Prolog
Der 27-jährige Ben Sorglos verbrachte eine unruhige Nacht vom 2. auf den 3. Juni 1967. Das Gedankenkarussell drehte sich immer schneller und wollte nicht anhalten. Er dachte daran, dass er verheiratet war und an sein noch ungeborenes Kind. Er dachte daran, dass er Lehrer werden wollte oder eher musste.
Er konnte kaum atmen und lag leblos im Bett. Er spürte seine Frau neben sich. Sie träumte und schlief unruhig.
Sorglos stand leise auf und ging ans Fenster. Der Blick nach draußen beruhigte ihn nicht. Im Gegenteil. Die Weite des Horizonts ängstigte ihn. Staatsdiener - dabei wollte er doch Künstler werden.
Er dachte an seine Reise nach Afrika, Marokko. An den Haschischkuchen. Ihm war speiübel gewesen und er hatte sich übergeben müssen. Das war mehr als Gedankenkino gewesen, das war Sputnik; wumm, hinauf ins All.
Sorglos wandte sich vom Fenster ab und setzte sich auf einen Stuhl, der neben dem billigen Schlafzimmerschrank stand. Er war alles andere als einverstanden mit den politischen Verhältnissen in Deutschland. Seine aufrechte Gesinnung als Protestant verbot es ihm, dazu gänzlich zu schweigen. Die Verhältnisse zwangen ihn aber, sich anzupassen.
Er würde bald zum ersten Mal an einer Demonstration teilnehmen. Gegen den iranischen Herrscher, den Massenmörder. Sorglos seufzte gedankenschwer. Sorglos, Student der Germanistik und Mitglied der Evangelischen Studentengemeinde, alles andere als ein Scharfmacher, nicht einmal ein Mitläufer. Einer, der sich lediglich eine Demonstration anschauen wollte.
Der 3. Juni 1967 war für deutsche Verhältnisse relativ warm. Im Berliner Westteil brodelte es. Die Studenten waren auf Protest aus - Krawall, Happening. Endlich sollte mit dem braunen Erbe aufgeräumt werden. Die Weltrevolution lag in der Luft. Die Opposition der Jungen formierte sich außerhalb des institutionellen Rahmens. Die APO stand in den Startlöchern.
Der iranische Herrscher war zu Gast in der ehemaligen Reichshauptstadt. Für den Westen war er ein willkommener Bündnisgenosse. Die Linken sahen in ihm einen Despoten und Tyrannen, der sein Volk ausblutete. Er war jemand, der dem Imperialismus jede notwendige Gefälligkeit erwies, solange es ihm gut dabei ging. Und das tat es - da musste man nur die Berichte in den Magazinen lesen und die Hochglanzbilder anschauen.
Vor dem Schöneberger Rathaus war am frühen Nachmittag einiges los. Der Herrscher Persiens sollte sich in das Goldene Buch der Stadt Berlin eintragen. Die Gegner hatten sich versammelt. Viele Studenten hatten nichts anderes zu tun. Sie warteten auf die Ankunft des Despoten und seiner Gattin. Endlich sollte es losgehen. Politisierung und der Versuch etwas gegen die tägliche Langeweile zu unternehmen, vermischten sich.
Die Schutzpolizisten klatschten ihre Schlagstöcke rhythmisch auf die Handfläche. Auch sie warteten darauf, dass etwas passierte. Ihre Vorgesetzten hatten sie scharfgemacht. Mit aller Härte gegen die Krawallbrüder vorgehen, um das internationale Ansehen Deutschlands zu retten. Die Polizisten waren ehemalige Offiziere der Wehrmacht. Sie verstanden sich als paramilitärische Gruppe. Der Feind stand im Osten. Alle, die die Kommunisten unterstützten, mussten bekämpft werden.
Kurz vor der Ankunft des iranischen Herrschers fahren zwei große doppelstöckige Busse vor. Die Demonstranten kommen aus dem Staunen nicht mehr raus. Was ist das denn? Hundert Jubelperser steigen aus. Was wollen die denn hier? Sie sind Agenten des iranischen Geheimdienstes. Die Agenten zeigen: Passt auf, gleich gibt's Ärger. Im Iran haben sie Tausende von Regimegegnern gefoltert und ermordet.
Die Jubelperser beziehen Stellung. Sie sammeln sich vor dem Rathaus. Die Polizei hat ihnen dort eine Fläche freigehalten. Ein Schupo salutiert vor dem Alphageheimdienstmann. Die Iraner halten Jubeltransparente für den Herrscher Irans in die Höhe, die auf langen und soliden Eisenstangen und Holzlatten befestigt sind. »Hoch lebe unser Herrscher!«, rufen die Perser und schwenken Transparente mit stilisierten Bildern des Herrscherpaars.
»Freiheit für Persien«, antworten die Studenten lautstark. Zwischen den Iranern und den deutschen Gegnern gibt es eine acht Meter breite Zone, die von Hamburger Gittern gesichert wird. Die Metallbarrieren sind knapp über einen Meter hoch und rot-weiß gestreift. Plötzlich: Der Herrscher des Irans fährt in einem Mercedes 600 vor, flankiert von Begleitfahrzeugen. Leibwächter führen ihn und seine Frau in das Schöneberger Rathaus. Die Stimmung ist auf dem Siedepunkt. Die Sprechchöre der beiden Gruppen werden immer lauter und aggressiver.
Die iranischen Geheimagenten springen über die Absperrung und überqueren die neutrale Zone. Sie zücken Totschläger und holen mit den Transparentstangen aus. Die deutschen Demonstranten stecken schlimme Prügel ein. Die Geheimdienstleute haben das Szenario immer wieder an iranischen Oppositionellen und Gefangenen geübt. Einige waren dabei draufgegangen. Sie gehen brutal vor, ohne Mitleid. Studenten bluten. Studenten liegen am Boden. Schmerzensschreie hallen durch die Luft. Die deutsche Polizei unternimmt nichts. Einige Schupos können ihr Grinsen nicht verbergen. Endlich kriegen die Radikalinskis das, was sie verdienen. Eins aufs Maul. Endlich setzt sich die Berliner Polizei in Bewegung. Die Polizisten interessieren sich nur für die Gegner des persischen Herrschers. Sie bedrohen sie mit Schlagstöcken. Die Studenten werden verhaftet und abgeführt. Ihnen werden schwerwiegende Straftatbestände vorgehalten, z. B. Widerstand gegen die Staatsgewalt. Ein Iraner holt mit seiner Stange aus und lässt sie immer wieder auf den am Boden liegenden Studenten niedersausen. Der Student ist verletzt, am Ende. Ein Polizist klopft dem Geheimdienstiraner anerkennend auf den Rücken. Die Demonstranten ziehen ab. Für den Moment haben sie genug. Aber sie geben sich nicht geschlagen. Sie sind trotzig wie kleine Kinder, die den Frack vollgekriegt haben. »Wir treffen uns heute Abend vor der Oper!«, macht die Runde.
Die bundesdeutsche Presse ist begeistert. Schlagzeilen, Neuigkeiten über die linken Chaoten und anarchische Zustände verkaufen sich gut. Hysterie in der Bevölkerung hilft dem Absatz.
Die Journalisten wissen von den Plänen der Studenten am Abend vor der Oper. Am Mittag des 3. Juni sagt Bernd Herzl, Leiter der Presse- und Informationsstelle des Senats, einem befreundeten Journalisten: »Na, da können diese linken Studenten sich ja auf etwas gefasst machen: Heute gibt es richtig Dresche.«
Charly Grad nahm am frühen Nachmittag des 3. Juni 1967 einen Schluck Filterkaffee. Der Vierziger stand in der kleinen Küche seiner Wohnung und sinnierte. Das Leben war nicht einfach, denn er lebte auf einem schmalen Grat.
Als informeller Mitarbeiter Ottfried Wohl des Ministeriums für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik und Mitglied der Westberliner Polizei lebte er in ständiger Angst, aufzufliegen. Dabei war er vom Kommunismus überzeugt. Genauso verhasst wie die Kapitalisten waren ihm die »linken« Studenten, die für ihn nichts mit Kommunismus zu tun hatten. Dieses Pack breitete sich wie Parasiten in Westeuropa aus. Die Studentenrevolten halfen aber, den Kapitalismus zu schwächen.
Grad streichelte eine seiner Pistolen. Er liebte Waffen. Ein Schluck Kaffee machte ihn noch munterer. Er hatte einen langen Abend vor sich. Dann sollte er das Objekt Berliner Oper sichern und als ziviler Greifer agieren. Manchmal galt es, das Undenkbare zu denken . Was wäre wenn .? Die Stimmung in Westberlin war aggressiv. Wie würde sich alles entwickeln, wenn es Verletzte oder gar Tote gab? Würde sich der linke Protest wie ein Flächenbrand über Westdeutschland ausbreiten? Wäre das kapitalistische System dadurch gefährdet?
Er bedauerte, dieses Thema nicht beim letzten Treffen mit seinem Führungsoffizier besprochen zu haben. Grad seufzte. Es musste doch einen Weg geben, die Imperialisten mit ihren eigenen Waffen zu schlagen .
Der Sommerabend des 3. Juni 1967 ist lau. Über 3.000 Berliner haben sich vor der Oper versammelt. Happening, endlich ist was los. Tod der langweiligen Konsumgesellschaft. Berlin ist wieder wichtig. In der Oper wird eine Galaaufführung von Mozarts Zauberflöte gegeben.
400 Demonstranten haben sich unter die Schaulustigen gemischt. Einige haben sich Papiertüten mit Karikaturen des iranischen Kaiserpaars über den Kopf gezogen. Der Herrscher sieht darauf übel aus.
Die Atmosphäre vor der Oper heizt sich auf. Plötzlich fährt eine Ente mit ein paar Clowns der Kommune KB, die das Kaiserpaar mit übergestülpten Papiertüten mimen, an den Demonstranten und Schaulustigen vorbei. Grölender Jubel ertönt. Andere schütteln empört den Kopf.
Die Agenten des iranischen Geheimdienstes lassen sich nicht unterkriegen und jubeln. »Hurra«, »Lang lebe der Kaiser«. Die Papiertüten skandieren »Mörder, Mörder«. Iraner und deutsche Studenten beschimpfen sich. Die Perser fackeln nicht lange. Sie schlagen mit Holzknüppeln und Totschlägern kräftig zu. Die Linken schmeißen Tomaten, Milchtüten, verfaulte Eier und Rauchkerzen. Daraufhin greift die Berliner Polizei ein. Greiftrupps machen Jagd auf die Rädelsführer der Demonstranten.
Der Gast aus dem Iran fährt vor. Die Stimmung ist auf dem Siedepunkt. Eier, Farbbeutel und Steine fliegen. Der Herrscher Persiens hat es eilig. Er flieht vom Wagen in die Oper. Er rettet seinen sündhaft teuren Anzug.
20.04 Uhr: Die Aktion Füchse jagen beginnt. Ohne Vorwarnung springen zivile und uniformierte Polizisten über...