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Aus dem Wagen stieg einer, der so aussah, als ob er gerne gut lebte: Bauchansatz, freundliches Gesicht, helle, strahlende Augen, volle dunkle Haare mit feinen grauen Strähnchen durchzogen. Der Polizist Böge, der Katrin befragt hatte, stürzte auf ihn zu und schien ihn über Katrins Aussage zu informieren, denn der Blick des Neuankömmlings ließ die ganze Zeit über nicht von ihr ab. Dann kam er auf sie zu. Er trug einen steingrauen Dreiteiler mit Krawatte. Und erst die Schuhe: sahen aus wie handgefertigt. Gut, dass der nicht ins Watt musste. Katrin konnte sich ein Grienen nicht verkneifen.
»Dirk Huber, Kriminalpolizeistelle Husum.«
»Katrin Lund, Köchin Kurklinik »Ebbe und Flut«, Sankt Peter-Ording.«
Huber grinste.
Ob er sich seine silbrigen Strähnchen wohl färben ließ?
»Ich muss Sie leider bitten, mir das Ganze noch einmal zu erzählen. Tut mir leid, ist sicher nicht so angenehm für Sie.« Er holte ein kleines Notizbuch und einen Schreiber aus der Innentasche seines Jacketts. Katrin war beeindruckt, ein Montblanc-Meisterstück. Das war eine richtige Kapitalanlage. Dirk Huber war ein Mann mit Stil und offenbar mit Geld. Aber als Kriminalkommissar verdiente man doch wohl kaum so viel?
Geduldig erzählte sie ihm alles noch einmal.
Ihr Telefon klingelte. Sie erkannte die Nummer der Küche. »Entschuldigen Sie, ich muss da rangehen. Arbeit.«
Katrin verstand nur Bruchstücke von dem, was ihre Assistentin sagte. Der Weg zum Deich hinauf war nun versperrt durch die Tatortsicherung. Dann war die Verbindung unterbrochen.
»Ich glaube, ich werde auf der Arbeit gebraucht.«
»Gehen Sie ruhig. Wir haben erst einmal, was wir brauchen. Ich melde mich bei Ihnen. Sie müssen Ihre Aussage auf der Dienststelle noch einmal offiziell zu Protokoll geben.« Er gab ihr die Hand zum Abschied. »Dann erholen Sie sich ein bisschen von dem Schreck am frühen Morgen.«
»Leider nicht möglich. Jetzt geht's richtig zur Sache: laute Küche, genervte Kurgäste und eine Hauswirtschaftsleiterin, die verlangt, dass wir aus Scheiße Gold machen sollen . Entschuldigung.«
»Schon gut. Manchmal muss man die Dinge beim Namen nennen.« Huber grinste wieder.
Katrin schwang sich auf ihr Fahrrad. Huber blickte ihr hinterher. Ihr Kleid und ein paar Strähnen, die sich aus ihren hochgesteckten Haaren gelöst hatten, wehten im Fahrtwind. Sie winkte kurz mit einer Hand, ohne sich zu ihm umzudrehen. Hatte sie etwa seinen Blick in ihrem Rücken gespürt?
Huber räusperte sich und wandte sich an Harmsen, der mit seiner ihm eigenen Akribie den gesamten Fundort mit seinen Klebestreifen auf eventuelle Spuren untersuchte. Mit seinem Fotoapparat hielt er jedes Detail der Leiche und rund um die Leiche fest.
»Bleib bloß weg«, rief Harmsen ihm jetzt zu. »Wäre schön, wenn du mir nicht auch noch die letzten Spuren vernichtest. Die blöden Walker haben schon genug Schaden angerichtet.« Er wischte sich mit seiner latexbehandschuhten Hand eine Haarlocke aus der Stirn, die sofort wieder an ihren Platz zurückrutschte, und krabbelte dann auf allen vieren zum Waldrand.
Huber hatte nach seiner ersten näheren Leichenbeschau noch keinen Anhaltspunkt darüber, wer der Tote war und wie er zu Tode gekommen sein konnte. Er wandte sich an seinen uniformierten Kollegen.
»Machen Sie doch bitte ein Foto vom Gesicht des Toten und drucken es auf Ihrer Dienststelle aus. Dann mailen Sie es bitte an meine Husumer Kollegen.«
Damit konnten dann die Befragungen durchgeführt werden, ob den Toten jemand vermisste, ihn vielleicht sogar erkannte.
»Aber bitte diskret«, gab Huber vorsichtshalber mit auf den Weg, ». also die Befragungen. Fragen Sie zunächst nach Vermissten und zeigen das Foto nur, wenn es unumgänglich ist.«
Die Einsatzleitstelle hatte einen Bestatter beauftragt, den Leichenwagen zu schicken, und nun war der Tote auf dem Weg in die Rechtsmedizin.
»Dirk, ich hab hier was gefunden.« Harmsen kam aus dem Unterholz hervor, stemmte sich hoch und hielt Huber einen Gegenstand entgegen. Beim Näherkommen erkannte er eine kleine Sprayflasche mit einem Aufsatz.
»Was ist das? Asthmaspray oder so was?«
Harmsen strich seine Tolle wieder aus dem Gesicht, rückte seine Brille zurecht und las, was auf dem Inhalator stand. Er nickte.
»Dann ab ins Labor damit.«
Viel zu spät betrat Katrin die Küche. Ihre Mitarbeiter waren schon damit beschäftigt, das Frühstücksgeschirr der Kurgäste vorzuspülen und die Geschirrspüler zu füllen. Sie rief ein für alle hörbares »Entschuldigung« in die Runde und rauschte durch in ihr Büro.
Noch ihren Kittel zuknöpfend, kam sie zurück in die Küche und winkte ihre Assistentin, Jeanette Menzel, zu sich heran. »Du hattest angerufen. War irgendwas Besonderes?«
»Nö, schon erledigt. Aber es hat sich herumgesprochen, dass du heute früh eine Leiche entdeckt hast.«
Katrin zog die Brauen hoch.
»Die Nordic Walker verbreiten ihre Neuigkeiten schneller, als sie laufen können.« Jeanette musste über ihren eigenen Witz lachen. Als Katrin nicht darauf reagierte, verendete ihr Lachen in einem kläglichen Hüsteln.
Katrin kam wieder zur Sache. »Aber die Stubenrauch ist zu ihrer morgendlichen Stippvisite noch nicht erschienen, oder?«
Jeanette verneinte mit einem Kopfschütteln.
»Gut, dann machen wir uns an die Arbeit.«
Als ob sie den Teufel beschworen hätten, öffneten sich in genau diesem Augenblick beide Flügel der Schwingtür. Ihre Majestät, die Hauswirtschaftsleiterin Ingrid Stubenrauch, schritt in die Küche. Ihr Blick glitt prüfend durch den Raum, und ihre schmalen, sonst geraden Lippen zogen sich kräuselnd zusammen.
Katrin verkrümelte sich in die Speisekammer, ohne, wie sie dachte, die Stubenrauch auf sich aufmerksam gemacht zu haben.
Um zehn Uhr hatte sie einen Ernährungskurs mit laktoseintoleranten Kurgästen und suchte entsprechende Lebensmittel und Getränke heraus, packte alles in eine große Kiste, und als sie sich umdrehte, stand die Stubenrauch in der Tür und versperrte ihr den Weg.
»Da haben Sie ja schon am frühen Morgen für richtig viel Aufregung gesorgt, Frau Lund.«
»Das war wohl weniger ich als der Tote am Leuchtturm.« Katrin schob sich mit ihrer Kiste an ihr vorbei. Mit einem Plumps stellte sie die Kiste auf der Ablage neben der Speisekammer ab.
Während sie die darin befindlichen Lebensmittel mit ihrer Liste auf dem Klemmbrett verglich, fragte sie die Stubenrauch, ohne sie anzusehen: »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
»Nein, schon gut. Beruhigen Sie sich erst mal. War doch wohl ein ganz schöner Schock.«
»Das war's. Ja.«
Aber ohne mahnende Worte konnte die Hauswirtschaftsleiterin nicht gehen. »Denken Sie dann noch bitte daran, rechtzeitig Ihre Kalkulation für das nächste Quartal bei mir abzugeben?«
»Ja, mach ich«, brummte Katrin in sich hinein.
Ganz anders, als sie aufgetreten war, verschwand Ingrid Stubenrauch erstaunlich undramatisch aus der Küche. Hatte sie etwa Mitgefühl?
Was das wohl immer sollte mit diesen Kostenkalkulationen? Ein Drittel strich die Stubenrauch sowieso von vornherein. So konnte man keine Küche in einer Kurklinik führen, die auch noch Ernährungsumstellungen in ihrem Leistungskatalog anpries. Wenn die Kurgäste wüssten, was sie hier hinter verschlossenen Türen für Nahrungsmittel verarbeiten musste - es konnte einem manchmal schlecht werden. Die Convenience-Lebensmittel waren nicht mal das Schlimmste. Nein, es fand sich auch schon mal Schimmel an Brot, Aufschnitt oder Gemüse, den sie zwar großflächig entfernten, aber wer wusste schon, wo Pilzgeflechte endeten?
Wieder schob sich das Gesicht des Toten vor ihr inneres Auge. Katrin hielt inne. Woher kannte sie bloß sein Gesicht?
Die Frage ließ ihr keine Ruhe; sie drängte sich immer wieder vor die Gedanken an ihre Arbeit.
Eine Leiche in einem Kurort war so ziemlich das Schlimmste, was Huber sich vorstellen konnte. Die Meute war irgendwann nicht mehr beherrschbar. Ein Ort, an dem man gesund werden sollte, und dann ein Toter. Es gab sicher Kurgäste, die das schon zum Anlass nahmen, sofort ihre Koffer zu packen und abzureisen. Er mochte sich gar nicht ausmalen, was geschehen konnte, wenn jemand dabei war, der ihm sachdienliche Hinweise geben konnte - vielleicht, ohne dass...