Schweitzer Fachinformationen
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Anna spürte ein unangenehmes Kratzen im Hals und ein Kribbeln im Rücken. Nicht schon wieder! Erst im November hatte sie an einer Erkältung laboriert, die sie sich bei einer Veranstaltung in Hamburg eingefangen hatte. Anna schob sich eine Pastille in den Mund, die nach Lavendel und Pfefferminz schmeckte. Seit Tagen freute sie sich auf diesen Abend im Kloster Lüne in Lüneburg, wo sie über »Schätze aus dem Moor« referieren sollte. Sie würde sich diesen Abend nicht durch einen lächerlichen Schnupfen verderben lassen.
Energisch betrat sie die kühle Eingangshalle des Klostergebäudes. Dort erwartete sie eine schmale Frau von etwa fünfundsiebzig Jahren, die jetzt auf sie zutrat.
»Roswitha Ebersberg. Ich bin derzeit für die Organisation der Klosteraktivitäten verantwortlich, sozusagen ausgeliehen vom Kloster Ebstorf«, stellte sie sich ohne Umschweife vor. Sie reichte Anna eine zarte, mit Altersflecken übersäte Hand, die sie kaum zu drücken wagte. »Schön, dass Sie heute Abend Zeit für uns haben, Frau Bentorp«, fuhr Roswitha Ebersberg fort. »Wir freuen uns sehr auf den Vortrag. Er findet im Kapitelsaal statt. Ich hatte nicht allzu viel Zeit für die Vorbereitung, da ich erst vor einer Woche hierhergekommen bin und nur für einen Monat bleiben werde. Aber ich hoffe, dass alles so weit in Ordnung ist.«
Anna beeilte sich, Roswitha Ebersberg zu versichern, wie sehr auch sie sich auf diesen Abend freute.
Roswitha Ebersberg nickte. »Dann würde ich Ihnen gerne bei einer Tasse Tee die Details der Veranstaltung erläutern.« Sie marschierte voran, und Anna folgte ihr in einen kleinen, gemütlichen Raum, wo bereits Teetassen, eine dickbauchige Kanne und ein Teller mit Keksen auf einem ovalen Tisch standen.
Das Prozedere wich kaum vom Verlauf ähnlicher Veranstaltungen ab. Fünfunddreißig Minuten Vortrag, kleine Pause, danach noch mal eine halbe Stunde Gelegenheit für Fragen und Antworten aus dem Publikum. Falls es keine Fragen geben sollte, erklärte Roswitha Ebersberg, würde sie ihren eigenen Fragenkatalog einbringen. Sie lächelte und goss Tee aus der dicken Kanne ein.
Anna wollte gerade erwidern, dass ihr alles recht sei, als ein sanfter Celloklang ertönte. Frau Ebersberg blickte Anna entschuldigend an und zog ein Handy aus der Tasche ihres dunkelgrauen Jacketts. »Einen Moment, bitte. Mein Neffe ruft mich von Kloster Warnstedt aus an.« Sie stand auf und verließ mit dem Handy am Ohr das Zimmer.
Anna trank ihren heißen Tee und versuchte, sich an die Geschichte des Klosters Warnstedt zu erinnern. Aber ihr fielen nur ein paar Daten ein: Gründung im 13. Jahrhundert, Benediktinerkloster, seit der Mitte des 16. Jahrhunderts ein lutherischer Konvent. Bekannt war das Kloster heute wegen seiner großen Bibliothek und einer sehr elitären Ausbildungsstätte für Gärtner. Es wohnten auch einige Stiftsdamen dort. Doch von den ursprünglich zwanzig Frauen waren heute nur noch vier übrig geblieben. Zwei Tanten ihrer Mutter hatten dort nach dem Krieg gelebt, beide verwitwet, da ihre Männer im Krieg gefallen waren.
Anna leerte ihre Teetasse und nahm die Blätter mit den Stichworten für den Vortrag aus ihrer Umhängetasche.
Doch sie konnte sich nicht darauf konzentrieren. Fetzen des Telefonats, das Roswitha Ebersberg im Nebenraum führte, drangen zu ihr. Offenbar ging es um nichts Angenehmes, der Anrufer hatte sich wohl mit jemandem gestritten, wertvolle Bücher schienen gestohlen worden zu sein.
Als Anna einen Blick auf ihre Armbanduhr warf und dabei erste Zeichen von Ungeduld spürte, öffnete sich die Tür, und Roswitha Ebersberg trat ein. Sie war blass und wirkte fahrig.
»Entschuldigung, das war wichtig.« Sie räusperte sich. »Die Eltern meines Neffen leben nicht mehr, und ich bin seine einzige Bezugsperson. Er macht derzeit eine Gärtnerausbildung in Kloster Warnstedt. Jetzt scheint ein Freund von ihm, der Bibliotheksassistent, verschwunden zu sein. Gerade jetzt, wo wegen des Neubaus alle achtzigtausend Bücher ausgelagert werden müssen.«
Anna nickte verständnisvoll. Sie hatte gehört, dass die Bibliothek des Klosters Loccum, das knapp zwölf Kilometer von Kloster Warnstedt entfernt lag, einen Neubau erhalten sollte. Dass auch das wesentlich kleinere Warnstedt offenbar eine neue Bücherei bekommen sollte, war ihr nicht bekannt gewesen. Sie wusste nur, dass seit einigen Jahren Archäologen Grabungen auf dem Klostergelände vornahmen, um nach den Vorläufern der heutigen Klostergebäude zu forschen, die schon im frühen Mittelalter bei Warnstedt errichtet worden waren. Man hatte schon einige Mauerreste und Teile einer sehr alten Kapelle entdeckt.
»Kein Problem«, erwiderte Anna. »Wir haben ja noch Zeit.«
Roswitha Ebersberg schien sie nicht zu hören. »Hoffentlich hat er sich nicht wieder in etwas hineinmanövriert«, murmelte sie. Dann hob sie den Blick. »Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie damit behelligt habe. Ich bin wie gesagt Felix' einzige nahe Verwandte.« Sie zuckte mit den Achseln. »Na ja, wahrscheinlich klärt sich das alles ganz schnell wieder. Mein Neffe liebt Krimis und steigert sich schon mal in Geschichten hinein.« Sie lächelte. »Jetzt sollten wir zu Ihnen kommen und zu unserem heutigen Abend.«
Anna schob ihre Teetasse beiseite. An diesem Märztag würde sie ihren Vortrag in Lüneburg halten und am nächsten Abend in Hannover der Einladung ihres alten Bekannten - oder war er mehr als das? - Richard Bernhard folgen, der im Kreis »einiger Weggefährten« in einem neu eröffneten Restaurant seinen vierundfünfzigsten Geburtstag feiern wollte.
Anna hatte den umtriebigen Antiquitätenhändler seit Dezember nicht mehr gesehen, obwohl er ihr regelmäßig SMS schickte und sie immer wieder einlud, sich mit ihm zu treffen. Ganz harmlos, zum Kino oder zum Kaffee. Aber Anna hatte keine Zeit gehabt. Sie war im letzten Jahr nach Dublin gereist, um dort für ein Museum ein Bild zu begutachten und ihrer irischen Freundin Deirdre bei deren Arbeiten an einer Biografie eines Ahnen zu helfen. Auch nach ihrer Rückkehr hatte sie ein dicht gedrängtes Programm, das sie an den Wochenenden häufiger nach Köln zu ihrer Patentante und ihrer Mutter führte und ihr deswegen weniger Muße für Hannover ließ.
Ihre Patentante hatte sie gebeten, die vielen Bilder in ihrem alten Haus genauer unter die Lupe zu nehmen und sie einzuschätzen. »Wichtig für mein Testament und für die Steuer«, hatte die alte Dame gesagt, die seit mehreren Jahren im Rollstuhl saß, geistig aber noch sehr rege war.
Viel war bei Annas Analysen diverser Gemälde noch nicht herausgekommen. Fast alles war solide Kunst aus dem 19. Jahrhundert, darunter etliche Porträts von Damen und Herren mit eher starren Gesichtern und dunkler Kleidung, erstellt von unbekannten Malern diverser Malerschulen. Interessanter als die Bilder war für Anna die große Sammlung alter Bücher, die ihre Tante testamentarisch dem Kölner Stadtarchiv überlassen wollte - »sollte das je wieder in neuem Glanz erstehen«.
Doch Richards Geburtstag morgen konnte und wollte Anna nicht auslassen, zumal sie gespannt war auf die »Weggefährten« Richards, der immer eine Überraschung aus dem Hut zauberte. Sie hoffte nur, dass nicht irgendwelche Figuren aus der Halbwelt auftauchten, die vielleicht einmal mit ihm einen Deal gemacht hatten.
Der Abend in Kloster Lüne verlief harmonisch, das Publikum stellte nach dem Vortrag gute Fragen, und als Anna gegen Mitternacht in ihrem Hotel ankam, war sie zufrieden und müde. Roswitha Ebersberg versprach Anna, wegen eines eventuellen weiteren Vortrags über das Thema »Schätze vom Dachboden« mit ihr in Kontakt zu bleiben. Eine Vorstellung, die Anna auch deshalb reizte, weil sie von Richards Erfahrungen mit angeblichem Trödelkram bei der Sendung »Gutes für Geld« zehren konnte. »Da ist oft wahnsinniger Ramsch dabei, andererseits aber manchmal auch wahre Goldstücke«, schilderte er seine Arbeit als Experte in der beliebten Fernsehshow. Etwa zehnmal im Jahr durfte er als Fachmann Objekte beurteilen. Sein Spezialgebiet waren Geschirr, Lampen und Bilder.
Anna gähnte. Ein guter Tag, ein schöner Abend und ihre angehende Erkältung hatte sich mit Hilfe von heißer Zitrone verzogen. Sie wollte gerade ihr Handy für die Nacht ausschalten, als sie eine SMS entdeckte, die ihr entgangen war: »Dringend! Muss dich noch vor meinem Geburtstagsessen morgen treffen. Richard«. Zu spät für eine Antwort, dachte Anna und fiel wenig später in einen festen Schlaf ohne störende Träume.
Am nächsten Morgen gönnte sie sich ein ausgiebiges Frühstück, ehe sie Richard anrief.
»Wie wunderbar, deine Stimme nach so langer Zeit wieder zu hören«, sagte Richard und klang ehrlich erfreut. Ehe sie ihm zum Geburtstag gratulieren konnte, kam er zur Sache. »Ich muss etwas mit dir besprechen. Es geht um eine merkwürdige Geschichte. Aber am Telefon ist das nicht so gut. Kannst du mich um vierzehn Uhr im Geschäft treffen? Ich mache den Laden dann sowieso dicht.«
»Ja, ich komme, und übrigens alles Gute zum Geburtstag«, rief Anna, ehe er auflegte.
Gegen vierzehn Uhr betrat sie seinen Laden in der Nähe der hannoverschen Marktkirche. Im kalten Licht dieses Märztages tanzten Staubfäden über dem Parkettboden des geräumigen Geschäfts mit den hohen Bücherregalen, den Vitrinen mit Vasen und Porzellanfiguren, den alten Lampen, kleinen Salonsesseln und den Stichen an den zartgrün gestrichenen Wänden. Auf einem Sessel saßen zwei Puppen, die Anna zusammen mit Richard vor gut einem halben Jahr in einem Schloss im Ith in einem Schrank auf dem Dachboden entdeckt hatte. Sie besaß die dritte im Bunde dieser Puppen und hatte...
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