Der Pfad der Unsicherheit
Des geregelten Lebens mal wieder überdrüssig, floh ich vor einigen Jahren Hals über Kopf an die tunesische Mittelmeerküste, um dort eine deutsche Bäckerei für Laugengebäck aufzubauen. Wie alle Entscheidungen, die mit der heißen Nadel der Emotion gestrickt sind, wirkt auch diese im Nachklang der Jahre naiv, ja, fast tölpelhaft. Als ob man einer Liebschaft oder Begierde voller Entschlossenheit nachjagt und erst nachdem man von ihr kuriert ist, zu der Erkenntnis gelangt, dass man es besser unterlassen hätte. Es machte aus der Ferne noch durchaus Sinn, denn dass Laugengebäck bei deutschen Pauschaltouristen beliebt sein würde, daran hegte ich keinen Zweifel. Wer im Urlaub mit Vehemenz auf sein Schnitzel besteht, nimmt eine Laugenbrezel auch gerne an.
Dem Flug von Leipzig nach Monastir waren nur zwei verpixelte Skype-Gespräche mit einer Frau namens Lisbeth, die diese Bäckerei aufbauen wollte, vorausgegangen und das ganze Projekt endete innerhalb kürzester Zeit in einem riesigen Desaster. Lisbeth war irgendwann aus Niederbayern an die tunesische Mittelmeerküste gezogen, verfügte aber weder über Kontakte zum damals herrschenden Ben-Ali-Clan noch über arabische Sprachkenntnisse und war außerdem eben eine Frau. Das waren drei negative Grundkonstanten, die es schwer, wenn nicht sogar unmöglich, machten, in diesem patriarchalisch-kleptokratischen System auch nur ein Eis zu verkaufen. Erst vor Ort erfuhr ich, dass sie wegen der Strahlenbelastung aus Niederbayern nach Sousse ausgewandert war und es passte dann auch irgendwie gut ins Bild, das sich mehr und mehr zu einem bizarren Gemälde ausweitete.
Nach drei Wochen hatte Habib, ein tunesischer Mittelsmann, es geschafft, über tausend Ecken eine Backstube zu organisieren, in der ich heimlich einige Stunden Testreihen durchführen konnte. Es war ein verloddertes Ding, das die minimalsten Anforderungen an Hygiene und Sicherheit gekonnt unterlief. Ich begann dennoch damit, eigentlich für Reinigungszwecke vorgesehene hochkonzentrierte Sodium Hydroxide zu einer Art Brezellauge zu verdünnen, so dass sich beim ersten Biss in die Urlaubsbrezel nicht gleich die Mundschleimhaut ablösen würde. Es gelang mir tatsächlich, damit akzeptables Laugengebäck herzustellen. Ich habe das nicht recherchiert, aber es waren vermutlich die ersten Laugenbrezeln Tunesiens, die ich da buk.
Lisbeths geistiger Gesundheitszustand nahm inzwischen jedoch solch desolate Züge an, dass es auch die einzigen Brezeln bleiben sollten. Die Finanzierung stand auf wackeligen Beinen, wie mir Habib verriet. Aber wir hatten beide nicht erwartet, dass sie plötzlich in ihrem Garten nach dem Schatz von Hamilkar graben würde, um ihren Lebenstraum finanzieren zu können. Als Habib davon erfuhr, rief er mich an und sagte, dass er raus wäre aus der Nummer. Ich konnte das verstehen, denn Schatzsuche ist auch nach meinem Geschmack ein recht ungewöhnlicher Finanzierungsplan, der in den seltensten Fällen von Erfolg gekrönt ist. Also machte auch ich einen Haken hinter die Sache mit der Bäckerei und verbuchte das Ganze unter Lebenserfahrung.
In dieser Zeit war ich in einer einfachen Wohnung in einem Vorort von Sousse untergebracht, die außer einem Bett und einem defekten Herd nichts enthielt. In der Wohnung unter mir hatte sich zudem ein algerischer Clan für den Sommerurlaub einquartiert und zu behaupten, sie wären laut gewesen, wäre eine maßlose Untertreibung. Sie machten zu allen erdenklichen Uhrzeiten einen fürchterlichen Lärm. Ich nahm es mit Humor. Die Wohnsituation stellte ohnehin kein Problem dar, denn in einem warmen Land voller Straßenkultur in der Bude zu sitzen war Blödsinn und Essen gab es an jeder Ecke. So vertrieb ich mir die Tage bis zum Rückflug in Teestuben oder widmete mich in einem der zahlreichen Straßencafés der Beobachtung goldbehangener russischer Schönheiten, die von nordafrikanischen Machos mit großen Autos und noch größeren Sonnenbrillen ausgeführt wurden. Okay, dann hatte ich eben mal Tunesiens Strände gesehen und dazu Frauen, die in einer Burka badeten, was nicht einmal unsexy aussah, da ich Verhüllung schon immer näher an der Erotik angesiedelt sah als nacktes Fleisch. Eine Hand, die sich vorsichtig aus dem Stoff hervorschiebt und sanft über das Wasser streicht, kann äußerst erotisch wirken und die Vorstellung beflügeln. Ein nackter Körper in der Sonne ist dagegen nur ein nackter Körper in der Sonne. Aber ich war kein Mensch für das Strandleben und auch keiner der Ärger mit algerischen Clans haben wollte, weil man zu lange auf ihre Frauen glotzte. So beschloss ich, am nächsten Tag mit dem Zug in den Norden hochzufahren und mir die Hauptstadt anzusehen.
Dass ich nicht nach Tunis kam, lag an einem unerwarteten Besuch in den frühen Morgenstunden, als es plötzlich heftig gegen meine Tür hämmerte. Ich dachte, der algerische Familienclan unter mir habe irgendein Problem, öffnete und sah mich plötzlich vier Polizisten und dem Vermieter gegenüber. Auch ohne große arabische Sprachkenntnisse wusste ich sehr schnell, was der Grund ihres Besuchs war. Wenn jemand Geld von einem will, versteht man das in allen Sprachen recht schnell. Sie wollten sechshundert Euro für die Wohnung oder ich würde Bekanntschaft mit tunesischen Gefängnissen machen. Die Zeichensprache der Polizei für "dann klicken die Achter" ist ebenfalls weltweit ähnlich und leicht verständlich. Sechshundert Euro war natürlich eine völlig utopische Summe für diese abgerockte Bude. Ich war außerdem der festen Überzeugung gewesen, dass die Wohnung schon wie ausgemacht längst bezahlt war, wunderte mich nach den vorangegangenen Ereignissen aber nicht großartig über die Geldforderung. Meine Verhandlungsposition war in diesem Moment allerdings denkbar ungünstig, genau genommen hatte ich keine. Es war ein mieses Spiel, das zum Himmel stank und die Polizisten waren vermutlich an der Miete zur Hälfte beteiligt. Ich zeigte die Handynummer von Habib, da er mit Lisbeth die Wohnung angemietet hatte. Der Vermieter konnte sich natürlich nicht an Habib erinnern. Er meinte, ich sei alleine gekommen, als Tourist. Für mich war es das Beste, das ebenfalls so zu sehen. Ich hatte keine Arbeitserlaubnis und es hätte meine Verhandlungsposition nicht verbessert, wenn ich erzählt hätte, dass ich eigentlich hier war, um merkwürdig geformte Teigstücke in Reinigungsmittel zu tauchen und sie dann an deutsche Pauschaltouristen zu verkaufen. Ich versuchte, Habib auf dem Telefon zu erreichen, keine Chance. Lisbeth miteinzubeziehen, würde meine Situation eher noch verschlechtern. Die hatte ich zum letzten Mal vor zwei Tagen in ihrem Garten bei der Schatzsuche gesehen, als ich vergeblich mein Geld für das Flugticket einfordern wollte. Wer in seinem Garten nach dem Schatz von Karthago gräbt, ist schon zu lange woanders unterwegs, um anderen in solch einer Situation aus der Patsche zu helfen. Ich musste wohl oder übel die Spielregeln akzeptieren.
Im Morgengrauen fuhren wir mit den Polizisten zum nächsten Bankautomaten, irgendwo am Boulevard Sidi Bou Said. Ich war noch im Halbschlaf und mir völlig unklar darüber, ob meine Kreditkarte sich belasten ließ oder nicht. Es wäre eine Lüge, zu behaupten, ich wäre nicht erleichtert gewesen, als der Geldautomat die Scheine herausrückte und sich alles bis auf meinen Kontostand in Wohlgefallen auflöste. Allerdings ertappte ich mich auch bei einem leichten Gefühl der Enttäuschung in den verkommeneren Gehirnregionen. Es war ja auch ein wenig schade, da die Bekanntschaft mit einem tunesischen Gefängnis bestimmt eine intensive und einzigartige Erfahrung sein musste. Für viele mag das einen kranken Gedankengang darstellen und vielleicht ist es das auch, aber wenn man das Leben aus der Perspektive der Intensität beurteilt, dann waren die Scheine, die ich dem Vermieter überreichte, eine Enttäuschung. Sie führten mich von diesem kritischen Punkt wieder zurück in eine Welt der Sicherheit und vermutlich hatte ich nie mehr die Möglichkeit, ein tunesisches Gefängnis von innen zu sehen. Eine der vielen Welten in diesem Leben, die mir verschlossen blieben. Ich erstrebte keine Aufenthalte in afrikanischen Gefängnissen, das wäre Irrsinn. HIV kann man sich auch auf angenehmere Weise besorgen. Es geht darum, die Intensität des Lebens als Geschenk anzunehmen, die Wertung von gut und schlecht dabei völlig beiseitezulassen. Wenn es so gekommen wäre, wäre es so gekommen. Es wäre aus dieser Perspektive, die der intensiven Erfahrung einen größeren Wert beimisst als der Angst, keine schlimme Sache gewesen, da die Wertung "schlimm" in dieser Welt nicht existiert. Es waren andere Maßeinheiten, mit denen hier gemessen wurde.
Als mich im tansanischen Hinterland in einer gottverlassenen Missionsstation eine schwere Malaria niederstreckte und sich während der heftigen Fieberschübe die Welt der Lebenden der Welt der Verstorbenen mehr und mehr annäherte und mir Menschen erschienen, die bereits von dieser Welt gegangen waren, empfand ich weniger Angst als eine tiefe Neugier, diese Zwischenwelt, in die mich das Fieber hineinzog, zu erkunden. Es war eine eigene Welt voller unglaublich intensiver Eindrücke und farbiger Bilderreigen. Das Chinin, das hier seit der Kolonialzeit als Allheilmittel verwendet wurde, hatte die üble Nebenwirkung, dass mein Gehör davon völlig gelähmt war und mich komplett von der Außenwelt isolierte. Die Kommunikationslosigkeit beflügelte meine Phantasie und drängte mich noch stärker in die Geisterwelt. Unfähig die einfachsten Bewegungen auszuführen, lag mein Körper erschöpft in seinem eigenen Schweiß und Exkrementen, da ich meine Körperfunktionen nicht mehr unter Kontrolle hatte. Dennoch war es eines der mächtigsten und großartigsten Erlebnisse.
Noch...