Schweitzer Fachinformationen
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Rocco hatte im Lauf der Jahre die unterschiedlichsten Menschen vertreten. Und mit der Zeit hatte er gelernt, sie zu lesen. Von brutalen, rücksichtslosen Schwerverbrechern über Einmaltäter, die selbst Opfer ihrer überschäumenden Emotionen geworden waren, bis hin zu den wenigen, die tatsächlich unschuldig waren.
Jan Staiger konnte er auf den ersten Blick in keine dieser Kategorien einordnen, was ungewöhnlich war. Er sah dem jungen Mann in die geröteten Augen und erkannte darin weder Schuld noch Unschuld.
Staiger hielt Roccos Blick nur kurz stand und fummelte dann eine Schachtel Zigaretten aus seiner Tasche. »Kann man hier rauchen?«, fragte er.
»Klar«, erwiderte Rocco.
Staiger zündete sich eine Zigarette an, schloss die Augen und sog den Rauch tief in seine Lunge. Dreimal. Als er seine Augen wieder öffnete, wirkte er ruhiger. Das Nikotin schien zu wirken. Die Unsicherheit, die ihn eben noch umgeben hatte, war gleichfalls wie weggeblasen. Mit einem geradezu hochmütigen Ausdruck musterte er Rocco von oben bis unten.
»Sind Sie wirklich Rocco Eberhardt? Der Anwalt aus dem Fernsehen?«
»Warum fragen Sie?«
»Ich hatte Sie mir größer vorgestellt. Außerdem mit Anzug und so. Irgendwie anders.«
Rocco ignorierte die Bemerkung. Er war es gewohnt, dass seine Mandanten erst einmal checken wollten, woran sie bei ihm waren. Ob sie ihm vertrauen und wie weit sie gehen konnten. Generell galt die Faustregel: Man hat etwa dreißig Sekunden Zeit, um seinem Gegenüber klarzumachen, dass man der Chef im Raum ist. Erstaunlicherweise war es genau das, was die meisten Straftäter brauchten. Sie trauten ihrem Anwalt nur, wenn sie ihn respektierten.
»Weil ich gerade keinen Anzug trage, bin ich nicht weniger ein Anwalt. Tatsächlich ist heute eigentlich mein freier Tag, und bin lediglich aufgrund der Empfehlung des Kollegen Humke hier. Harald Humke, der Sie gestern in Tempelhof vertreten hat.«
»Und der mir nicht weiterhelfen wollte«, fügte Staiger zynisch hinzu.
»Spielt das eine Rolle?«, entgegnete Rocco. »Er hat gestern seine Arbeit erledigt, und wenn wir beide uns einig werden, kann ich Ihnen ab jetzt weiterhelfen.«
»Ich weiß ja noch gar nicht, ob ich Sie als Anwalt haben will«, erwiderte Staiger.
»Das ist Ihre Entscheidung. Es steht Ihnen natürlich frei, sich von einem anderen Anwalt vertreten zu lassen«, hielt Rocco ihm entgegen und blickte ihn mit festem Blick direkt an. Von einem Moment auf den anderen fiel Staigers Selbstbewusstsein in sich zusammen. Die Positionen waren geklärt. Staiger realisierte, dass er Rocco dringender brauchte als der ihn.
Nervös blickte er sich um. Rocco, der sofort wusste, was Staiger suchte, holte den billigen Blechaschenbecher von der Fensterbank. Er stellte ihn vor Staiger auf den Tisch und setzte sich wieder.
»Und wie geht es jetzt weiter?«, fragte Staiger.
»Vielleicht sagen Sie mir einfach mal, warum Sie hier sind«, sagte Rocco und lehnte sich in dem in die Jahre gekommenen Behördenstuhl zurück.
»Keine Ahnung. Weiß ich nicht.«
Natürlich, dachte Rocco, das weiß ja keiner. Doch anstatt mit einer spitzen Bemerkung auf den Satz einzugehen, den er schon Hunderte Male zuvor von Menschen in Staigers Situation gehört hatte, schwieg er einfach. Er wollte Staiger erst einmal seine Version der Dinge erzählen lassen, ohne ihn mit irgendwelchen Fragen in eine bestimmte Richtung zu lenken.
Staiger schwieg.
Eine knappe Minute, die sehr lang war, saßen sich die beiden wortlos gegenüber. Bis Staiger die Stille offensichtlich nicht mehr ertragen konnte.
»Ich weiß auch nicht. Irgendwie ist das alles scheiße gelaufen.« Er zog an seiner Zigarette. »Ich hatte mich Freitagabend mit Lukas im Königssohn getroffen. Wir wollten einfach was trinken. Und quatschen und so.« Staiger schüttelte den Kopf. »Das Nächste, woran ich mich erinnern kann, sind diese Bullen. Die haben mich Sonntagfrüh aus dem Bett geklingelt, in die Wohnung zurückgedrängt und mir Handschellen angelegt. Und dann haben die meine Bude auseinandergenommen.« Staiger aschte seine Zigarette ab. »Dass ich Lukas ermordet haben soll, hat der Oberbulle behauptet. Und mich dabei so hämisch angegrinst. Sonst haben sie nichts gesagt. Ich wusste bis dahin nicht mal, dass Lukas tot ist!«
Staiger sog heftig die Luft ein, als ob er immer noch unter Schock stand, und sackte dann in sich zusammen. Er wirkte verzweifelt. Ehrlich betroffen über den Tod seines Bekannten.
Sekunden später hob er den Kopf und schien darauf zu warten, dass Rocco seine Schilderung kommentierte. Aber Rocco schwieg.
»Später, vor dem Richter, hat der Staatsanwalt behauptet, ich hätte Lukas mit Liquid Ecstasy umgebracht!« Staiger pustete Luft zwischen seinen Lippen hervor. »So ein Quatsch.«
Rocco horchte auf. Je nachdem, wie Staiger sich jetzt verhielt, konnte das Aufschluss über seine Schuld geben. Oder darüber, ob er versuchte, Rocco etwas vorzumachen.
»Haben Sie und Lukas denn was genommen?«, fragte Rocco.
»Ich schon. Ist ja eigentlich ganz geil das Zeug. Aber Lukas hat das nie angerührt.« Staiger machte eine kurze Pause, ehe er protestierend hinzufügte: »Und ich hab ihm auch nix gegeben! Ich habe ihn nicht umgebracht. Das ist totaler Scheiß.«
Okay, dachte Rocco. Auf jeden Fall streitet er nicht alles ab. Spricht für ihn.
»Haben Sie das Liquid Ecstasy mitgebracht? Oder Lukas?«
»Wenn ich feiern gehe, nehme ich manchmal was. Ist ja auch nicht gefährlich, da ist noch nie was passiert! Lukas wollte das nie. Hab mal versucht, ihn dazu zu überreden, aber da war nichts zu machen. Ist schon länger her. Keine Ahnung, vielleicht hat er inzwischen ja selber was genommen? So oft sehe ich ihn auch wieder nicht.«
Rocco legte seinen Kopf leicht auf die Seite und musterte Staiger. Er wollte wissen, ob sein Gegenüber die Wahrheit sagte. Es waren die kleinen Gesten, die einen verrieten. Das war wichtig für Rocco. Er hatte keine Schwierigkeiten, einen Straftäter zu verteidigen. Das war sein Job. Aber er würde niemanden vertreten, der versuchte, ihn zu verarschen.
»Und Sie können sich sonst an nichts mehr erinnern?«
»Nein. Hab auch ziemlich was getrunken am Freitag. Wollte einfach nur einen guten Trip. Ich war den Samstag über fast nur am Schlafen, bis die Bullen Sonntagfrüh vor der Tür standen.«
»Und Sie hatten von dem Liquid Ecstasy noch was zu Hause?«
»Ja, kann schon sein. Ich kaufe ab und zu was im Görli. Da ist das Zeug ganz gut. Und auch nicht so teuer.«
Der Görlitzer Park, oder auch Görli genannt, war als Drogenumschlagplatz berüchtigt. Es verging kein Tag, an dem die Polizei hier nicht auftauchte. Allein im letzten Jahr gab es über eintausendfünfhundert Anzeigen, die mit Drogen in Zusammenhang standen. Allerdings, dachte Rocco, war der Görli nicht wirklich für hochqualitativen Stoff bekannt.
»Und Sie haben Lukas nichts gegeben?«, fragte Rocco noch einmal, um sicherzugehen.
»Nein. Aber man kann fast von jedem was bekommen. Ist ja nicht gerade unüblich in der Szene.« Staiger wippte mit seinem linken Bein auf und ab und zupfte mit der Hand an seiner Socke. »Verdammt noch mal. Ich kann mich wirklich nicht erinnern. Ich weiß nicht mehr, was passiert ist. Wir haben gequatscht, wir haben getanzt, und irgendwann hat halt der Rausch übernommen. So ist es manchmal, wenn ich richtig feiern gehe. Es ist bestimmt spät geworden, oder, besser gesagt, früh. Aber ich weiß sonst überhaupt nichts mehr. Ist alles weg. Ich weiß ja nicht mal mehr, wie ich nach Hause gekommen bin.«
Irgendwie glaube ich ihm, dachte Rocco, während sich ein weiterer Gedanke in seinem Kopf formte. Er fragte sich, warum man den jungen Mann überhaupt verhaftet hatte. Das Ganze sah doch viel mehr wie ein Unfall aus. Und noch viel fragwürdiger war, dass der Richter den Haftbefehl bestätigt hatte. Rocco kam es fast so vor, als wollte hier jemand ein Zeichen setzen. Ein Exempel statuieren. Aber das passte nicht zusammen. Irgendetwas stimmte hier nicht. Rocco beschlich ein ungutes Gefühl.
Bisher kannte er allerdings auch nur Staigers Version der Geschichte. Vielleicht ergab sich aus der Ermittlungsakte der Polizei der entscheidende Hinweis. Zeugenaussagen, forensische Spuren, irgendwas, das eindeutig auf Mord und auf Staiger als mutmaßlichen Täter hinwies. Als Verteidiger von Staiger hatte er das Recht, die Akte einzusehen. Und er war sehr gespannt darauf, was er da zu lesen bekam.
»Helfen Sie mir?«, fragte Staiger jetzt und sah Rocco mit einem verzweifelten Ausdruck an.
»Wollen Sie das denn?«, hielt dieser ihm entgegen.
Staiger biss sich auf die Unterlippe. »Sind Sie wirklich so gut, wie alle sagen?«
Gute Frage, dachte Rocco. Stattdessen erwiderte er: »Ich bin so gut, wie ich eben bin. Wenn ich Sie verteidige, werde ich alles für Sie tun, was ich kann. Da ich aber bisher weder die Akte gesehen noch mit dem zuständigen Staatsanwalt gesprochen habe, kann ich Ihnen keine Einschätzung Ihres Falles geben.«
Staiger nickte. »Okay, verstehe. Und ja, ich möchte, dass Sie mich verteidigen. Bitte helfen Sie mir. Ich möchte, dass Sie rauskriegen, was passiert ist. Nicht nur für mich, auch für Lukas. Er...
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