Schweitzer Fachinformationen
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Friederike saß, wie fast immer in letzter Zeit, mit dem Rücken zum großen Wohnzimmerfenster, das auf den Balkon ging; ihre schmal gewordene Gestalt beinahe reglos, dabei erstaunlich aufrecht; die Beine hatte sie waagrecht ausgestreckt und die Füße, in dicke braune Wollsocken verpackt, auf einen zweiten Stuhl gebettet, so dass Ober- und Unterkörper einen rechten Winkel bildeten; wie die Zeiger einer Uhr, dachte Jacques einmal mehr, die stehengeblieben war auf Viertel nach zwölf. Das Bild hatte sich festgesetzt in seinem Kopf; ausgerechnet Kathrin hatte ihn darauf gebracht bei ihrem überraschenden Besuch in Saanau Ende November - eine knappe Stunde nur war sie da gewesen, auf der Durchreise von Zürich nach Genf, wo sie fürs Radio über irgendeine Ausstellungseröffnung berichtete; ihr strenges Gesicht blass und angespannt unter den aschblonden Locken, der dunkelblaue Satinstoff ihres Hosenanzugs zunehmend dichter gesprenkelt mit winzigen Hautfetzen, die sie sich ununterbrochen von den Fingern pulte; als hätte Friederike die ihr zugemessene Frist gleichsam unbemerkt überschritten, hatte Kathrin angefügt und ihre Mutter kaum aus den Augen gelassen, als könne sie die Wandlung nicht fassen, die allerdings, dachte Jacques, weniger Friederike vollzogen hatte als vielmehr Kathrin selbst, ihre rätselhafte Tochter, die seither jeden zweiten Tag anrief; einfach so, ohne besonderen Anlass, nur um nachzufragen, ob und wie sie zurechtkamen.
Es war der 30. Dezember 2013. Auf dem Couchtisch stand noch das grasgrüne Plastikbäumchen, das Jacques kurz entschlossen anstelle der Nordmanntanne besorgt hatte, für 25 Franken samt integrierter wechselfarbiger LED-Beleuchtung, die sie jeweils nach der Tagesschau für eine Viertelstunde anmachten. Jacques löschte die Deckenlampe, setzte sich neben Friederike auf das Sofa und stimmte eines der Weihnachtslieder an, die er halbwegs auswendig konnte; Es ist ein Ros entsprungen, O Tannenbaum oder O du fröhliche, laut und deutlich, damit sie es sicher hörte. Wenn sie e-inen guten Tag hatte, fiel Friederike ein, und sie sangen zweimal die erste Strophe, bevor sie sich auf den Weg machten ins Bad; Jacques hielt ihren rechten Arm, und mit der linken Hand stützte Friederike sich an der Zimmerwand ab, den Blick fest auf den Parkettboden gerichtet, damit ihr nicht schwindlig wurde.
Nur noch selten bat sie ihn, eine Bachkantate aufzulegen oder die große Messe in c-moll von Mozart, die sie zuletzt im Kirchenchor gesungen hatten, bevor sie beide austraten, weil es einfach keinen Sinn mehr machte; das war an Weihnachten vor drei Jahren gewesen. Friederike wollte nicht darauf warten, bis der Chorleiter ihr sagte, was sie genau wusste, dass ihr kräftiger, heller Sopran - sogar die Königin der Nacht hatte sie beherrscht - brüchig geworden war und die Töne ihr um Nuancen zu tief gerieten oder zu hoch. Jacques hielt sich selber für komplett unmusikalisch; er hatte nur Friederike zuliebe und, nach Absprache mit dem Chorleiter, nur die einfachsten Passagen mitgesungen, dankbar, dass es etwas gab, womit er ihr eine Freude machen konnte.
Zweiundzwanzig nach zehn; Jacques sprach halblaut vor sich hin und warf einen Blick auf das kompakte kleine Gerät auf der Küchenablage, das Johannes, der ältere der beiden Söhne, ihnen zu Weihnachten geschenkt hatte; ein Hochleistungsweltempfänger mit integriertem Wecker: 10:22, er hatte genau richtig geschätzt, er war im Plan. Wie jeden Montagmorgen hatte er sämtliche Vorräte überprüft; Lauch und Wirz mussten verwertet werden, ein Stück Appenzellerkäse war schimmlig geworden unter der Plastikfolie; er hatte Schimmel und Rinde entfernt und den Rest mit wenigen Bissen vertilgt, obwohl sie eben erst gefrühstückt hatten; was wegmusste, musste weg; essen konnte er immer, ein Reflex, der ihm geblieben war aus seinen Kindertagen.
Es war angenehm warm in der Wohnung; allzu warm, wie ihre längst erwachsenen Kinder befanden, unabhängig voneinander und in seltener Einmütigkeit; als hätten sie sich abgesprochen, zogen Kathrin, Johannes und Sebastian, kaum hatten sie die Wohnung betreten, nicht nur ihre Mäntel, Mützen und Winterschuhe aus, sondern auch ihre Socken, Woll- und Kaschmirpullover, bevor sie entnervt die Fenster aufrissen, damit wenigstens ein bisschen frische Luft hereinkam, während ihre eigenen Kinder sich je nach Alter in Unterhose und Leibchen auf die beiden Gymnastikbälle stürzten oder sich halbnackt im Büro um den Computer scharten.
Die meisten Weihnachtsbesuche lagen hinter ihnen; Johannes war am Stephanstag da gewesen mit seiner Familie, und vorgestern Sebastian, ohne Simona und die Mädchen, die alle krank waren; heute Nachmittag wollte Kathrin vorbeikommen, mit ihren beiden Jüngsten wahrscheinlich, Mara und Frédéric; ihr Mann Remo war geschäftlich unterwegs, und Kathrin hatte extra ein Auto organisiert, um endlich jene Sachen mitzunehmen, die Friederike vor Jahren schon für sie auf die Seite gelegt hatte; Schmuck, Bettwäsche und Tischtücher aus reinem Leinen, die noch aus der Aussteuer ihrer eigenen Mutter stammten; wer hätte gedacht, dass Kathrin sich je für so etwas interessierte.
Der Himmel war bedeckt; auf dem Rasen und auf den Dächern der umliegenden Häuser lag eine dünne Schicht Neuschnee. Die Stille davor, diese ganz besondere Stille, als hielte die Welt den Atem an, bevor der Schnee sich aus den Wolken löste, hatte Jacques erwachen lassen mitten in der Nacht. Vielleicht war auch der Husten daran schuld gewesen; zumindest hatte er, kaum erwacht, heftig gehustet, also war er aufgestanden und ins Wohnzimmer gegangen, um zu inhalieren, wie der Arzt es ihm nahegelegt hatte; mit einer Bronchitis sei nicht zu spaßen in seinem Alter. Jacques hatte abgewinkt; keine Sorge, Unkraut verdirbt nicht so schnell, und dabei wie aus Versehen auf das bleiche, behaarte Stück Bauch gestarrt, das zwischen zwei Knöpfen von Dr. Bez-giavs Hemd hervorquoll. Er war selten richtig krank - eigentlich nie, sagte er sich; im Mai 1983, mit sechsundfünfzig, hatte ihn eine Knieoperation für eine gute Woche ins Spital gezwungen (und durch einen dummen Zufall - das Morphium hatte ihm die Kontrolle entzogen über das Geschehen am Krankenbett - alles ans Licht gezerrt, was er zwanzig Jahre lang mehr oder minder mit sich selbst ausgemacht hatte; seine ganze, akribisch austarierte Existenz zwischen Friederike und Helena, denen er sich gleichermaßen verpflichtet fühlte); davon abgesehen hatte er keinen einzigen Tag seines Erwachsenenlebens im Bett verbracht.
Sie haben recht, sagte Dr. Bezgiav, der seinem Blick gefolgt war, ich bin übergewichtig, BMI achtundzwanzigkommadrei, und hoffnungslos süchtig, jahrelanger Coca-Cola-Abusus, und schauen Sie nur, meine Zähne - er riss den Mund auf -, ungefähr doppelt so gelb wie Ihr Urin, wenn Sie zuviel Vitamin B einnehmen. Er lachte, hievte seinen massigen Körper mit erstaunlicher Eleganz aus dem Bürostuhl und rieb sich die fast dreieckigen, leuchtend hellblauen Augen, die Jacques jedes Mal an einen Schlittenhund denken ließen, der fremde Last über arktische Schneefelder zog; dann suchte er im Wandschrank die Medikamente heraus, die er Jacques gleich mitgab, ebenso seine Handynummer für den Notfall; er sei jederzeit zu erreichen, auch nachts und an den Feiertagen, die ihm wenig bedeuteten, auch wenn er froh war um die kleine Zäsur, das Innehalten zwischen den Jahren.
Timur Bezgiav war siebenundreißig; ein großer, breitschultriger Mann mit hohen Wangenknochen und dichtem, dunklem Haar; er hatte sein Medizinstudium noch nicht abgeschlossen, als er im Frühsommer 2001 in Grozny auf offener Straße angeschossen wurde. Sein Vater, in Ostkasachstan in der Verbannung geboren wie alle Tschetschenen seiner Generation, hatte im Stadtzentrum ein kleines Elektrogeschäft geführt, bis er im September 1999, zu Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs, eines Abends nicht mehr nach Hause zurückkehrte; Ruzlan, Timurs einziger Bruder, hatte sich wenig später den militanten Separatisten angeschlossen, die versteckt in den Bergen ihre Trainingscamps abhielten; von beiden gab es keinerlei Nachricht. Sobald er keine Krücken mehr brauchte, packte Timur Bezgiav seinen hellbraunen Rollkoffer und schrieb seiner Mutter, die im Nebenzimmer schlief, einen kurzen Brief, in dem er sie um Verzeihung bat für das, was er ihr antat und was ihm unvermeidlich schien. Er hatte die Hälfte ihrer Ersparnisse an sich genommen, die er ihr zehnfach zurückzahlen würde, wenn er erst fertig studiert und irgendwo eine feste Anstellung hätte. Morgens um drei schlich er sich aus dem Zimmer, legte Brief und Hausschlüssel auf den Küchentisch und verließ die Wohnung. Es war eine laue, fast tropisch warme Julinacht, so dass er schwitzte im viel zu engen, abgewetzten Ledermantel seines Vaters, in den er sich gezwängt hatte, einer plötzlichen Gefühlsaufwallung nachgebend, als er ihn in der dunklen Garderobe dahängen sah wie ein Stück Haut. Drei Tage später erreichte er den länd-lichen Vorort im Südwesten von Moskau, wo Zeinep wohnte, eine entfernte Cousine väterlicherseits, deren Adresse und Telefonnummer er auf dem Weg zum Busbahnhof in der Manteltasche gefunden hatte.
Am späten Vormittag des 11. September landete er mit einer Maschine der Aeroflot in Zürich-Kloten; noch auf dem Flughafen ersuchte er um Asyl, den rechten Oberschenkel mit der schlecht verheilten Schusswunde entblößend, die russische Soldaten ihm zugefügt hätten; in ganz Russland, sagte er, würden Männer wie er, denen man die kaukasische Herkunft von weitem ansah und, sobald sie den...
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