Schweitzer Fachinformationen
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Es hat sich wenig verändert. Der einzige Unterschied ist, dass vor zehn Jahren mein großer Bruder Leo noch neben mir auf dem Feld stand und in die leuchtenden Fenster unseres Hauses starrte. An den zu guten Tagen, die für unsere Mutter Clara den Morgen zur Nacht und die Nacht zu einem Vollrausch werden ließen, wurden wir zwischen den Getreidehalmen unsichtbar, die der Wind wie Wellen zum Wogen brachte. Wir wussten, dass das Haus voller Menschen war und Clara am nächsten Morgen Schmerztabletten in Wellnesswasser mit Pfirsichgeschmack auflösen und sich für das Chaos entschuldigen würde, das sie in unseren Zimmern hinterlassen hatten.
Es hat sich wenig verändert. Das Drama folgt Leo wie sein Hund, den ich ins Tierheim bringen musste, weil zu viele Flöhe in seinem Fell lebten. Immer wieder schleicht sich mein Bruder heran. In den zehn Jahren, die er verschwunden war, flutete er meine Gedanken, als er vor ein paar Wochen zurückkam, floss das Wasser in seine Lungen. Sein Gesicht schimmerte blau, lila, grün. Brandwunden überzogen seinen Rücken wie Masern. Die Rippen auf der linken Brustkorbseite waren zersplittert. Seine schwarzen Locken, an denen ich als Kind gezogen habe und die alle bewunderten, hatte er abrasiert. Sie wachsen nur langsam nach. Mittlerweile ist er fast achtundzwanzig, die vielen Jahre auf der Straße haben Spuren in seinem Gesicht hinterlassen: Auf der Stirn sind Falten entstanden, viele seiner Zähne wackeln. Die Ärztin gibt sich Mühe und hat ebenso tiefe Augenringe wie ich. Immer wieder überprüft sie seine Vitalwerte, immer wieder sagt sie: »Mensch, der Junge ist echt zach, gell?«
Es hat sich wenig verändert. Eisenstein besteht aus ordentlich bepflanzten Vorgärten und schlecht laufenden Berghotels. Die Winter sind milder geworden. Trotzdem klaftert der Schnee bungalowhoch auf den Gipfeln. Auf Spaziergängen hört man es knallen und krachen, kleine Lawinen reißen Geröll und marodes Holz mit sich. Vor zehntausend Jahren schmolzen hier die letzten Eismassen vom Großen Arber und flossen als Gletscher ins Tal. Nur wenige Pflanzenarten überstanden die Erwärmung auf Kälteinseln im Wärmemeer, wie mein Vater es uns einmal erklärt hatte. Ich habe diese Beschreibung immer gemocht, macht sie das Dorf doch zu einem Ort, der potenziell vom Aussterben bedroht ist. Aus dem gleichen Grund sympathisierte ich als Jugendliche mit sich ausweitenden Ozonlöchern, heißer werdenden Sommern, dem demografischen Wandel, der ganze bayerische Landstriche veröden ließ.
Es hat sich wenig verändert. Tumbe Männer verbrennen Laub und Amazon-Kartons in ihren Feuerschalen. Sie grillen selbst erschossenes Wildschwein und interessieren sich nicht für die Blicke einer jungen Frau aus der Stadt. Sie ignorieren mich wie die Kälte, hacken in Muskelshirts Holz und entblößen ihre Tribals. Manche von ihnen müssten mich noch kennen, aber als ich grüße, tun sie so, als wäre ich unsichtbar. Hier redet man nicht mit Weggezogenen. Lieber zieht man Zäune um seine Grundstücke oder lässt blickdichte Hecken wachsen.
Es hat sich wenig verändert. Hinter der Grenze zu Tschechien, etwa eine Autostunde entfernt, liegt Bayerns Hinterhof, der große Markt von Folmava. Auf den Ladentischen fliegender Stände liegen Plastikspielzeug, Räucherstäbchen und billige Handys aus. An der Straße nach dem Grenzposten reihen sich Nachtclubs und Casinos aneinander, vor einer Großtankstelle parken Autos mit deutschen Kennzeichen. Alles, was in den Kur- und Urlaubsorten von den Straßen verschwunden ist, lässt sich hier inmitten der Wohnhäuser finden. Was 1944 die Panzerschokolade war, ersetzt seit 2007 den Griechen das Koks und noch länger der bayerischen Landjugend die Metropole. Mit zehn aßen die Jungs Ingwerbonbons und Pistazienkekse, bis ihre Münder brannten und die Ohren kribbelten. Mit vierzehn brachte Leo, frisch gewaschen und mit Bianchi-Trikot bekleidet, eingerollte Päckchen Crystal Meth im Oberrohr seines Rennrads aus Folmava mit. Die halbe Schule kaufte bei ihm: die Linksjugend mit ihren letzten lebenden Emos, die Landjugend mit zu Hahnenkämmen gegelten Robbie-Williams-Haarschnitten. Jungs in Jogginghosen und Springerstiefeln, Nerds mit Zöpfen, riesigen Rucksäcken und zu langen Fingernägeln, die auf Blicke der schönen Mädchen aus der Raucherecke hofften. Ihnen ging es nicht um ein kalkuliertes Wirkungsfeuerwerk einzelner Substanzen wie den Großstadtjugendlichen, die mit Sorgfalt nach der idealen Keta-Koks-Kombo suchten, sondern um einfaches Wegballern: Rausch, Betäubung, Zerstörung. Dabei halfen Rum-Cola, Wodka-O, Erdbeer- und Apfelschnaps in Pappbechern, das gemeinsame Vorglühen auf zertretenen Rasenflächen mit dem Rücken an den Bierwagen für Scheunenfest oder Schaumparty. Manchmal fand ich Leo nach so einer Nacht bewusstlos in einem Vorgarten oder im Park unter einer Sprinkleranlage, die den Rasen benetzte. Er schlief seinen Rausch aus. Oft saß er auch bei den Männern, die vor dem Bahnhof schliefen, und trank mit ihnen Bier, das er kastenweise für sie kaufte. Als ich aufhörte, Zöpfe zu tragen, anfing, mir die Haare pink zu färben und mit meinen Freundinnen Röcke und Piercings zu tauschen, saß er immer noch auf einer Bank am Gleis, als wartete er auf einen verspäteten Zug. Kurz bevor er verschwand, sah ich ihn vor dem Supermarkt herumlungern, mit roten Augen und zerfetzten Schuhen. Er war gerade erst aus Russland zurückgekehrt, aus der letzten intensivpädagogischen Maßnahme, die meinen Eltern noch eingefallen war. In jeder Hand hielt er eine Plastiktüte. In seinem Mundwinkel steckte eine abgebrannte Kippe. Ich hoffte, dass er unsere Gruppe nicht wahrnahm, als wir uns umdrehten und wegliefen. Die anderen kichernd und aufgekratzt, ich mit einem schweren Stein im Magen.
Es hat sich wenig verändert. Wenn Leo mich anruft, befiehlt er mir, sofort ins Krankenhaus zu kommen. Er fühle sich einsam und ich sei schließlich alles, was er noch habe. Und er sagt »Nora«, und ich hoffe, dass er übertreibt und es längst nicht so schlimm um ihn steht, wie er tut. Aber natürlich steige ich trotzdem in den Zug und fahre zur Klinik. Und wenn ich ins Zimmer komme, sagt Leo stolz: »Dieser Kroschka da wird mal Professorin!«, und die Pfleger, die damit beschäftigt sind, Schläuche auszuwechseln, drehen sich um und lächeln. »Reg dich nicht auf, ist doch alles schick«, sagen sie.
Es hat sich wenig verändert. Der einzige Unterschied ist, dass vor zehn Jahren mein großer Bruder Leo noch neben mir auf dem Feld stand und in die leuchtenden Fenster unseres Hauses starrte. Wenn draußen die Flüsse anschwollen und das Schneewasser mit den Gebirgsbächen hinunter ins Tal strömte, begann Claras Körper Tränen zu produzieren, die als Rinnsale aus ihren Augen flossen. Ich löste ihr Schmerztabletten in Wellnesswasser mit Pfirsichgeschmack auf, entschuldigte mich für das Chaos, das unsere dreckigen Schuhe auf dem Fischgrätenparkett hinterließen. Wir schlugen die Haustür hinter uns zu, liefen über den Marktplatz, und Leo steckte in die Taschen, was sich im Vorbeigehen mitnehmen ließ. Im Bus frühstückten wir Heidelbeeren. Mit violett verfärbten Fingern flocht ich Leo Zöpfchen. Seine Haare verfilzten im Nacken, auf seinem Lieblingspullover stand unter einem Bild von Britney Spears »Rebel without a cause«. Wir fuhren von Dorf zu Dorf, schwammen im Arbersee von Insel zu Insel, liefen den Wolkenschatten nach, die über die Felder zogen. Leo und ich haben uns immer alles aufgeteilt: Ich kochte Suppen, Kaffee, wusch die Wäsche, wischte den Staub von den Böden und die Wimperntusche von Claras Gesicht. Leo zertrümmerte Fenster und Erwartungen, bemalte Wände, Autos, Güterzüge. Alles ging seinen Gang. Leo zog zum ersten Mal selbst eine Nase in der Werkstatt eines depressiven Glasmachers und kam glücksselig zurück. Schnell suchte er nach der perfekten Route nach Tschechien, die Geldscheine knisterten bald in seinen Hosentaschen. Seine Stammkunden kauften bei ihm Crystal, um einen gut bezahlten Job effektiver zu erledigen, den sie hassten, um genug Geld zu verdienen, um Crystal zu kaufen. Oder sie brauchten den Stoff für das gnadenlose zweite Staatsexamen, für Mädelsabende und lange Nächte am Feuer in den leerstehenden Glashütten, die einst den Wohlstand der Region sicherten. Wir wuchsen aus den Baggy Pants heraus, in die Skinny Jeans hinein, Leo blieb versetzungsgefährdet, ich schrieb eine Eins mit Sternchen nach der anderen. Die Mädchen mit den bunten Nägeln und glänzenden Lippen, mit denen wir auf Parkhausdächern in Cham oder Deggendorf rumhingen, wurden reihenweise abgeschoben, nach Moldawien oder in den Kosovo, andere Mädchen rückten an ihre Stelle.
Es hat sich wenig verändert. Tumbe Männer trimmen mit abweisenden Gesichtern die Hecken in ihren Vorgärten. Die meisten von ihnen haben ihre Drogenphase längst hinter sich. Andere hängen immer noch drin und fahren jeden Freitag nach der Arbeit über die Grenze. Ich weiß nicht, was sie davon haben, aber ich kann es mir vorstellen, wenn ich ihnen beim Holzmachen zusehe. Wie am Fließband zerbrechen sie Reisig, spalten die Scheite, zerkleinern Baumstämme mit einer Kettensäge, schleppen den Holzkorb ins Haus. Die Hecken und Kinder wachsen ihnen über den Kopf. Der Schnee kleistert ihre Häuser zu wie Bauschaum. Sie haben immer zu tun und würdigen mich keines Blickes. Nur die Natur strahlt mich an, ein weißer Himmel will beachtet werden. An den zu guten Tagen, die für Clara den Morgen zur Nacht und die Nacht zu einem Vollrausch werden ließen, wurden wir zwischen den Getreidehalmen unsichtbar, die der Wind wie Wellen zum Wogen brachte. Die Fenster unseres Hauses leuchteten zu uns herüber. Die Straße war voller Autos mit ortsfremden...
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