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Silas öffnete die Tür zum Matthias-Claudius-Gymnasium (MCG) Burgenach. Sein Freund Ronny, der neben ihm stand, überragte ihn um neunzehn Zentimeter. Dass es nur noch neunzehn und nicht mehr zwanzig waren, war Silas sehr wichtig. Die seiner Meinung nach zu geringe Größe von nur einem Meter und einundsechzig Zentimetern störte ihn fast täglich. Besonders, weil seine jüngere Schwester Rahel immer noch vier Zentimeter größer war. Außerdem war er zu klein für sein Gewicht.
"Immer herein mit euch!", sagte er und hielt die Schultür für die Mädchen offen, um ihnen den Vortritt zu lassen.
"Oh, danke!"
Sophia, die mit Rahel hinter den Jungs gegangen war, machte einen Schritt durch die Schultür. Auch Ronny war zurückgeblieben und legte seine Hand schnell weiter oben an die schwere Tür.
"Wie nett von euch!", sagte Rahels Freundin.
Silas' Schwester guckte erstaunt und zögerte, beschloss dann aber auch, schnell das Gebäude zu betreten.
"Danke", murmelte sie ebenfalls.
"Bitte", sagte Ronny und folgte den Mädchen auf den Schulflur. "Noch habe ich gute Laune, mal sehen, wie lange die in der ersten Schulwoche nach den Sommerferien anhält."
Er hatte den Satz kaum ausgesprochen, da wurde er von hinten angerempelt. Ein frischgebackener Oberstufenschüler, Nick aus der 11, schubste ihn unsanft zur Seite, um sich an ihm vorbeizudrängeln.
"Mann, aus dem Weg, du Jude", raunzte er den größeren Ronny an.
Dem fiel die Kinnlade herunter, und auch die anderen drei Mitglieder der Detektei Anton waren für einen kurzen Moment sprachlos. Letztes Jahr hatte sich Sophia böse Bemerkungen über ihre Hautfarbe anhören müssen, und jetzt so etwas.
"Was soll das denn heißen?", rief Rahel Nick hinterher, der schon fast um die nächste Ecke verschwunden war. Sie hatte zuerst ihre Sprache wiedergefunden.
"Na, siehst du nicht, dass Ronny eine Judennase hat?", antwortete Nora, Nicks stark geschminkte Freundin, die jetzt ebenfalls an ihnen vorbeistolzierte. Und auch Viola, ihr genauso aufgetakelter, ständig folgender Schatten, musste noch einen Spruch draufsetzen.
"Genau, und zwar echt krass, deine Hakennase. Guck mal in den Spiegel!", warf sie Ronny an den Kopf.
Die vier Detektive standen immer noch verblüfft auf derselben Stelle. Ronny fasste sich instinktiv ins Gesicht. Okay, seine Nase war lang, aber seine Arme und Beine schließlich auch. Passte doch.
"Ich fasse es nicht!", empörte sich Rahel. "Haben die gerade 'Jude' als Schimpfwort benutzt!?"
"Ja, haben sie und behauptet, man erkennt einen Juden an der Hakennase! Das geht gar nicht. Dass solche Sprüche immer noch kursieren!"
Silas schüttelte ungläubig den Kopf und setzte sich in Bewegung. Er ging als Letzter durch die Tür und ließ sie hinter sich zufallen.
"Der hat wohl in der 9 zu viel Unterricht verschlafen."
Ronny betastete immer noch seine Nase. Deswegen klang seine Stimme etwas verschnupft.
"Wieso?", fragte Sophia.
Sie war kurz vor den Sommerferien nach Burgenach gezogen und bis dahin von Privatlehrern zu Hause unterrichtet worden. Erst seit ein paar Tagen stand fest, dass sich ihr Wunsch erfüllen und sie mit ihrer Mutter hier wohnen bleiben würde. Der Vater, der einen erfolgreichen pharmazeutischen Betrieb in Ludwigshafen führte, wollte wenigstens an den Wochenenden zu seiner Familie stoßen. Maman, wie Sophia ihre Mutter nannte, würde das meiste ihrer Arbeit im Homeoffice erledigen können.
"Weil wir in der 9 erst die NS-Zeit und dann den Antisemitismus besprochen haben", erklärte Ronny und ließ seine Nase endlich in Ruhe.
"Aha. Très bien", nickte Sophia. Rahel guckte fragend.
"Anti. was?!"
"Semitismus", wiederholte ihr Bruder. Er hatte eine Vorliebe für Sprachen und Fremdwörter. "Die Israeliten oder Juden werden auch Semiten genannt, weil sie nach der Bibel von Sem, einem Sohn Noahs, abstammen. Antisemitismus bedeutet Judenhass oder Feindschaft gegen Juden sowie ihre Verfolgung."
Rahel stöhnte.
"Klingt wie eine Krankheit. Okay", seufzte sie, "dann kriegen wir das dieses Jahr, Sophia."
"Habe nichts dagegen. Hört sich spannend an."
Rahel guckte zweifelnd.
"Habt ihr auch bei KZ-Angie?", fragte Ronny.
"Das ist nicht lustig, Ronny", tadelte Silas seinen Freund und sah ihn vorwurfsvoll an. "KZ ist die Abkürzung für Konzentrationslager. Dort wurden Millionen unschuldiger Menschen umgebracht", erklärte er den Mädchen.
Sie standen mittlerweile vor dem Klassenraum der 9a, die Rahel und Sophia seit heute besuchten. KZ-Angie war der hässliche, inoffizielle Name für die Geschichtslehrerin Angela Kragenbeck. Die Schüler hatten ihn ihr verpasst, weil sie beim Thema Nationalsozialismus einen überdurchschnittlich großen Eifer an den Tag legte und Generationen von Burgenachern auf Klassenfahrten zu ehemaligen Konzentrationslagern begleitet hatte.
"'Tschuldigung", meinte Ronny. "Dann eben Juden-Angie."
"Das ist auch nicht besser."
Silas wurde rot.
"Frau Kragenbeck setzt sich wenigstens für ihre Überzeugung ein", verteidigte er die Lehrerin. "Außerdem passt 'Juden-Angie' nicht, denn es wurden auch Sinti und Roma verfolgt oder geistig Behinderte umgebracht."
Er hatte den Unterricht eigentlich ganz interessant gefunden. Vielleicht, weil ihn das Judentum als Vorläufer des Christentums sowieso interessierte. Er hatte da schon einiges aus dem Alten Testament gelernt und den Klassenkameraden erklären können. Außerdem musste er immer an Onkel Anton denken. Was hätten sie ihm wohl angetan, wenn er damals gelebt hätte?
"Ja, schon gut, dann eben nur Angie", lenkte Ronny ein. "Also, habt ihr die Kragenbeck denn überhaupt?"
Rahel zuckte die Schultern.
"Ich denke, schon. Sie ist jedenfalls für die nächsten zwei Jahre unsere Klassenlehrerin", beantwortete sie Ronnys Frage.
Sie sollte recht behalten. Als Ronny und Silas gerade am Klassenraum der 10b angekommen waren, tauchte Frau Kragenbeck in der 9a auf. Wie sich herausstellte, würde sie in Sophias und Rahels Klasse nicht nur Geschichte, sondern auch Deutsch unterrichten.
Angie, wie auch Rahel sie von diesem Moment an bei sich nannte, war eine unspektakuläre Erscheinung. Sie trug keine hohen Stöckelschuhe und hatte auch keinen lustigen Akzent wie Madame Müller, die Französischlehrerin. Ihre Figur, Frisur und Kleidung waren durchschnittlich unauffällig, und sie war sicher auch kein geheimer Bodyguard wie Herr Schöne, der kurz vor den Sommerferien für ein paar Tage an der Schule aufgetaucht war. Das einzige besondere Kennzeichen, wenn man es denn so nennen wollte, war ihre dunkle, große Brille mit den dicken Gläsern. Sie rückte sie auf der Nase zurecht, räusperte sich und begrüßte ihre neuen Schüler. Nachdem sie den Stundenplan für das erste Halbjahr verkündet hatte, kam sie sofort auf ihr Lieblingsthema zu sprechen, genau wie Ronny es angedroht hatte.
"In diesem Schuljahr befassen wir uns mit der dunkelsten Epoche der deutschen Geschichte. Laut Lehrplan steht der Nationalsozialismus zwar erst im zweiten Halbjahr der Jahrgangsstufe 9 auf unserer To-do-Liste, trotzdem möchte ich einige Aspekte aus gegebenem Anlass bereits etwas früher beleuchten. Das werden die ideologischen Grundlagen des Nationalsozialismus sowie der Weg zur 'Machtergreifung' Adolf Hitlers sein. Mit den Unterthemen Außenpolitik, Widerstand, Schoah sowie dem Kriegsverlauf beschäftigen wir uns dann von Januar bis zu den Sommerferien."
Rahel stöhnte innerlich. Das hörte sich noch langweiliger an, als sie befürchtet hatte. Wenn Ronny weiter recht behielt, würde Angie sie gleich bestimmt zu ihrer Geschichts-AG einladen, die freitags in der siebten Stunde stattfand. Das war vielleicht ein möglicher Termin für alle Streber, die das schulfreie Wochenende so lange wie möglich hinauszögern wollten, aber ganz bestimmt nicht für einen normalen Schüler. Und tatsächlich fügte Frau Kragenbeck jetzt einen Werbeblock ein.
"Freitags in der siebten Stunde biete ich eine AG an, die sich mit dem Antisemitismus in unserer eigenen Stadt befasst, unserem schönen Städtchen Burgenach. Wie...
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