon immer vor der Zeit auf.«
Plötzlich war Bonnie hellwach und sprang aus dem Bett. Sie musste erneut eingenickt sein. »Wann beginnt meine Schicht?«, rief sie und stürzte zum Waschtisch.
Juliana warf die Decke zurück auf die durchgelegene Matratze. »Dein Dienst hat bereits vor zehn Minuten angefangen.«
»Mist!« Bonnie tauchte die Hände in das eisige Wasser in der weißen Porzellanschale und wusch ihr Gesicht. Auf ihrer Haut verspürte sie ein beißendes Prickeln.
Kaum hatte sie sich abgetrocknet, reichte Juliana ihr die sorgsam auf einem Bügel aufgehängte Schwesterntracht. Während Bonnie diese anzog, entledigte Juliana sich ihrer eigenen und kroch in ihr Bett, das Bonnies gegenüberstand. Meist sahen sie und ihre beiden Mitbewohnerinnen sich nur kurz zwischen den Schichten; die eine stand auf, die andere ging schlafen. So war es schon seit Jahren beinahe tagein und tagaus.
»Dann gibt es heute wohl kein Frühstück«, murmelte Bonnie, band ihre Haare zusammen und steckte in Windeseile die Haube darauf fest. Einen ganzen Vormittag ohne etwas im Magen durchzuhalten, würde hart werden, doch sie hatte es sich selbst zuzuschreiben, dass sie spät dran war. Eine gute Tasse Tee wäre bei der Kälte, die in dem kleinen Schlafzimmer herrschte, eine wahre Wohltat, dachte Bonnie, während sie den Sitz der Haube im Spiegel kontrollierte. Obwohl sie gerade erst aufgestanden war, sah sie heute kaum wacher aus als Juliana nach der Nachtschicht. Bonnie zwickte sich in die Wangen, um wenigstens etwas Farbe auf ihre blasse Haut zu zaubern, auch wenn diese schnell wieder verschwinden würde.
Ihre Zimmergenossin gähnte und nahm ein Bündel vom Nachttisch. »Ich habe noch Kekse, vielleicht hast du nachher ein paar ruhige Minuten.«
Bonnie griff danach. »Ruhige Minuten?«
Juliana zog eine Grimasse und sank ins Kissen. »Ehe ich es vergesse: Dr. Wright verlangt nach dir.«
»Was will er denn?« Bonnie ließ die in braunes Papier eingeschlagenen Kekse in der Schürzentasche verschwinden.
»Ich habe keine Ahnung, ich sollte es dir nur ausrichten.« Juliana hatte die Augen bereits geschlossen, während sie die letzten Worte murmelte.
»Ich gehe gleich zu ihm. Schlaf gut«, sagte Bonnie, schlüpfte in die Schuhe und öffnete die Zimmertür. Dann rauschte sie die knarzenden Treppen hinunter bis ins Erdgeschoss des Second London General Hospital. Sie eilte die Gänge entlang. Die Wände warfen das klappernde Geräusch ihrer Absätze zurück, und Bonnie wich einem Patienten auf Krücken aus, der gerade von einer ihrer Kolleginnen gezeigt bekam, wie er mit der Gehhilfe richtig umzugehen hatte. Schon jetzt, am frühen Vormittag, drang aus dem Untergeschoss, in dem die Küche untergebracht war, der Geruch nach Brühe herauf und ließ Bonnies Magen knurren. »Nicht jetzt«, zischte sie ihm zu und bemühte sich, nicht an die Kekse in ihrer Schürze zu denken.
Vor Dr. Wrights Tür blieb sie stehen, schob einige lose Strähnen unter ihre Haube und überprüfte den Sitz ihrer Tracht. Sicherlich verriet ihre schnelle Atmung Bonnies holprigen Start in den Tag. Ausgerechnet heute, da sie sich verspätet hatte, wurde sie auch noch unverzüglich in das Zimmer des Stationsarztes gerufen. Was wollte er nur von ihr? Bonnie schnaufte durch, um nicht nach Luft schnappend ins Zimmer zu stolpern, und klopfte an.
»Kommen Sie herein«, hörte sie Doktor Wrights nasale Stimme durch das Holz.
Sie öffnete und trat ein. Bonnie überlegte, ob sie sich für das Gespräch lieber setzen sollte, während der grauhaarige Mann die Augen weiterhin auf Patientenakten gerichtet hielt.
Doch da nahm er schon die Brille ab und sah zu ihr hinüber. »Schwester Bonnie«, begrüßte er sie.
»Guten Morgen, Sir.« Ihre Finger griffen in den Stoff ihrer Schürze. »Es tut mir leid, dass ich heute zu spät zum Dienst erscheine, ich war wohl etwas übermüdet«, setzte sie an.
Doktor Wright kniff die Augen zusammen und lächelte schließlich, worauf sich ein Kranz aus Falten an seinen Schläfen bildete. »Deshalb habe ich Sie nicht kommen lassen.«
War es zu früh, erleichtert zu sein? Ihre Finger ließen den Stoff los. »Weshalb haben Sie nach mir geschickt?«, fragte Bonnie und ging fieberhaft die letzten Tage durch, um etwas zu finden, das sie womöglich verpatzt haben könnte. Dr. Wright bat selten Krankenschwestern in sein Büro, und wenn er es tat, dann war es für gewöhnlich kein gutes Zeichen. Erst kürzlich war eine seit wenigen Wochen hier tätige junge Kollegin heulend aus dieser Tür gestürzt. Das Mädchen war unerfahren, kaum ausgebildet und von den Zuständen hier überwältigt gewesen. Bonnie war nicht entgangen, wie ihre Hände gezittert hatten, wenn sie die Leiber der frisch eingelieferten und notdürftig versorgten Soldaten waschen sollte. Das Gemisch aus getrocknetem Schlamm, geronnenem Blut und Wochen altem Schmutz abzubekommen, konnte eine belastende und zugleich übelriechende Angelegenheit sein. Doch es war nun mal notwendig und eine Aufgabe für weniger qualifiziertes Personal. Oft genug war es den Männern unangenehm, die Prozedur über sich ergehen zu lassen, umso wichtiger war eine unbeschwerte Herangehensweise der Pflegerinnen. Sie nahmen die Veteranen hier in Empfang und waren deren erster Kontakt mit der Heimat nach dem oft langen Einsatz auf dem Festland. Eine freundliche Miene und einige belebende Sätze, ja vielleicht sogar ein Scherz, konnten den Männern das Ankommen und den Umgang mit ihrer Verwundung und ihrem Zustand erleichtern. Bonnie hatte das Mädel seit jenem Tag nicht mehr gesehen, vielleicht war sie in die Küche versetzt worden. Oder man hatte sie nach Hause geschickt. Bonnie verspürte Mitgefühl, doch vermutlich war es so das Beste für alle. Man musste dafür gemacht sein, den Alltag in einem Krankenhaus auszuhalten. Oder sich schlicht daran gewöhnen und die Zähne zusammenbeißen, bis man alles besser wegsteckte.
Ein noch breiteres Lächeln zog sich über den Mund des Mannes. »Sie erledigen Ihre Arbeit, wie mir berichtet wird, sehr gewissenhaft.«
Das unerwartete Kompliment tat gut, erklärte jedoch nicht, was der Stationsarzt von ihr wollte. Bonnie nickte und zwang sich, geduldig zu sein. »Danke, Sir.«
»Wir hatten eine unruhige Nacht.« Er seufzte und rieb sich über die Augen. Doktor Wright wirkte noch erschöpfter als üblich. Trotz seines fortgeschrittenen Alters hatte er, wie etliche andere Ärzte, den Ruhestand aufgeschoben, um sein Land in dieser schwierigen Zeit zu unterstützen. Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Gestern Nachmittag wurden einige Soldaten der Royal Scots eingeliefert.«
Schotten. Bonnie presste die Lippen aufeinander, während sie versuchte, im Gesicht des Arztes zu lesen.
»Ich habe in den letzten Jahren mehr Verwundete gesehen, als ich zählen kann. Viele gebrochene Männer und unzählige, die wütend waren.« Er machte eine Pause und schüttelte den Kopf. »Hin und wieder auch Wahnsinnige.«
»Ich weiß«, sagte Bonnie leise. Auch sie hatte diese Männer erlebt. Sie gepflegt, ihnen zugehört und, wenn nötig, deren Hand gehalten. Nach Feierabend ließ sie sich hin und wieder Briefe diktieren, die ihre Patienten ihren Ehefrauen oder Eltern schickten. Bonnie hatte oft genug einen Einblick in das Seelenheil verwundeter Soldaten erhalten, um die vielfältigen Reaktionen darauf zu kennen.
Dr. Wright räusperte sich und stützte die Ellenbogen auf das Pult. Seine braunen Augen musterten sie trotz seiner Müdigkeit wach. »Aber solch einen Haufen habe ich nie zuvor gesehen. Einige können es kaum erwarten, gleich wieder auf den Kontinent zurückgeschickt zu werden, nachdem man sie gerade erst zusammengeflickt hat. Und manche derjenigen, die nicht mehr tauglich sind, wollen es nicht akzeptieren. Elf Männer, und einer schaut finsterer drein als der andere.« Er machte eine Pause. »Wir mussten sie in ein gemeinsames Zimmer legen, weil die anderen Patienten sich keinen...
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