Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
1.
Von seinem Platz auf der Regierungsbank bis zum Rednerpult im Plenarsaal des Bundestags sind es für den Bundeskanzler genau sieben Schritte. An jenem Morgen, es ist der 27. Februar 2022, geht Olaf Scholz diese Schritte mit Bedacht. Es ist der 81. Tag seiner Kanzlerschaft und schon jetzt ist klar, dass Scholz ein Kriegskanzler werden wird. Auch er selbst, der erfahrene SPD-Politiker, wird das wohl gewusst haben, als er aufsteht, um seine Ansprache an das Land und das Parlament zu halten. Es ist seine erste große Rede, seit bloß zweieinhalb Flugstunden von Berlin entfernt der Krieg ausbrach. Jetzt bestimmt die Lage in der Ukraine auch über den Fortlauf der deutschen Geschichte mit. Was mag Olaf Scholz in diesem Augenblick gedacht haben? War er nervös? Noch unter Schock?
Bloß drei Tage zuvor, am Donnerstag, hatten die Kämpfe in der Ukraine begonnen, nun, am Sonntag, kommt das deutsche Parlament zu einer Sondersitzung in Berlin zusammen, der Kanzler hat eine Regierungserklärung angekündigt. Eine Fernsehansprache war nicht genug gewesen. Was Scholz nun sagen wird, läutet ein neues Kapitel in der Historie der Bundesrepublik ein. Es ist eine ernsthafte Sicherheitskrise, eine, wie es sie im Land noch nicht gegeben hat.
Im Februar 2022 ist Deutschland in einer neuen Weltlage aufgewacht, die nichts anderes bedeutet als den schlimmsten Krieg auf dem Kontinent seit dem Zweiten Weltkrieg. Das ist die Ausgangslage, als Olaf Scholz an diesem Sonntag aufsteht, nach vorn tritt und sich an die Deutschen wendet. Alles schaut auf ihn: Was wird der Kanzler in dieser entscheidenden Stunde sagen? Welchen Ton wird Scholz vorgeben und wie verhält sich seine Regierung gegenüber dem Aggressor Russland? Selbst bestens vernetzte Politikerinnen und Politiker haben an diesem Sonntag wenig Ahnung, was Scholz verkünden will. Die meisten gehen arglos in die Sitzung, nur einer hat etwas aufgeschnappt und schickt auf Nachfrage kurz vor Beginn eine kryptische SMS: Da kommt was - etwas Großes. Es gehe um die Bundeswehr, Scholz wolle aufrüsten.
Mehr wisse er noch nicht, schreibt er noch, niemand wisse etwas.
Am geheimen Redemanuskript haben sie im Kanzleramt bis zuletzt gefeilt und den Auftritt im Bundestag sorgsam choreographiert. Scholz trägt unter der Reichstagskuppel einen staatsmännisch-schlichten Anzug und eine dezente rote Krawatte, die Redeseiten sind in seine schwarze Kanzlermappe mit dem Bundesadler vorne drauf gelegt worden. Am Pult angekommen klappt Scholz sie jetzt auf, betrachtet den Text noch einmal, nur für einen Moment, und beginnt. Das Wasserglas, das ihm hingestellt wurde, wird er nicht brauchen. Vor Scholz werden zwei Stenographen jedes der 2602 Wörter der Rede mitschreiben und schon nach den ersten Sätzen ist klar: Das Land ist gerade ein anderes geworden.
Scholz sagt: «Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents.» Scholz nennt Russland ein «Unterdrückungsregime», ein Wort, das zuvor kein deutscher Kanzler oder eine Kanzlerin so direkt in den Mund genommen hat. Russland ist spätestens jetzt kein Freund der Bundesrepublik mehr, so viel ist jetzt schon sicher. Zu Putins Angriff sagt Scholz: «Das ist menschenverachtend, das ist völkerrechtswidrig, das ist durch Nichts und Niemanden zu rechtfertigen.»
Die Worte gehen über in einen langanhaltenden Applaus der Parlamentarier im Saal, oben auf der Besuchertribüne tippt der ukrainische Botschafter aufgeregte Zeilen in sein Handy. Was der deutsche Kanzler nun sagt, ein Mann, der sich sonst oft in Floskeln verliert und der kein großer Redner ist, wischt in fünf Minuten Redezeit Gewissheiten aus dreißig Jahren Bundespolitik hinfort. Das ist das Tempo der ersten Tage dieser beginnenden Zeitenwende: ein Epochenbruch im Wimpernschlag.
Scholz fährt fort: «Die himmelschreiende Ungerechtigkeit, der Schmerz der Ukrainerinnen und Ukrainer, sie gehen uns allen sehr nahe.» Er ahne, was an den Küchentischen im Land in diesen Tagen abends besprochen werde. «Viele von uns haben noch die Erzählungen unserer Eltern oder Großeltern im Ohr - Krieg. Und für die Jüngeren ist es kaum fassbar - Krieg in Europa.»
Draußen vor dem Reichstag sind die Menschen in diesen Minuten längst auf den Beinen, seit Stunden marschieren sie, am Ende werden es Hunderttausende sein, die sich zu einer der größten Demonstrationen in der jüngeren deutschen Geschichte formieren. Menschen, die direkt vor dem Parlamentsgebäude entlangziehen und an den Säulen des Brandenburger Tors vorbei, diesem Symbol der Freiheit, mitten im einst geteilten und heute friedlichen Berlin. Sie alle, Männer, Frauen und Kinder, laufen mitten hindurch, sie tragen viele selbstbemalte Schilder und Transparente: Putin, der Kriegsverbrecher, das ist die Botschaft an diesem kalten Vormittag.
Und für viele fühlt es sich noch immer an wie ein schlimmer Traum: Hatte Wladimir Putin, der früher noch als russischer Freund im selben Bundestagsplenum hatte reden dürfen, in dem ihn der Bundeskanzler nun zum Despoten erklärt, wirklich die Ukraine überfallen? Den nach Russland flächenmäßig zweitgrößten Staat Europas? Er hatte. Und damit war das Leben der mehr als 41 Millionen Menschen dort ein anderes: Viele flüchteten in den Westen, viele kamen am Berliner Hauptbahnhof an, mit einem der rettenden Züge aus Polen; nur die Männer durften nicht weg, die Millionen Söhne, Väter, Freunde - sie müssen um ihre Heimat kämpfen. Sie alle sind jetzt Verteidiger ihres Landes, unter Waffen werden sie sich wehren, was es auch koste. So viel ist klar.
Die Wahrheit ist aber auch: Der Krieg war schon lange Realität vieler Menschen in der Ukraine gewesen. Im Osten des Landes nämlich, an der russischen Grenze - nur hatte das in Europa bislang kaum jemanden interessiert. Dort aber, im Donbass zum Beispiel, hatte Russland seit 2014 gekämpft. Zudem hatte es im selben Jahr die Halbinsel Krim annektiert, jenes Gebiet, das wegen seiner Häfen schon immer strategisch wichtig gewesen war für die Großherrscher im Osten. Die Krim? In Deutschland kannten viele vor 2014 ihre geopolitische Bedeutung eher nicht.
Rückblickend dürfte Putin 2014 viel gelernt haben - denn obwohl seine Spezialeinheiten diesen Landesteil der Ukraine einfach entrissen hatten, schritten die Staaten der westlichen Militärallianz, der NATO, nicht ein. Es gab westliche Sanktionen, das ja, aber nichts, was einem Wladimir Putin ernsthaft den Schlaf rauben würde. Das Leben in Europa ging weiter. Und der Krieg verschwand wieder aus den meisten Schlagzeilen. Die Bundesregierung trieb unter Kanzlerin Angela Merkel derweil einen höchst umstrittenen Pipelinedeal mit Russland voran, der russisches Gas günstig direkt nach Deutschland bringen sollte - und der die seit 1991 unabhängige Ukraine, die immer gegen Nord Stream 2 protestiert hatte, weiter vom Energiemarkt und Handel abgeschnitten hätte.
Die Nord Stream 2-Pipeline, die am Ende nie in Betrieb gehen wird, weil der große Krieg dazwischenkommt, gehört zur Vorgeschichte der Rede, die Olaf Scholz schließlich an jenem Sonntag hält.
Genauso wie jene Wochen kurz vor der Invasion, in denen Russland bereits etwa 150.000 Soldaten an den Grenzen der Ukraine zusammengezogen hatte - angeblich zu Übungszwecken. Der ...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.