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Wie kann man die eigene Familie schützen und sich gleichzeitig vor ihr bewahren?
In "Blinde Geister" erzählt Lina Schwenk eine berührende Familiengeschichte von den 1950er-Jahren bis in die Gegenwart. Mit ihrem eindringlichen Romandebüt schreibt sie in eine Zeit hinein, in der drängende Fragen auf ein tiefes Schweigen prallen.
Olivia, die Tochter von Rita und Karl, kennt seit jeher die Angst der Erwachsenen vor einem erneuten Krieg, obwohl seit Jahren Frieden herrscht in Deutschland. Beharrlich überprüft Karl die Speisekammer auf Vorräte, und immer wieder sucht die Familie gemeinsam Zuflucht im Keller, wenn der Vater den Einfall der Russen fürchtet. Für Olivia und ihre Schwester Martha ist es ein Spiel, dem sie sich still fügen, auch weil sie längst wissen, dass den Eltern die Worte für Erklärungen fehlen und das Schweigen nur umso lauter wird, je mehr sie fragen.
"Bald bin ich tot", denkt auch Olivia, als die Unruhe der Eltern schleichend zu ihrer eigenen wird. In ihrer ersten eigenen Wohnung fehlt Olivia der Keller dieser kleine Schutzbunker ihrer Kindheit, der immerhin eins bedeutete: Familienzeit. Die langen Risse, die von den Eltern bis in ihre Generation reichen, erkennt sie erst, als sie später versucht, ihre eigene Tochter vor jenem Bedrohungsgefühl zu schützen. Doch dann kommt der Februar 2022, und das, was zuvor wie ein Phantom wirkte, wird plötzlich erschreckend real.
"Blinde Geister" ist ein vielschichtiger und bewegender Roman, der vor dem Hintergrund deutscher Zeitgeschichte tief verwurzelte Ängste freilegt und mit feinem Gespür das Sonderbare und Entrückte im Menschen ergründet.
lauschte. Es war ganz still. Bis auf das leichte, unregelmäßige Atmen von Rita. Er spürte ihren Atem an der rechten Handfläche. Gestern hatte er seinen Arm mit großer Kraft in die Nähe ihres Gesichtes geschoben. Ein Gesicht noch älter als er selbst. Wenn er die Augen schloss, machte es fast keinen Unterschied. Es erschienen keine flirrenden bunten Punkte, es blieb graudunkel, wie die Decke ihres Zimmers, an die er blickte. Rita trug Gelb und Rot und Weiß. Und manchmal ein hauchdünnes Nachthemd mit violetter Spitze. Wenn er es im Wäschefach sah, faltete er es ordentlich und legte es ganz nach oben.
«Karl», hatte Rita am ersten Tag gefragt, «was machst du hier unten?»
Sie stand über ihn gebeugt, in einer Hand ihren Stock aus weißem Plastik, den sie im Sperrmüll entdeckt hatte. Am oberen Ende besaß er einen runden Pinguinkopf. Pinguine bleiben ihr ganzes Leben zusammen.
In der anderen Hand hielt sie eine Tasse Kaffee.
«Ruf Hilfe», hatte er gesagt, nicht ohne zu lächeln, denn sie hatten schon oft über so eine Lage gescherzt. Immer, wenn er nicht tun wollte, was sie verlangte, kam die Drohung, dass sie ihn liegen lassen würde. Ein Witz, über den niemand lachte, außer sie beide.
«Wer soll denn kommen?», hatte Rita gefragt und ihm den Kaffee nach unten gereicht, von dem er einen großen, zu heißen Schluck nahm. Aber es half, den Schmerz in der Hüfte für einen Moment zu verdrängen.
«Na, der Krankenwagen.» Karl war ärgerlich geworden, als er sah, wie sie sich ihm entgegenbückte. Ihre graubraune Haut war von wuchernden Venen durchzogen, die weich unter seinem Daumen federten, wenn er darüberstrich. Seit er sie kannte, war seine Hand wie von allein zu diesem Geflecht gewandert, das sich mit den Jahren mehr und mehr füllte. Rita klagte häufig, dass ihr der Kaffee darin verloren gehe.
«Wenn du niemanden rufst, lasse ich dich das nächste Mal liegen.» Er flüsterte fast.
Sie hatte gegrinst, geseufzt und sich umgedreht.
Rita bewegte sich leicht, er spürte, dass sich ihre Muskeln anspannten und wieder weicher wurden. Es war wie das Ausklingen der Wellen, nachdem ein Stein ins Wasser gefallen war. Karl wartete sehnsüchtig auf jede einzelne.
Er hatte versucht, sich zu ihr zu drehen, war jedoch nicht aus der Seitenlage gekommen, seine Hüfte war unüberwindbar. Er lag merkwürdig verdreht halb auf dem Teppich, halb auf dem Dielenfußboden. Zumindest sein Oberkörper ruhte auf der dicken Wolle seiner Strickjacke, aber seine Beine schienen im Nichts, die Schwäche hatte sie aufgelöst. Worüber war er gefallen und warum? Er hatte sich große, hohe Schritte antrainiert, sodass er ständig aussah, als würde er durch ein Flussbett waten. Wenn er sich doch zu Rita drehen könnte. Er fühlte ihre Wärme neben sich. Vielleicht war es einer ihrer Scherze. Ihn daran zu erinnern, wie sie es schon hier auf dem Fußboden getan hatten, auch damals halb Teppich, halb Dielen, und wie er danach aufgesprungen war, um ihr eine Decke zu holen.
Er studierte ihren Körper im Geist, seit drei Tagen.
Er atmete tief ein und schob seine Hand noch näher an ihren Atem, ließ die Hoffnung auf die Berührung ihrer Lippen nicht los. So hatte er es vielleicht schon immer gemacht, den letzten Zentimeter zwischen ihnen freien Spielraum gelassen, den Rita immer, ohne zu zögern, gefüllt hatte. Wenn er der Erste war, der zu Boden ging, dann war die Rettung doch ganz bei ihr. Warum lag sie jetzt neben ihm? Sie hatten schon so oft über ihr Ende gesprochen, zusammen überlegt, wie es sein sollte. Einig waren sie sich nie geworden.
Welche drei Sachen nimmst du mit auf eine einsame Insel? Was nimmst du mit auf den Fußboden? Eine Tasse Kaffee und meine Frau. Fehlt noch eins. Zumindest ein Kissen wäre nicht schlecht.
«Ein dickes Buch», hatte Rita prompt gesagt, «ein Feuerzeug und eine Pinzette.»
«Für die Fischgräten?», hatte er gefragt.
«Für deine Nasenhaare», hatte sie geantwortet.
Das war an einem der Tage, an dem Rita zum ersten Mal wieder ganze Sätze sprach. Vor ein paar Jahren, nachdem sie gestürzt war und er ausgerechnet an jenem Abend nicht zu Hause gewesen war. Als er wiederkam, fand er sie auf dem Boden im Bad, unweit der Stelle, an der er jetzt lag. Die Venen in ihrer Haut waren fort gewesen. Er war mit ins Krankenhaus gefahren und hatte ihr schon im Rettungswagen unsanft die Lider geöffnet, um zu sehen, ob da noch ein Stück Rita war. Da war noch ein großes Stück. Schon am Abend hatte sie die Augen selbst wieder aufgemacht. Aber nur Stuss geredet. Erschreckenden Stuss.
Es war Tag drei, das wusste er. Zu Beginn hatte er seine Hand auf den Boden gelegt, und jedes Mal, wenn es wieder heller wurde an der Wohnzimmerdecke, hatte er einen Finger gestreckt. So hatte er schon einmal die Tage gezählt, verschüttet in einer Baracke, das Licht durch einen Spalt zweier Steine.
Von außen kam unerwartet ein Donnern, und Karl erschrak so, dass Rita mit ihm zusammenfuhr. Das war das Ende, irgendwie hatte er es schon immer gewusst.
Es klackerte, und Bohrer und Stimmen ertönten. Oder kamen sie, um sie zu retten? Wurden seine Gedanken erhört? Sein Magen zog sich zusammen, und einen Moment lang konnte er nicht zwischen Freude und Enttäuschung unterscheiden.
Dann erinnerte er sich vage. Versuchte, sich aufzurichten und zu rufen. Jedes einzelne Gelenk an seinem Körper war steif, und die Anziehungskraft der Erde schien größer denn je. Sie war schon in den ganzen letzten Jahren mehr und mehr gewachsen. Da war noch ein Schluck alter Kaffee in der Tasse. Vielleicht konnte er damit seine Stimme waschen.
«Hallo, Hilfe!», rief er. Es klang leise und undeutlich. Karl versuchte sich aufzurichten, ein Geräusch zu machen, aber seine Beine blieben still. Wieder rief er, so laut er konnte: «Auf dem Boden, auf dem Boden liegen wir!»
Sie wollten doch die Fassade streichen lassen. Es war ein Gerüst angemeldet. Im Schatten des Zimmers hörte er, wie sein Haus eingerüstet wurde, um mit neuer Farbe übermalt zu werden. Dumpfe, schwere Schritte zogen direkt an seinem Kopf vorbei. Es waren keine zwei Meter Luftlinie. Und während er dalag und horchte, spürte er nichts, auch den Atem von Rita nicht.
Rita hatte damals so viele Tage Stuss von sich gegeben, dass die Ärztin irgendwann mit einem weißen Bogen Papier auf einem Klemmbrett wiederkam und ihre Augenbrauen zusammenschob. Einen Idiotentest wollte sie machen, und Karl hätte sie beinahe wieder hinausgeschickt. Rita blickte ihn groß an und wiederholte seinen Namen, Karl, Karl, Karl. Die Ärztin hatte gelächelt, was verständlich war, und angefangen, sie Dinge zu fragen.
«Was kaufen Sie normalerweise im Supermarkt ein?»
«Normalerweise, wenn sie nicht Karl ruft?», fragte er dazwischen.
«Psst», machte die Ärztin, «lassen Sie sie mal alleine machen.»
Er ließ Rita machen.
Die sagte: «Ein Pfund Butter.»
«Und was noch?»
«Ein Pfund Butter. Ein Pfund Butter.»
Die Ärztin blieb geduldig. «Und was noch?»
Rita linste zu Karl hinüber. Und da, in ihrem Blick, da hatte er es gesehen. Sie würde bald wiederkommen. Aber sie schaute ihn spitzbübisch an und fragte: «Ein Pfund Butter?»
«Ich kann dir nicht helfen», sagte er und grinste, und in dem Moment grinsten sie alle drei. Die Ärztin hatte ohne weitere Fragen den Zettel vom Klemmbrett genommen und in den Mülleimer fallen lassen. Immer, wenn dies alles durch seinen Kopf wanderte, war Karl sicher, dass das der Moment gewesen war, in dem sie wieder gesund wurde.
Neben ihm rührte Rita sich. Er fühlte ihre kleine Hand über seinen Rücken wandern.
«Liegst du bequem?», fragte er.
Sie stöhnte.
«Was hast du an?», fuhr er fort.
«Mir ist nicht kalt», sagte sie.
Er hörte sie schmunzeln und musste trotz aller Schmerzen lachen.
«Ich hab das leichte Kleid angezogen. Ist schließlich...
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