Schweitzer Fachinformationen
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Zwei
In haltlosen Zeiten
~
I
Ihre Koffer hatte Vicki bei der Aufbewahrung abgegeben. Nun stand sie ein paar Minuten still vor dem Portal des Hauptbahnhofs. »Darmstadt«, flüsterte sie leise und atmete den Geruch dieser unbekannten Stadt ein. Die Luft war mild, der Vorplatz trat dem Dampf der Eisenbahnen mit einem Hauch von Beetrosen entgegen. Dahinter zeigte sich die Stadt geschäftig. Ein Dachgewimmel mit Türmen und Erkern, schmalen Gassen und breiten Alleen. Irgendwo dahinten lag das Schloss mit seinem Park. Auch eine Technische Hochschule gab es hier, dort hatte vor ein paar Monaten die erste Frau ihr Ingenieursdiplom erhalten.
Vicki straffte die Schultern und machte sich auf den Weg. Da war sie nun. Befreit von der Last der Vergangenheit, nur noch sich selbst verpflichtet. Sie lächelte den unbekannten Häusern entgegen, den Straßen durch die sie noch nie gegangen war, der fremden Stadt, in der sie sich nun Tag für Tag aufs Neue allein dem Leben stellen würde.
Bisher war sie nie allein gewesen. Immer hatten andere den Takt ihres Lebens vorgegeben: Mama, Papa, Max, schließlich Godfried - der sich dann doch als ganz schlechte Wahl entpuppt hatte. Die glänzenden Gefühle der ersten Monate waren stumpf und hässlich geworden, als das Geld ausblieb. Das Ende war dann ganz plötzlich gekommen. Ein Streit. Eine Ohrfeige wie aus dem Nichts. Halb erschrocken, halb erstaunt hatte sie ihn schweigend angesehen. In dem Moment wussten sie es beide. Godfried retournierte sein Zugbillet und Vicki war froh, dieser Falle entkommen zu sein.
Allein und frei und bereit sich neu zu erfinden. Hinter einer dieser Straßen lag das Theater, in dem sie jede Woche Harfe spielen würde, alles Weitere war ungewiss. Alle Beschäftigungen, Gewohnheiten und Freuden würde sie sich selbst suchen.
Der Schlossteich glitzerte. Die berühmten schwarzen Schwäne hatten sich einen Schattenplatz gesucht. Ein paar Darmstädter spazierten durch die Sonne. Sie wirkten heiter, als gäbe es keine Sorgen. Ganz in der Nähe ging ein stattlicher junger Mann am Wasser entlang, groß, mit markanten Gesichtszügen. Auch er sah zum See hinüber, und als er den Kopf den Schwänen zuwandte, entdeckte Vicki in ihm den einzigen Menschen, den sie hier kannte. Überrascht blieb sie stehen. Ihr Herz machte einen kleinen Sprung und ein kleines unwissendes Lächeln umschmeichelte ihren Mund. Dabei gab es für so ein überschwängliches Gefühl eigentlich keinen Anlass. Der großgewachsene Mann im grauen Sommermantel war der Dirigent und Konzertmeister Richard Johann Lert, der Sohn ihrer Mentorin und Freundin Libussa Löw, der nichts weniger getan hatte, als ihr diesen neuen Weg, diese Freiheit, diesen Umzug zu eröffnen.
»Herr Chorleiter«, sagte Vicki und winkte ihm zu.
Der Angesprochene schaute zunächst irritiert. Es kam vor, dass er von jungen Damen im Park angesprochen wurde. Als er nach einigen Augenblicken das Wiener Gesicht richtig zugeordnet hatte, grüßte er freundlich: »Fräulein Baum? Das ist ja eine Überraschung.« Seine angenehme Stimme war ihr schon in Wien aufgefallen.
»Allerdings.«
»Gehen Sie auch gerade zum Theater?«
»Ja«, sagte Vicki und beendete kurzerhand ihren Stadtbummel. Sie konnte sich genauso gut sofort beim Theater melden.
»Schön. Ich führe Sie hin«, sagte Lert und gemeinsam setzten sie seinen Weg fort, die Nachmittagssonne im Rücken. »Gefällt es Ihnen gut in Darmstadt?«
»Ich bin gerade erst angekommen.« Vicki kam sich albern vor, weil ihre Stimme so einen überschwänglichen Klang hatte.
»So?«, fragte Lert. »Und Ihr Verlobter sucht Ihnen gerade eine Unterkunft?«
Vickis Stirn legte sich in Falten. »Ich bin alleine angereist«, erwiderte Vicki. »Herr Altmann und ich gehen getrennte Wege.«
»Um Gottes willen, Fräulein Baum. Das sind keine guten Nachrichten.«
»Ja«, sagte Vicki und wusste nicht, was sie sonst sagen sollte. Wenn sie aus ihrer Scheidung von Max Prels eines gelernt hatte, dann, dass man bei persönlichen Trennungen durchaus auf die Meinung der Leute Rücksicht nehmen musste. Wenn es notwendig war, die verlassene Braut zu mimen, dann würde sie das tun. Und ansonsten auf die Diskretion des Herrn Lert hoffen.
Sie legte einen Klang von Tapferkeit in ihre Stimme und sagte: »Es war besser so.«
Er schaute sie kurz an, aber sie erwiderte seinen Blick nicht, sondern sah vor sich auf den Gehweg, wo sie ihre Schatten schlank und zügig voreinander hertrieben.
»Schicksal des Menschen, wie gleichst du dem Wind!«, sagte er nachdenklich.
Vicki nickte ihm freundlich zu. »Sie halten es mit dem weisen Goethe, aber ich denke lieber an Gottfried Kinkel, der sagt: >Sein Schicksal schafft sich selbst der Mann<. Und für die Frau gilt das natürlich auch.«
»Selbstverständlich!«, Lert lachte.
»Um ganz ehrlich zu sein, ich bin gar nicht unglücklich über den Weg, den das Schicksal gewählt hat.«
Hätte Lert nun herübergeschaut, dann hätte er vielleicht einen Hauch von Röte in ihrem Gesicht gesehen, den Vicki selbst ganz sicher der Aufregung des Tages zurechnen würde. Sie fühlte sich sehr leicht, fast schwebend, wie sie so nebeneinander herliefen, dem neuen Leben entgegen. Da erreichten sie schon den Rand des Parks, sahen schon die herrschaftlichen Säulen am Haupteingang des Hoftheaters.
»Haben Sie denn schon ein Zimmer gefunden?«, fragte Lert.
»Nein, ich bin tatsächlich erst seit einer Stunde in der Stadt. Mein Koffer steht noch am Bahnhof.«
»Ich frag' ja nur, weil ich Ihnen da behilflich sein kann. Ich kenne eine nette Familie, die vermietet. Ganz in der Nähe.«
Sie betraten das Theater nicht durch den imposanten Haupteingang, sondern durch eine kleine Tür an der Seite und stießen unversehens auf den Großherzog Ernst Ludwig von Hessen-Darmstadt, der mit Vorliebe den musikalischen Produktionen lauschte und sich nicht scheute im Bereich des Bühnenbilds und beim Kostümdesign auch eigene Ideen einzubringen.
Vicki hatte Seine Königliche Hoheit bereits im Frühjahr kennengelernt, als ihr Solo bei einem der seltenen Empfänge im Schloss über ihre Aufnahme ins Orchester entschieden hatte. Der Großherzog höchstpersönlich hatte sich um Beleuchtung und passenden Hintergrund gekümmert und aus diesem Grund Informationen über ihre Garderobe erbeten. Dem Zufall und ihrem leeren Geldbeutel war es zu verdanken gewesen, dass sie für diesen Anlass ausgerechnet ein Ballkleid ihrer Großmutter im Gepäck hatte: gestreifte Seide in unverschämtem Rosa und Grün, mit Schleppe und Rosengirlande am Dekolletee. Ein Aufzug, der den Großherzog in Begeisterung versetzte.
»So etwas sieht man nur noch im Museum!«, hatte er geschwärmt und war ihr den ganzen Abend hinterher gelaufen, hatte ganz unherrschaftlich an ihrer Schleppe und den Hemdsärmeln gezupft.
Ob ihr Spiel überzeugte, war ungewiss, doch ihre Aufnahme ins Orchester fand die uneingeschränkte Zustimmung Seiner Majestät. Vicki unterzeichnete einen Dreijahresvertrag und trug seither den begehrten Titel: Großherzogliche Hof- und Kammermusikerin.
Heute war Seine Königliche Hoheit allerdings beschäftigt und so nahm er die Ehrerbietung rasch entgegen. Vicki und Lert setzten ihren Weg in die Verwaltung fort, wo Vicki ihre Ankunft kundtat, ein paar Formulare unterzeichnete und dann hinter der Bühne auf Lert wartete, der ihr noch heute zur perfekten Unterkunft verhelfen wollte.
Etwa eine Stunde später verließen sie gemeinsam das Theater, liefen erneut durch den Schlossgarten, nun der tiefstehenden Sonne entgegen, am See vorbei, auf dem die Schwäne noch immer ihre Bahnen zogen. Im Westen grenzte der Park an die Frankfurter Straße. Von dort ging eine Gasse ab, die sich im Verlauf eines Kilometers zu einer breiten Allee auswuchs. So weit kamen sie aber nicht, denn ihr Begleiter steuerte direkt auf die Tür des ersten Hauses zu. Ein zweistöckiger Bau mit Mansarde und gusseisern verzäuntem Vorgärtchen vor den zweiflügligen Fenstern. Er klopfte an die verschnörkelte Eingangstür und eine Frau mit blonden Haaren und einem plappernden Zweijährigen auf dem Arm öffnete.
»Herr Chorleiter, was für eine Freude«, grüßte sie mit strahlenden Augen.
»Frau Diehl, guten Tag«, erwiderte Lert.
Die Besucher wurden hereingebeten, das Kind auf dem Boden abgesetzt. »Darf ich Ihnen etwas anbieten?«, fragte sie und wies beide an, ins Wohnzimmer zu treten.
Lert winkte ab. »Ich möchte Ihnen Hedwig Baum vorstellen. Sie hat die ausgesprochene Ehre ab September am Hoftheater zu musizieren. Eine talentvolle Person und eine Freundin meiner Familie.«
Die beiden Frauen nickten sich lächelnd zu.
»Nun, Frau Diehl, dürfte Fräulein Baum Ihre Wohnung in der zweiten Etage besichtigen?«
Zu dritt gingen sie nach oben. Im ersten Raum stand ein großes Bett, ein Schminktisch, ein Kleiderschrank, die Waschkommode verbarg sich hinter einem Wandschirm. Im anderen Zimmer standen ein Sofa, ein Tisch samt Stühlen und ein Sekretär. Platz für die Harfe gab es auch.
»Zwei Zimmer!« lachte Vicki. »So ein sündhafter Luxus!« Aber die Fenster gingen auf den Schlossgarten hinaus,...
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