Schweitzer Fachinformationen
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Anna brauchte drei Tage, um sich in dem Haus einzurichten. Ihre Bücher verstaute sie in den Regalen im Arbeitszimmer und im kleinen Wohnzimmer; die großformatigen Mappen mit den Karten legte sie auf den Küchentisch, den sie als Ablagetisch ins Arbeitszimmer geschoben hatte. Am zweiten Tag regnete es, und sie nutzte die Zeit, um den Laptop und den Drucker anzuschließen, die Kartenmappen chronologisch zu ordnen und das Haus genauer unter die Lupe zu nehmen. Es hatte sogar einen Speicher, zu dem eine ausklappbare Holztreppe führte. Aber offenbar war dieser Speicher eher als Abstellraum für Koffer gedacht, denn er konnte nicht ausreichend hoch sein, dass man darin stehen konnte. Sie brauchte diesen Raum ohnehin nicht. Und es gab ja noch den Keller.
Aber als sie die Tür, die vom Flur nach unten führte, öffnete, reizte es sie wenig, die schmale Treppe hinunterzusteigen. Die schwache Glühbirne an der Kellerdecke erzeugte weniger Licht als vielmehr an den Wänden tanzende Schatten, und es roch nach Morast und Moder. Anna beschloss, ihre Lebensmittelvorräte und die Weißweinflaschen lieber in den Küchenschränken unterzubringen. Sie musste ihren kleinen Vorrat an Flaschen nicht in den kühlen Keller schaffen. Ohnehin trank Anna sehr mäßig. Eine Flasche reichte für eine Woche. Anke Kück hatte veranlasst, dass gleich am ersten Tag ein Getränkelieferant kam und mehrere Kästen mit Mineralwasser ins Haus schleppte. Auch die fanden Platz in der Küche. Für die Aufbewahrung von Vorräten müsste sie also nicht extra in den Keller hinunter. Anna schloss die Kellertür energisch. Keller, nein danke!
Am zweiten Tag tauchte Anke Kück mit einem selbst gebackenen Streuselkuchen bei ihr auf. Glücklicherweise hatte Anna in weiser Voraussicht ihre Kaffeemaschine aus Hannover mitgebracht. In der Küche gab es lediglich einen Filteraufsatz und eine bauchige Kaffeekanne, auf die man diesen soliden Keramikaufsatz stellte.
Sie setzten sich ins Wohnzimmer, in das der von Regenwolken bedeckte Himmel kaum Tageslicht hineindringen ließ und alle Farben dämpfte. Anna nutzte den Besuch ihrer Vermieterin und befragte sie zur Geschichte des Ortes, zu seinen Bewohnern und zu dem Moor, von dem sie bei ihrer ersten Begegnung erzählt hatte, dort würde es spuken.
Anke Kück winkte ab. »Ach, wissen Sie, ich weiß nicht so viel darüber. Da sollten Sie andere wie Pastor Burmeister befragen. Und spuken? Na ja, es gibt ein paar saftige Gruselgeschichten, aber ich glaube eher, dass manch einer im Suff gemeint hat, im Moornebel irgendwelche Geiser zu sehen. Ich persönlich halte da nicht viel von.«
Erneut fiel Anna auf, dass der Redefluss ihrer Vermieterin um manche Themen einen Bogen machte. Auch ihr Interesse an Annas Leben und Arbeit hielt sich in Grenzen.
»Ach, Kunst und Geschichte haben Sie studiert, ist ja spannend«, kommentierte sie Annas kurze Angaben zu ihrer Biographie. »Und geschieden und kinderlos sind Sie? Das ist aber schade. Unser Sohn lebt zwar auch nicht mehr hier, aber er hat immerhin drei Kinder und arbeitet in Bremen als Automechaniker in einer großen Werkstatt. Unsere Enkel sind jetzt zehn, sieben und drei Jahre alt, alles Jungs, die aber viel zu selten hierherkommen .«
Nach knapp anderthalb Stunden weiteren Geplauders verabschiedete sich Anke Kück mit den Worten: »Na, dann muss ich mal wieder. Wenn Sie noch was brauchen oder Fragen haben, melden Sie sich einfach bei mir.«
Anna dankte ihr für den köstlichen Kuchen, dessen Reste sicherlich noch für die nächsten beiden Tage reichen würden.
»Nich dafür.« Anke Kück stieg auf ihr Fahrrad und fuhr durch den feinen Nieselregen davon.
An dem Tag arbeitete Anna nicht mehr und sah am Abend im Fernsehen einen Schwarz-Weiß-Krimi, der in einer englischen Moorgegend spielte. »Tod im Torf« hieß der uralte Film. Anna mochte Horrorfilme, aber dieser ging ihr fast zu nahe, da die Moorlandschaft sie an das Brester Moor erinnerte, das sie ja noch näher erkunden wollte. Danach träumte sie von formlosen Wesen im Moor und glaubte, in ihrem Traum ein fernes Klagen zu hören.
Am dritten Tag kam die Sonne wieder heraus, und Anna beschloss, sich vor ihrem Gang ins Dorf doch noch den Keller anzusehen. Ihre Abneigung dagegen kam ihr beim hellen Sonnenlicht albern vor.
Das schwache Licht fiel auf die steinerne Treppe, die ohne Geländer in die Tiefe führte. Vorsichtig stieg Anna Stufe um Stufe hinunter. Die Treppe mündete in einen leeren Raum. Der Boden sah aus wie festgestampfte Erde, war aber aus Stein. Zwei Türen gingen von ihm ab. Ihre Vermieterin hatte Anna gesagt, dass sich in dem einen Raum die Heizung, eingebaut in den achtziger Jahren, und der Schaltkasten für die Elektrizität befänden.
In dem anderen Raum stand ein klappriges Regal, wie Anna es aus ihrer Kindheit kannte. Ihre Großmutter hatte auf einem solchen Gerüst die Gläser mit eingemachten Pflaumen, Birnen und Quitten aufbewahrt. Noch vor Kurzem hatte Anna ein solches Glas wiederentdeckt, als sie bei ihrer Mutter in Köln die Abstellkammer aufräumte. Auf dem Glas stand die Jahreszahl »1968«. Als Anna es öffnete, sah es so aus, als ob man die darin eingemachten Pflaumen noch essen könnte. Sie hatte den Inhalt des Glases dann aber doch entsorgt. Wenig später hatte sie gelesen, dass Stadtarchäologen im Keller eines baufälligen Hauses in Hannover ein Glas eingemachter weißer Bohnen aus dem Jahr 1944 entdeckt hatten, das den Krieg und die Zerstörung Hannovers überlebt hatte. Der Archäologe hatte der staunenden Journalistenschar erzählt, dass die Bohnen durchaus noch essbar gewesen seien - nach siebzig Jahren.
Auf diesem Regal aber standen keine Gläser mehr, stattdessen lag eine dicke Staubschicht darauf. Überall in dem Keller roch es nach feuchter Erde, auch wenn die Wände wie der Boden aus solidem Stein zu sein schienen. In den zweiten Raum mit der Heizung ging sie nicht hinein. Nichts Aufregendes oder gar Gruseliges gab es in diesem unterirdischen Gemäuer, und doch war sie froh, als sie die Treppe wieder hinaufstieg und wenig später vor der Haustür die frische Luft einatmete.
Sie mochte Keller nicht. Ihr Onkel Ernst hatte einen riesigen Keller besessen, in dem er vor allem seine Alkoholvorräte lagerte. Wenn Anna ihn und seine Frau Hildrun in der Nähe von Hameln besucht hatte, musste sie immer in den Keller, um irgendwelche Flaschen heraufzuholen. Sie hatte diese Besuche in dem alten Haus mit dem halb verwilderten Garten gehasst. Onkel Ernst war ein Vetter ihres Vaters und Tante Hildrun seine dritte Ehefrau. Sie roch immer stark parfümiert, vermutlich um damit ihren eigenen Alkoholgeruch zu überdecken. Inzwischen war Onkel Ernst gestorben, Tante Hildrun lebte in einem Heim mit betreutem Wohnen, der riesige Weinkeller war aufgelöst worden, das Haus verkauft. Die Erben der beiden, Annas Vater und ihre Tante Beatrix, hatten Tabula rasa gemacht und alles verkauft. Ihr Vater wohnte inzwischen auf Mallorca, war mit seinen achtundsiebzig Jahren noch sehr rüstig und mittlerweile mit seiner langjährigen Freundin Bella verheiratet. Ihre Mutter dagegen wohnte wieder in Köln, kümmerte sich um ihre eigene uralte Tante und ihre Schwester Brigitte, spielte leidenschaftlich gerne Bridge und arbeitete ehrenamtlich.
Anna sah ihren Vater einmal im Jahr, wenn sie für ein paar Tage nach Mallorca flog, um auszuspannen. Ihre Mutter besuchte sie fast alle sechs Wochen für ein Wochenende. Zu ihren beiden Geschwistern, ihrem fünf Jahre älteren Bruder Sebastian, der als Neurologe in Hamburg lebte, und ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester Lara, so benannt nach Mutters Lieblingsfilm »Doktor Schiwago«, die als Bibliothekarin in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt arbeitete, hatte sie ein nicht sehr enges, aber freundliches Verhältnis. Anna galt als Außenseiterin der Familie. Ihre Ehe mit Magnus, einem Kollegen, der Neuere Geschichte an der Universität Göttingen unterrichtete, hatte gerade mal vier Jahre gehalten, war nach einer Trennungszeit von drei Jahren vor einem Jahr geschieden worden, und Magnus hatte zwei Monate danach wieder geheiratet. Aber immerhin hatten sie sich als gute Freunde getrennt, und Anna rief Magnus sogar gelegentlich an, um ihn bei speziellen historischen Fragen um Hilfe zu bitten.
Sie trat auf die sonnenüberflutete Straße, die ins Dorf führte. Von ihrer Vermieterin wusste sie, dass Bresterholz aus einem Zusammenschluss von ehemaligen kleinen Bauernhöfen bestand, deren Besitzer meistens keine Landwirtschaft mehr betrieben, sondern die Flächen an den einzigen Großbauern der Gegend, Karl Heinz Fichte, verpachteten. Der wohnte in einem stattlichen modernen Haus am Rande von Bresterholz, hielt sich aber meist in Stade oder Hamburg auf, wo er Wohnungen und Büros besaß. Auch die Flächen der Kücks, ungefähr zwanzig Hektar, hatte er gepachtet und wollte sie ihnen seit Jahren abkaufen. Doch sie weigerten sich. »Der will keinen richtig anständigen Preis zahlen«, meinte Anke.
Anna ging in Richtung Dorf und kam an der kleinen Kirche von Bresterholz vorbei, die einen Besuch wert sein sollte. Sie war umgeben von einem Friedhof, auf dem aber niemand mehr beigesetzt werden konnte. »Wegen Überfüllung«, hatte Anke Kücks trockener Kommentar gelautet. Anna interessierte sich für alte Grabsteine und nahm sich vor, dem Friedhof einen gesonderten Besuch abzustatten. Wie sie gehört hatte, stammten die ältesten Grabsteine aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, als die Kirche von »Brester Holz«, wie der Ort damals hieß, die einzige im näheren Umfeld gewesen war und als Gotteshaus auch für die umliegenden Orte Osterheide, Geestermoor, Vleethenhaus und Aspenvelde diente.
Anna schlenderte an dem kleinen Bahnhof vorbei, an dem die Züge von Bremerhaven nach Buxtehude und umgekehrt...
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