Schweitzer Fachinformationen
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Louise
Als Louise auf den Krankenhausparkplatz einbog, nahm sie aus dem Augenwinkel eine flüchtige Bewegung wahr, ein kurzes Aufblitzen in Rosa und Rot. Sie trat voll auf die Bremse und kam mit laut quietschenden Reifen nur wenige Zentimeter vor zwei kleinen Mädchen zum Stehen, die wie vom Donner gerührt mit großen Augen auf die Motorhaube starrten, die plötzlich vor ihnen aufragte. Sie waren im Schlafanzug und trugen Flipflops, beide hielten ein Plastikeinhorn in den Händen, das Mädchen in Rosa trug zudem den linken Arm in einer Schlinge.
Nach der ersten Schrecksekunde, in der Louise das Herz bis zum Hals schlug, kam wieder Leben in die Mädchen, und sie rannten weiter über den Parkplatz, holten mit ihren kräftigen kurzen Beinen weit aus und grinsten schon wieder, als könne ihnen niemand was. Dann sprang wie aus dem Nichts ihre Mutter vor Louise' Auto, mit ausgestreckten Armen, als halte sie ein Paar unsichtbarer Kinderhände, den Mund aufgerissen in einem stummen Schrei.
Ganz ruhig, Louise. Tief durchatmen.
Louise zog die Handbremse an. Danach versuchte sie einige Male, tief ein- und auszuatmen, um das überschüssige Adrenalin abzubauen.
Huuuup. Hup-hup-hup.
Anscheinend wollte hinter ihr jemand vorbei. Sie legte den Gang wieder ein und fuhr in die nächste freie Parklücke. Dort stellte sie den Motor ab, schloss die Augen und ließ die Stirn aufs Lenkrad sinken.
Rums.
Bumm-bumm-bumm.
Widerstrebend hob Louise den Kopf. Die Frau, die gerade vor ihr Auto gelaufen war, hämmerte jetzt wild ans Fenster.
»Ob Sie mich gehört haben, Sie blöde Kuh!«, schrie sie. Durch das Glas klang ihre Stimme, als wäre sie unter Wasser. »Sie hätten fast meine Kinder überfahren! Können Sie mir das mal erklären?«
Louise atmete noch einmal tief durch und öffnete dann die Tür, wodurch die Frau samt ihren noch immer mit großen Augen glotzenden, aber doch seltsam geläuterten Kindern ein Stück Richtung Motorhaube zurückweichen musste. Louise hatte nicht vor, hier irgendetwas zu erklären, und schwieg.
»Hören Sie nicht?«, kreischte die Frau und machte ein paar Schritte auf sie zu. »Ich habe gesagt, Sie hätten fast meine Kinder überfahren! Haben Sie keine Augen im Kopf, oder was?«
Louise hob den Blick und schaute die Frau direkt an. Die beiden Mädchen versuchten, sich nun hinter den breiten, in unvorteilhaften Leggings steckenden Schenkeln ihrer Mutter zu verstecken.
»Sie hätten Ihre Kinder an die Hand nehmen sollen«, sagte sie ruhig, während sie ausstieg.
»Wie bitte?«
»Sie hätten sie an die Hand nehmen sollen, dann wären sie Ihnen nicht weggelaufen«, wiederholte sie etwas lauter und deutlicher.
»Ich glaube, ich höre nicht richtig. Bin jetzt etwa ich schuld?«
»Wenn Sie die beiden festgehalten hätten, wären sie mir nicht vors Auto gelaufen. Mir blieb nur der Bruchteil einer Sekunde, um überhaupt zu reagieren. Und beinahe wäre es zu spät gewesen.« Louise gab es auf, ihren Atem zu kontrollieren.
»Sie sind zu schnell gefahren«, ereiferte sich die Frau. »Es war verdammt noch mal Ihre Schuld! Das ist ein Parkplatz und keine Rennstrecke, hier sind kranke Menschen unterwegs. Meine Tochter hat sich den Arm gebrochen!«
»Sie haben gar keine Ahnung, wie glücklich Sie sich dafür schätzen können«, sagte Louise, die Hände nun vor Wut zu Fäusten geballt.
»Was?«
»Sie haben keine Ahnung, wie glücklich Sie sich schätzen können.«
»Das habe ich schon verstanden - ich konnte es bloß nicht glauben. Wollen Sie allen Ernstes sagen, ich soll froh sein, dass Sie meine Kinder nicht überfahren haben? Dabei können Sie froh sein, dass ich nicht die Polizei rufe!«
»Das meinte ich nicht«, sagte Louise. »Sie haben Glück, dass Ihre Töchter laufen können. Sie können Ihnen weglaufen. Weil sie kräftige, gesunde Beine haben. Und Arme, die wieder heilen werden. Dafür sollten Sie sich glücklich schätzen.«
»Sie sind doch komplett bescheuert.« Die Frau schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht zu einer angewiderten Grimasse.
»Ich muss jetzt los«, sagte Louise und versuchte, ihre Tränen, die Wut und die Trauer hinunterzuschlucken. Sie nahm ihre Handtasche aus dem Auto und wandte sich zum Gehen. »Es tut mir leid«, sagte sie noch, wie ein Nachgedanke, und ohne sich umzudrehen.
Auf dem Weg zum Eingang beschleunigte Louise ihre Schritte, bis sie fast rannte, als sie schließlich durch die tristen, grauen Korridore des in die Jahre gekommenen Gebäudes lief, wo sie die vertrauten Gerüche nach Desinfektionsmittel und Krankenhausessen begrüßten. Ihr Tempo lenkte etwas von der Tatsache ab, dass sie am ganzen Körper zitterte. Es war nicht das erste Mal, dass sie mit Wildfremden aneinandergeraten war, und jedes Mal, wenn es geschah, erschrak sie über sich selbst. Dass sie völlig übermüdet war, machte es nicht besser.
Louise war schon seit Stunden wach. Durch die dünnen Schlafzimmervorhänge hatte sie den Tag heraufziehen sehen und dabei reichlich Zeit gehabt, die schiefe Gardinenstange zu betrachten, die an einer Seite nur noch am seidenen Faden hing und wohl bald der Schwerkraft nachgeben würde. Sie hatte den Tag anbrechen gehört, denn wegen der Sommerhitze standen alle Fenster weit offen, und die Singvögel, von denen es am Stadtrand doch mehr gab als gemeinhin angenommen, hatten die ersten Sonnenstrahlen ausgesprochen freudig begrüßt. Und wie sie selbst mit dumpf heraufziehenden Kopfschmerzen auf den nass geschwitzten Laken gelegen hatte, hätte der Unterschied zu ihrer eigenen Gefühlslage nicht größer sein können.
Pete hatte sie vor ein paar Jahren - und nach endlosen Diskussionen - dann doch so weit bekommen, beim heiklen Thema Kurzzeitpflege einzulenken, aber wirklich glücklich war sie mit Patience' zweitägigen Aufenthalten in Morton Lodge nicht, die eigentlich dazu gedacht waren, Louise alle vierzehn Tage eine Verschnaufpause zu verschaffen. Tatsächlich hinterließen sie bloß eine Leere, die zu füllen ihr Schlaf sich regelmäßig weigerte. Für eine Tochter zu sorgen, die immer auf dem Entwicklungsstand eines Kindes bleiben würde, hatte ihren Biorhythmus daran gewöhnt, mehrmals die Nacht geweckt zu werden und morgens wieder früh aus den Federn zu müssen. Sie lebte dauerhaft in jener Grauzone, die alle jungen Eltern kennen. Selbst jetzt noch, mit einundsechzig, wo man sich um niemanden außer sich selbst sollte kümmern müssen.
Während sie durch das Labyrinth nüchterner Korridore eilte, versuchte sie, ihren Ärger zu bezwingen, auch wenn sie jetzt schon wusste, dass es ein vergebliches Unterfangen wäre. Es gab einfach zu viel, über das sie sich aufregen konnte, und diese keifende Frau auf dem Parkplatz war dabei noch die geringste ihrer Sorgen.
Warum hatte niemand aus Morton Lodge sie gleich gestern Abend angerufen? Patience hätte niemals so lange allein sein sollen. Sie musste solche Angst ausgestanden haben. Außerdem hätte Louise - und das fuchste sie besonders - das für heute Vormittag angesetzte Bewerbungsgespräch zwölf Stunden vorher absagen, ihr Gesicht wahren und vielleicht sogar einen neuen Termin bekommen können. Aber nun? Wer würde sie denn nun noch ernst nehmen? Sie würden die Stelle jemandem geben, der nicht lebenslange Fürsorgepflichten zu erfüllen hatte.
Und wie hatte Patience denn überhaupt aus ihrem Rollstuhl fallen können? War sie nicht festgeschnallt gewesen? Das war wieder mal typisch für Gill, die Frau war einfach zu lax! Hätte Louise ihnen doch bloß nicht erlaubt, mit Patience auf das Konzert zu gehen! Sie war einfach zu nachgiebig gewesen, aber noch mal würde ihr das nicht passieren. Sie würde die Sache später noch mal mit deutlichen Worten ansprechen. Im Augenblick zählte dagegen nur, dass Patience noch am Leben war. Das war sowieso alles, worauf es ankam.
Louise wurde jäh ausgebremst und musste sich dicht an die Wand drängen, um einen Pfleger vorbeizulassen, der ein Krankenhausbett mit einer jungen Patientin darauf schob, ein Kind, das kaum älter als sechs Jahre sein konnte und in den weißen Laken fast verschwand. Das Mädchen hatte keine Haare auf dem Kopf, seine Haut war blass und durchscheinend. Ihnen folgten zwei Erwachsene, vermutlich die Eltern, nahm Louise an, die aussahen, als hätten sie seit Wochen kein Auge mehr zugetan. Ihre Gesichter waren bleich, die Lider bleiern, die Kleider zerknittert. Als das Bett den Korridor hinabrollte und die Eltern wie Schlafwandler hinterherstolperten, machte Louise sich klar, dass sie nicht die Einzige war, die sich wünschte, ein Krankenhaus niemals von innen gesehen zu haben.
Auf der Intensivstation angekommen, erkannte sie gleich eine der Schwestern wieder.
»Guten Morgen, Jayne«, grüßte Louise und bemühte sich, freundlich zu sein und ihre Ungeduld zu bremsen, auch wenn alles in ihr zu Patience drängte.
»Hi, Mrs Willow«, erwiderte Jayne. »Wie geht es...
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