Schweitzer Fachinformationen
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Scharbockskraut«, sagte meine Mutter, »wilde Malve.« - »Odermennig.«
Strich mit dem Zeigefinger über die zähen, pelzigen Stängel, die Dolde winziger blassgelber Blüten, die sich nach oben hin in Samentöpfchen mit klettendem Schopf wandelten. Ruprechtskraut: zarte, lilafarbene Blumen am Wegrand, mit Storchenschnäbeln an den winzigen, verblühten Köpfen.
Sie blieb stehen, beugte sich mit ihrem ohnehin schon krummen Rücken zu den Blumen hinunter, als müsste sie deren Anblick unbedingt festhalten, eine letzte Schau des Schönen in sich aufsaugen. Ich griff nach ihrer Hand, zog sie durch das Junigras, das uns bis an die Knie reichte, zwischen den Obstbäumen hindurch, an denen noch unreife, bucklige Birnen und Äpfel hingen, hin zu dem Kirschbaum, riesig war der, eine Frühsommerkathedrale mit hellroten Kugeln im Laub, was konnte man bei dem Anblick anderes empfinden als Freude, ich zog sie hin, Mama mit dem weißen Haar, reckte mich zu den unteren Ästen, pflückte die prallen, wie Organe geformten Früchte und fütterte sie damit. Sie nahm sie mit krummen Fingern, lutschte das Fruchtfleisch von den Kernen, ich beobachtete ihr Gesicht, die faltigen Wangen in Bewegung, und lächelte sie an. Sie förderte einen Kern zutage, ließ ihn aus dem Mund fallen und lächelte scheu zurück.
»Und du meinst nicht, ich habe alles falsch gemacht«, fragte sie, sicher zum fünfzehnten Mal, seit ich sie von der gerontopsychiatrischen Station abgeholt und hierher mitgenommen hatte mit dem Versprechen, sie vor dem Abendessen zurückzubringen. Die Frage, die sie wie die anderen Zwangsgedanken in quälender Frequenz wiederholte, hatte etwas von ihrer Dringlichkeit verloren, bildete ich mir ein, meine Mutter wirkte beinahe unkonzentriert, während sie sie stellte.
»Nein«, sagte ich, »hast du nicht«, und reichte ihr Kirschen, etwas zu helle vielleicht, darunter eine mit einem schon verschorften Riss, sie nahm sie und aß. Ich reckte den Arm und sprang zu einem besonders üppig tragenden Ast, einmal, zweimal, bis ich einen der Zweige mit den fingrigen Blättern zu fassen bekam und herunterzog. Die Früchte waren von der Sonne gewärmt und voller Süße. Eine Kirsche erschien mir als die schönste, so prall war sie, hell und auf einer Seite rotbackig, es hätte mich nicht gewundert, hätte sie einen Herzschlag gehabt.
»Ich hoffe, du kannst rennen. Falls uns einer erwischt«, sagte ich im Versuch, einen Scherz zu machen.
Ich nahm ihre Hand und führte sie über die Wiese, oft waren wir vom Neubaugebiet aus, wohin sie nach meinem Weggang gezogen war, über die hügelauf- und -abwärts führenden Feldwege zwischen den Gärten und Obstwiesen gegangen. Wir erreichten ein asphaltiertes Stück Weg, das über den Bach führte. Ich fühlte in Abständen ein Zucken in ihrer Hand, Ruhe hatte sie keine, dennoch blieb sie stehen und lauschte dem vielstimmigen Geräusch des Wassers. Es war ein helles, akustisches Glitzern, heiter und machtvoll zugleich.
»Hier war ich noch nie«, sagte sie beinahe andächtig und schaute mich, immer noch lauschend, an.
Meine Mutter wohnte seit fünfzehn Jahren im Neugreut, in einem der viergeschossigen Blocks, die als eine Reihe erster Gebäude an den damals neu erschlossenen Straßen standen. Für das Viertel war ein Teil der alten Obstgärten und -wiesen gerodet, eingeebnet und bebaut worden. Die noch übrig gebliebenen Wiesen und eingezäunten Grundstücke zogen sich nach Westen bis hinunter ins Österbachtal, am anderen Bachufer gingen sie in eine Landschaft aus Wacholderheide über, das Tal war früher als Truppenübungsgelände genutzt worden. Der Blick war eingerahmt von den Bergen, die nach Süden hin der Stadt im Rücken standen. Als Riesenwesen mit oben abgeflachten, bläulich dunkelgrünen Rücken umstellten sie den Horizont, taten alle paar Jahre einen Atemzug und bewachten meine Träume.
Ich kam normalerweise zwei-, höchstens dreimal im Jahr hierher. Seit Sina geboren war, waren mir die siebenstündigen Bahnfahrten auf eine neue Art wichtig geworden, ich entdeckte die Landschaft in meiner DNA, wollte meiner Tochter Kindheitsbilder mitgeben, in denen die Alb, die Streuobstwiesen und Kalksteine vorkamen.
Die Gründe meines Weggangs verblassten zusehends. Damals hatte ich es Enge, Engstirnigkeit, Mangel an offenen Enden genannt. Ich war im Rückblick nicht sicher, ob ich in der Bilanz meines bisherigen Lebens mehr gewonnen hatte als verloren. Ich hatte natürlich Sina, eine nicht zu verrechnende Größe, Neuausrichtung des Mittelpunktes, auf den die Kraftpfeile meines Lebens zeigten.
Die Landschaft goss jetzt im Juni, im Licht des späten Nachmittags, das Übermaß ihrer Süße aus.
Ich sah die gebeugte alte Frau, die meine Mutter war, stehen und Kirschen essen. In einem einfachen grünen T-Shirt und hellgrauer Hose, mit leeren Händen und Taschen, hatte ich sie aus dem Krankenhaus abgeholt. Wir gingen weiter.
Es ging bergauf, sie geriet ins Schwitzen, Atem schöpfend und im Grübeln befangen blieb sie stehen, bemerkte dabei einen kleinen Vogel, der mit dem Kopf voraus den Stamm eines Nussbaums abwärtslief, ihre Lippen zuckten, als wollten sie seinen Namen sagen.
»Ein Kleiber«, half ich ihr aus, »so heißt er doch.«
Ihr Gesicht hellte sich auf, aber nur für einen Augenblick, dann versank sie wieder in ihrer grauen Unruhe.
»Ich weiß wirklich keinen Ausweg mehr.« Sie sah mich mit ihren alten Augen, ihren schon immer braunen, schon immer voll Liebe und Furcht auf mich gerichteten Augen an, ihr Blick versetzte mir einen Stich.
»Ja, Mama, ich weiß.«
Ich zog sie an der Hand weiter.
Vor ihr riss ich im Gehen von einem Haferfeld einige der matten, bläulich grünen Halme ab, mit ihren zitternden Rispen und einer noch knittrigen orangeroten Mohnblume, die ich ebenfalls pflückte, schien mir dies der schönste kleine Handstrauß, den es geben konnte, ich reichte ihn ihr.
»Oh«, machte sie, ein Laut der Freude, den ich ebenfalls kannte und der viele Jahre lang mein Missbehagen erregt hatte, drückte sie doch damit mehr Freude aus, als ich annehmen konnte, eine Bürde für mich, als hätte die Tochter eine ganz außergewöhnliche Leistung vollbracht. Dieses spezielle Zuviel hatte ich früher zurückgewiesen. Heute nahm ich es hin, begrüßte im Stillen jede ihrer Gemütsregungen, die eine andere war als Selbstanklagen und Angst. Ich ging voran.
Durch die Landschaft zu streifen, am Morgen, am Abend, zu allen Jahreszeiten, mir schien, als hätten meine Mutter und ich das immer zusammen getan.
»Eigentlich brauche ich fast gar nichts«, sagte Mama in meinem Rücken, leicht außer Atem. »Wenn ich so eine Wiese hätte und eine Hütte darauf, ich hätte nicht diese Depressionen.«
Sie war mir in diesem Moment, in diesem aufgelösten Zustand näher als während vieler Jahre zuvor.
»Ja«, sagte ich. »Das glaube ich auch.«
Es hatte vor zwei Wochen angefangen. Sina hielt das Telefon in der Hand, »Oma«, formte sie mit den Lippen. Es war spätnachmittags, ich war gerade zur Tür hereingekommen. Bei der Arbeit war ich länger geblieben als sonst, hatte nur noch mit Ungeduld die Ratsuchenden angehört, deren Anliegen mir alle gleich erschienen, wenn ich müde wurde. Es war schön draußen, es drängte mich, die Büroklamotten gegen meine Laufsachen zu tauschen und hinauszurennen. Ich warf meine Jacke und die Tasche von mir.
»Ich kenne das Gefühl«, sagte Sina ernsthaft in den Hörer, »man wünscht sich nur, dass es aufhört.«
Ich vergaß, was ich gerade im Begriff war zu tun, und horchte bei offener Badezimmertür, mit dem Rücken zu meiner im Flur telefonierenden Tochter, auf diesen mir aus ihrem Mund unbekannten Gesprächston.
»Die Wahrheit ist aber, es hört irgendwann auf. Ganz sicher. Daran musst du fest glauben.«
Nun wollte ich wissen, was los war. Ich bedeutete Sina, mir das Telefon zu geben. Sie wehrte mich ab, kehrte mir den Rücken zu und ging in ihr Zimmer.
»Oma. Das ist nur die Stimme deiner Angst. Und gar nicht die schlimme Sache selbst.«
Woher hatte mein Kind solche Sätze? Nicht zum ersten Mal ging mir auf, dass ich wenig Einblick in ihr Seelenleben hatte. Ich hatte gehofft, wenn ich eine andere Mutter würde als meine eigene, wäre das anders.
»Möchtest du Mama sprechen? - Tschüs, Oma«.
Ich war ihr nachgegangen und streckte die Hand aus, aber Sina legte das Telefon beiseite und nahm ein Schulbuch in die Hand. Sie sah mich gequält an, um nichts mehr bemüht, als von mir in Ruhe gelassen zu werden.
»Sie will nicht mit dir...
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