Wenn die Gewissheiten erodieren .
Wenn man mich in 20 Jahren, wenn ich den wilden Leipziger Westen hinter mir gelassen und mich der Nachzucht kongolesischer Zwergzebras verschrieben haben werde, fragen wird, wie es so weit kommen konnte, dass mein Versuch, die sesshaften Lindenauer zu erforschen, nach vielversprechendem Beginn so grandios scheitern konnte, werde ich meinen Bericht vermutlich mit einem stöhnenden Ach und diesem Satz beginnen: "Alles begann mit einem unvorhersehbaren Lächeln an einem sehr milden Herbsttag ."
Vielleicht werden einige, die meinen Ausführungen weiter folgen werden, dies am Ende in Zweifel ziehen und mir vorwerfen, ich würde dieses eine, lächerliche Lächeln überbewerten und andere mögliche Gründe vernachlässigen. Doch ich werde mit dem Kopf schütteln und darauf beharren, dass es nicht an der Launenhaftigkeit der Wahrnehmung oder einer zunehmenden Sinnflutung lag, sondern einzig an dieser einen, ungewohnten Gesichtsregung, die mich und mein Forschungskonzept gänzlich aus der Bahn warf.
Eher noch wird sich dieses Lächeln mit zeitlicher und räumlicher Entfernung traumatisch verstärken und mir die Sonnenuntergänge auf meinen afrikanischen Latifundien gänzlich vergällen.
Zugegeben: Das wäre schlimm, denn nirgendwo sind Sonnenuntergänge romantischer als im ländlichen Afrika. Zumindest, wenn man in den Bildern schwelgt, die der populären Afrikaliteratur der Buchhandlungen entsteigen. Doch selbst Sansibar war trotz seiner bezaubernden Schönheit eine einzige Enttäuschung. Die Wirklichkeit vermischt reiseführertaugliche Swahiliarchitektur mit nie fotografierten, sozialistischen Plattenbauten im Grünau-Stil. Das vielgerühmte tropische Abendrot, eine Angelegenheit von wenigen Augenblicken. (Man lebt zu sehr in erwartungsschweren Illusionen.)
Mein schönster Sonnenuntergang war unerwartet und mächtig, mitten im Herbst. Nur 20 Schritte von meiner Haustüre entfernt. Minutenlanges Feuer am Ende der Merseburger Straße. Rötliche Apokalypse eines degenerierten Sunset Boulevard.
Würde man kulturelle Postkarten des Leipziger Westens entwerfen, so wären die romantischen Motive sicherlich für Plagwitz reserviert. Zwar gibt es dort keine Affenbrotbäume, Elefanten und andere Wildtiere im Abendrot, dafür aber jede Menge Kunst und Kultur. Sucht man in der Realität nach dem Zentrum malerischer Kreativität, gelangt man jedoch nicht nach Plagwitz, sondern in die Leipziger Baumwollspinnerei in Lindenau. Dieses Viertel passt in der Vorstellung ebenso wenig zu Kunst wie Plattenbauten zu Sansibar. Dort hausen höchstens wilde Hartz IV Barbaren, hochprozentige Straßenbewohner und natürlich Nazis, keinesfalls aber kunstschaffende Menschen. Auf seinen Visitenkarten schreibt man darum lieber Leipziger Westen, mit Vorliebe aber Plagwitz. Imaginäre Landkarten, die mehr über kulturelle Identifikationen als geographische Grenzziehungen verraten. Dies mag aus Künstlerperspektive gewiss verständlich sein; zumindest, wenn man "L'art pour l'art" betreibt.
Als traditioneller Ethnologe muss man sich mit ähnlichen Problemen herumschlagen, wenn auch gegensätzlicher Natur, denn man widmet sich gewissermaßen der kulturellen Antithese: den Wilden. Ebenso wie es einen fröhlich in seinem Atelier dahinmalenden Künstler bis ins Mark erschüttern mag, wenn ihm plötzlich ein betrunkener Straßen-Lindenauer ins Ohr flüstern würde, dass sie, wenn auch nicht Brüder im Geiste, so doch wenigstens Viertel-Kumpanen wären, er also eigentlich in Lindenau und nicht in Plagwitz von Weltruhm träumt, zerrütten diese unerwartet auftauchenden kulturellen Zivilisationsmerkmale bei den Eingeborenen einen Ethnologen.
Und so rief ich an diesem verhängnisvollen Tag, an dem ein Hauch von Plagwitz durch unseren Hinterhof wehte, mehrmals halbfragend, halbtrauernd, in meine aufgewühlte Ethnologenseele: "Lindenau, du wunderbares Eiland. Land des Ursprungs. Von Bitternis und Sternburg umflossen, degenerierst du etwa zu banaler Zivilisation?"
Es war, wie gesagt, ein viel zu milder Herbsttag. Nach meinem Geschmack mindestens zehn Grad zu mild. Ich spürte diese eigenartige Schwüle, die nicht so recht zu einem Oktobertag passen wollte, schon am Morgen nach dem Erwachen auf meinen Gedankengängen lasten. Vielleicht hätte ich das Bett nicht verlassen dürfen. Manchmal ist es besser, wenn man einfach nicht aufsteht. Man bleibt liegen und der Tag vergeht schon irgendwie. In letzter Zeit bleibe ich oft liegen. Lausche mit geschlossenen Augen in meiner kleinen Dachkammer über Stunden dem Gezwitscher der Vögel, höre dieses Rattern zu mir emporsteigen, wenn der kleine Junge aus dem Hinterhaus mit seinem Bobby Car den Innenhof durchquert, oder versuche, das Stimmengeschrei der polyphonen Frau im Erdgeschoss ihren unterschiedlichen Persönlichkeiten zuzuordnen.
An diesem Morgen tat ich es jedoch nicht. Ich stand auf - trotz dieser Schwüle - trank Kaffee und beschloss, ein bisschen durchs Viertel zu streifen. Ich tue dies gerne, denn die besten Inspirationen kommen mir immer beim Gehen. Ich hatte bereits einen großen Teil meiner Forschungsarbeit fertiggestellt und auch genügend Argumente gefunden, um diese wissenschaftlich zu untermauern. Ich war also eigentlich guter Dinge. In den letzten Monaten war alles zu meiner Zufriedenheit verlaufen. Meine Kollegen hatten mich beglückwünscht und interessiert, wenn auch leicht neidisch, auf meine Lindenauer Forschung geblickt. Während sie sich am Ende der Welt, ausgezehrt von Tropenkrankheiten und anderen Imponderabilien des Lebens, herumschlugen, saß ich in meiner Lindenauer Dachwohnung und alles war klar. Die Sebalds, die mit ihrem exotischen Spießerkult und ihren ausgefeilten Reinheitsgeboten den Schwerpunkt meiner Forschungsarbeit bilden sollten, waren so wie immer. Sie waren unfreundlich, wortkarg, zutiefst xenophob und ich beschrieb sie genau so. Klare Sache. Keine Eventualitäten. Keine Ratlosigkeit.
Und dann plötzlich diese Begegnung im Innenhof. Ich spürte, dass etwas an ihrem Verhalten anders war, als ich die Haustüre hinter mir schloss und sie aus dem Schatten der Toreinfahrt in den sonnenbeschienenen Innenhof schreiten sah.
Seit meiner Ankunft hatte mich das Wesen der Sebalds über Monate hinweg nachhaltig beeindruckt und mich schließlich dazu bewogen, ihren ausgefeilten Reinheitsritus in den Mittelpunkt meiner Forschung zu stellen. Sie waren nicht die Einzigen, die diesem Kult angehörten, aber doch in ihrer Schmutzverachtung am konsequentesten. Beide verfügten zudem über zwei andere weitverbreitete Lindenauer Tugenden, nämlich ein unerschöpfliches Potential an Unfreundlichkeit und eine ausgewachsene Sprachfaulheit. In keinem Winkel der Welt war ich bis dato auf ein nur annähernd ähnliches Phänomen gestoßen.
Gewiss, ich hätte es spätestens wissen müssen, als sie langsam näher kam, ihre Grübchen verräterisch in der Herbstsonne glänzten und ihre ungewöhnliche Mimik mich zunächst verwirrte, dann aber keinen Zweifel mehr zuließ. Vielleicht hätte ich sogar an diesem Punkt einfach noch umkehren können. Ja, vielleicht hätte ich mich auch da noch umwenden und die zwei Stockwerke zu meiner Wohnungstür hochhasten können. Dort hätte ich dann gewartet, dass dieser viel zu milde Herbsttag an mir vorübergehen möge. Ich hätte diese schon angedeutete ungewohnte Gesichtsbewegung noch als visuellen Irrtum oder Fieberphantasie abgetan. Hätte meine Arbeit zu Ende geschrieben und wäre dann für immer aus Lindenau verschwunden.
Aber ich blieb stehen.
Mitten im Innenhof.
Sah sie langsam auf mich zukommen.
Schritt für Schritt.
Noch heute sehe ich diesen Augenblick in aller Deutlichkeit vor meinen Augen aufleuchten: Ich sehe ihre schwarze Steghose mit Bügelfalte und den lila Rollkragenpulli. Ich stehe nur da, blicke in ihr von der Herbstsonne beschienenes Gesicht. Bemerke, dass sich ihre Mundwinkel eigentümlich nach oben verziehen.
'Ist das ein Lächeln?', schießt es mir durch den Kopf, während sie langsam näher kommt. Die Logik in mir sagt: 'Nein, vollkommen ausgeschlossen. Hier im Haus hat noch niemand gelächelt, geschweige denn gelacht.' Meine Erfahrung aus anderen Winkeln der Welt sagt mir: 'Ja, gewiss, diese verzogene Mimik deutet man allerorts als Lächeln.'
Frau Sebald lächelt also.
Unfassbar!
Doch diese Gesichtsregung ist nicht anders zu deuten.
Und dann höre ich sie auch noch sprechen: "Sie müssen schon entschuldigen, wenn ich Sie nicht grüße, aber ich bin auf dem linken Auge blind." Spricht sie, geht weiter, öffnet die Haustür und verschwindet wenig später in ihrer Wohnung. Man hört nur noch die Sicherheitsschlösser einrasten.
Ich jedoch blieb zurück. Blieb zurück in der Mitte dieses gepflasterten Innenhofes. In der Mitte eines viel zu milden Herbsttages und mochte immer noch nicht glauben, was ich da soeben gesehen und gehört hatte. Seit Beginn meiner ethnographischen Forschungsarbeit hatte sie noch nie gelächelt. Keiner der Hausbewohner hatte dies bisher getan. Ein Lächeln war die mit Abstand unwahrscheinlichste Gefühlsregung in unserer Wehranlage.
Hätte sie doch getobt wie der Mann im Nachbarhaus, geschrien wie die Frau im Erdgeschoss oder einfach nur wie immer geschwiegen. Aber sie lächelte und sprach. Hätte die Erde gebebt, es hätte mich keineswegs in größere Verwirrung gestürzt. So stand ich da und wusste nicht, was dies nun zu bedeuten hatte. Was wollte sie mir damit sagen? Wollte sie mir überhaupt etwas damit sagen? Oder war es nur ein...