Schweitzer Fachinformationen
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»Dein Vater ist da«, verkündet Ivo, der sonst kaum mit mir spricht, in beinahe triumphierendem Ton, als ich meinen Rucksack die Treppe hochschleppe. Er steht ein paar Stufen über mir im Treppenhaus, vor der Tür zu unserem Außenklo. Normalerweise ist er nicht größer als ich. Die Schulterriemen des Rucksacks ziehen mich schwer zu Boden. Ich kehre gerade vom Filmfestival nach Hause zurück. Es ist nicht überraschend, in der WG Fremde vorzufinden, die Türen im besetzten Haus sind unverschlossen. Nur die Schwulen im vierten Stock handhaben das neuerdings anders.
»In deinem Zimmer«, ruft er mir nach, als ich schon im Flur unserer Wohngemeinschaft stehe. Mein Vater. In meinem Zimmer. Friedrichshain, Rigaer Straße hinter dem Frankfurter Tor.
Ich werfe den Rucksack in den Flur. Um den Stromkasten herum kleben noch die Pin-ups aus der Superillu, die einmal den Stromableser von der manipulierten Plombe ablenken sollten.
Auf dem Küchentisch stehen Reste eines Essens, das von der Farbe Gelb, überall klebenden Hirsekörnchen und Currygeruch dominiert wird. Da ist jedoch noch etwas anderes. Ich hebe den Deckel vom größten unserer Töpfe. Einer Brühe mit riesigen Fettaugen, in der seltsam eingerollte Fleischstücke und Kartoffelscheiben schwimmen, entströmt ein ungewohnter, strenger Hammelgeruch. Dergleichen ist in dieser Küche seit der Hausbesetzung sicher nicht zubereitet worden.
Mein Vater. Der gedrungene Mann vom Wurstsalat-Treffen, der ähnlich aussah wie ich als eingeöltes Baby, der Mittelständler mit Hang zum Schweißausbruch, den habe ich vor Augen. Sicher hat er sich angesichts des Hauses, seiner wilden Bemalungen, der zugenagelten Fenster im Erdgeschoss, der Graffiti und linken Parolen, auch des Mülls und Drecks überall, schon in den höchsten Drehzahlbereich geschraubt. Und der soll in meinem Zimmer auf mich warten?
Will er mich zwingen, den Fortgang meines Studiums zu beweisen? Weil er ja schließlich zahlt, zähneknirschend zwar, aber regelmäßig und pünktlich. Die vorgeschriebenen Scheine des Grundstudiums habe ich gemacht, alle bis auf einen. Nur kann ich mich nicht erinnern, wo ich sie habe, ebenso verhält es sich mit den Immatrikulationsunterlagen. Mein Papierkram ist komplett unsortiert, offizielle Post habe ich seit Monaten ungeöffnet in einen Karton geworfen. Vielleicht rächt sich das heute. In meinem Magen ballt sich eine ungute Ahnung zusammen.
Bis auf die Unordnung habe ich mir jedoch nichts vorzuwerfen. Sicher bin ich mir dennoch nicht, und wer auch immer in diesem Erkerzimmer auf mich warten mag, es kommt mir nicht in den Sinn, dass es sich um ungebetenes Eindringen handeln könnte. Und ich sozusagen die Hausherrin bin.
Ich habe mir Rechtfertigungen für die wichtigsten Aspekte zurechtgelegt - ein Studium, das zu nichts führt, das heruntergekommene Haus, meine Mitbewohner, mich selbst - und öffne die Tür meines Zimmers. Jemand liegt in meinem Bett. Es ist nicht der schwäbische Unternehmer, der mir monatlich fünfhundert Mark überweist. Es ist Amando.
Er scheint gerade geschlafen zu haben. Sein Gesicht ist zerknautscht, als er sich aufrichtet, er bemüht sich aber, dies mit einem Lächeln wettzumachen. Sein Haar scheint frisch geschwärzt, er streicht sich ein paar Strähnen zurück, ebenso ordnet er rasch die Enden seines Schnurrbarts.
»Tja, da bin ich«, sagt er und macht eine Geste, als zeigte er mir mein eigenes Zimmer. Das ich nicht im besten Zustand hinterlassen habe.
»Berlin lag gerade auf dem Weg, und da dachte ich, kehr ich mal ein. Wo du mich so nett eingeladen hast.«
Ich habe Amando, einen Zirkusdompteur ohne Engagement, vor ein paar Wochen am Stuttgarter Hauptbahnhof kennengelernt. Während eines Besuchs bei meiner Mutter im Südwesten habe ich nachts in der Wartehalle Menschen porträtiert. Ich will mich mit den Bildern an der Filmhochschule bewerben.
Amando am nächtlichen Bahnhof: Sein schwarzes Haar, sein Schnurrbart, dazu der weiße Cowboyhut, die Jeansjacke, ein ebenfalls weißes Hemd und ein Gürtel mit aufwendiger Schnalle. Sorgfältig drapiertes rotes Halstüchlein, Cowboystiefel. Ich glaubte in seiner Aufmachung etwas zu sehen, das ich sonst bei Transmenschen und anderen queeren Subkulturen gesehen habe, eine subversive Aneignung von Codes.
Er lud mich für einen der nächsten Tage in sein Hotel ein, um mir dort seine Peitschen vorzuführen. Das ist mir als einmalige Gelegenheit erschienen.
Ich bin also mit dem Polo meiner Mutter zu dem schäbigen Motel gefahren. Ich fotografierte ihn seitlich auf seinem Bett kauernd. Vor dem Spiegel beim Anlegen seiner Dompteursuniform. Mit den Peitschen, einer dicken, mehrere Meter langen, aus schwarzen und weißen Lederstreifen geflochtenen und einer dünneren, die sich in mehrere Enden verzweigt und mit der er in der Luft knallt. In die Bilder der Peitschenschwünge mit ihren Wellenbewegungen und den dazugehörigen Unschärfen legte ich große Hoffnung für meine Bewerbung im Fach Filmregie.
Als er jetzt hier in meinem Zimmer steht, auf Socken und mit einer Rasierwasserwolke um sich herum, erinnere ich mich, dass ich ihn von Berlin hatte reden hören. Ich habe ihm meine Adresse gegeben, aber nicht für möglich gehalten, dass er tatsächlich käme.
Und nun ist er hier.
Im selben Augenblick bemerke ich, dass ich zwar perplex bin, aber auch ungeheuer erleichtert. Froh, dass nicht mein tatsächlicher Vater in meinem Bett gelegen und auf meine Rückkehr gewartet hat. Ich falle Amando um den Hals.
Mit dieser Begeisterung scheint er nicht gerechnet zu haben. Er tätschelt, mich noch im Arm, unbeholfen meine Schulter.
»Ich hab uns was Schönes gekocht«, höre ich ihn sagen. Ich folge ihm in die Küche.
»Magerlsuppe.«
Ich sehe ihm zu, wie er mir am Herd stehend mit der Kelle Suppe aus dem großen Topf in einen Teller füllt. Die Geste macht einen fürsorglichen Eindruck, und ich spüre, wie wohl mir das tut an diesem für mich bis dahin umkämpften Ort. Tapfer kaue ich auf einem der elastischen Fleischstücke herum, die in der Suppe schwimmen, sie knirschen beim Kauen ähnlich wie Calamari und schnalzen immer wieder in ihre frühere Form zurück. Als ich realisiere, worum es sich handelt, will ich sofort alles, was ich im Mund habe, in eine Serviette spucken. Es gibt nur keine.
»Die Fleischereien im Osten haben so was noch. Im Westen wollen alle nur Filet. Das hat doch keinen Geschmack. Man schmeißt das halbe Tier einfach weg. Das ist doch nicht richtig.« Amando spült seinen Happen mit einem Schluck Lübzer Pils aus der Flasche hinunter, ich tue es ihm hastig nach.
»Unsere Küche verwertet alles. Auch Därme. Wenn meine Mutter Beuschelsuppe gemacht hat, ja, da saßen alle um den Tisch und leckten sich die Lippen. Da ist alles an Innereien drin, Lunge, Nierchen, alles. Das war ein Festmahl, kann ich dir sagen.«
Mir kommt eine Idee: Ich muss den anderen gegenüber gar nicht aufklären, dass Amando nicht mein Vater ist. Besser ein Rom mit seltsamen Kochgewohnheiten als mein realer Vorfahr. Ich fische eine Kartoffel von meinem Teller und lasse möglichst viel von der Magerlbrühe davon abtropfen. Ich betrachtete die Poster und Sticker mit linksradikalen Sprüchen, die an den Wänden hängen.
»Ja, echt lecker«, beteuere ich.
Amando schlägt ein in der Rigaer Straße. Zwar will keine der Frauen aus meiner WG die Gerichte probieren, die Amando zubereitet, und auch die Kiffer aus dem Dritten ekeln sich vor dem knorpelnden Gefühl beim Kauen der Magerlstücke. Aber wenn ich mit ihm etwa zur Volksküche in die Besetzerkneipe hereinspaziere, werde ich ganz anders angesehen als zuvor.
Amando schläft weiterhin in meinem Bett, ich im Gemeinschaftsraum auf dem Sofa. Ab und zu verlässt er das Haus für eines seiner Treffen, vor denen er sich stundenlang zurechtmacht: ins Haar frische Farbe und frische Pomade, ein perfekt geplättetes Hemd - das Dampfbügeleisen leiht er aus der Schwulen-WG - und Schuhspitzen, so glänzend wie das Gold an seinem Siegelring. Verstohlen beobachte ich die Teile der Prozedur, die in meinem Zimmer stattfinden, lebe ich doch weitgehend in dem Durchgangszimmer zwischen meinem Zimmer und dem Balkonzimmer meiner Mitbewohnerin.
*
Der Erste Mai naht, und es gibt Stunk. Einige aus der Besetzerkneipe haben im...
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