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Aus weiter Ferne nahm Henning Lüders das Klingeln des Telefons wahr. Sein Kopf schmerzte, als er sich aufzurichten versuchte. Seine Augen waren verquollen und blutunterlaufen. Beim Aufstehen fiel eine leere Schnapsflasche vom Bett. Er fluchte. Als er das Telefon erreichte, hatte es zu läuten aufgehört. Noch ganz benommen schlurfte er ins Badezimmer. Schwerfällig stützte der pensionierte Kommissar sich auf den Waschbeckenrand, um sich resigniert im Spiegel zu betrachten. War das wirklich er, der ihm da entgegenblickte? Was war aus ihm geworden? Ein alter Säufer, den niemand mehr braucht, dachte er verbittert.
An dem Tag, als sein Freund Rüdiger Paulus bei einer Schießerei am Leipziger Hauptbahnhof sein Leben ließ, zerbrach etwas in Henning. Er verlor jeglichen Halt. Alle Pläne, die sie für ihre gemeinsame Zukunft geschmiedet hatten, endeten jäh mit Rüdigers Tod. Einem zudem völlig sinnlosen Tod, wie Henning sich immer wieder vor Augen hielt. Nur noch zwei Jahre wären es bis zu Rüdigers Pensionierung gewesen. Sie wollten sich ein Boot kaufen und reisen. Was war aus ihren Träumen geworden?
Aufgrund ihrer gegenseitigen Verfügung, sich als Universalerben in ihrem Testament einzusetzen, konnte Henning in Rüdigers Häuschen, das sich in der Nähe des Kulkwitzer Sees, am Stadtrand von Leipzig befand, wohnen bleiben. Wo sonst sollte er auch hin.
Außerdem gefiel ihm diese geschichtsträchtige Stadt, die, wie er sich oft ausgedrückt hatte, >eine charmante kulturelle Entwicklung zwischen Aufschwung und Verfall erlebt<. Er hatte mit dem Freund gemeinsam viele schöne Stunden in der Innenstadt verbracht. Besonders der Marktplatz mit seinem malerischen Renaissance-Rathaus hatte es den beiden angetan. Dort hatten sie oft gemütlich gesessen, sich unterhalten und die Menschen beobachtet. Es hatte Spaß gemacht, sich Geschichten auszudenken und sie sich gegenseitig zu erzählen. In der Mädlerpassage bestaunten sie immer wieder die faustischen Figuren an den Abgängen zu Auerbachs Keller, Leipzigs berühmtester Schankstube, in der sich Faust-Mythos und Gasthaustradition für die beiden Freunde immer wieder zu einem belebenden Elixier vermischten. Das alles war vorbei und er hatte voll Selbstmitleid zur Flasche gegriffen. Er stand in seinem Leben schon einmal kurz davor, diesen Weg einzuschlagen. Nach dem Tod von Anouschka, seiner Frau, hatte ihn lediglich seine Arbeit als Kriminalbeamter vor diesem Schritt bewahrt. Doch nun gab es nichts mehr, was ihn hielt. Er fühlte sich leer und ausgebrannt. Als er sich jetzt im Spiegel betrachtete, hohläugig und abgemagert, fragte er sich beklommen, ob es ihm aus eigener Kraft gelingen würde, mit dem Trinken aufzuhören. Niedergeschlagen winkte er ab. Wen interessierte es schon, ob er sich über kurz oder lang zu Tode soff?
Für den Bruchteil einer Sekunde flammte eine Erinnerung in seinem Bewusstsein auf, eine hässliche Erinnerung. Er dachte an Arno Corte, einen ehemaligen Kollegen. Sein Anblick ließ ihn Verachtung und Abscheu empfinden. Damals fragte sich Henning, ob er wohl in ein paar Jahren auch eine solch traurige, heruntergekommene Gestalt abgeben würde. Doch die Realität, das wurde ihm in diesen Minuten schmerzlich klar, war noch grausamer. Sein Fall vollzog sich unaufhaltsam. Er allein hatte es in der Hand, das Blatt wieder zu wenden. Eine mahnende Stimme flüsterte ihm zu, dass ihm dazu nicht mehr viel Zeit bleiben würde, wollte er das Schlimmste verhindern. Diese bittere Erkenntnis veranlasste ihn, einen ganz und gar unflätigen Fluch auszustoßen.
Er tauchte sein Gesicht in kaltes Wasser. Das kühle Nass ernüchterte ihn etwas. Er ging in die Küche, um sich einen starken Kaffee aufzubrühen. Zum ersten Mal seit langer Zeit nahm er das dort herrschende Chaos wahr. Zwischen Bergen ungewaschenen Geschirrs, auf denen Lebensmittelreste vor sich hinschimmelten, standen unzählige Schnapsflaschen. Die meisten waren leer. Henning sammelte sie auf, um sie neben die Tür zu stellen. Er zählte fünfundzwanzig Flaschen. In einer Anwandlung ohnmächtiger Wut trat er nach ihnen. Ein ohrenbetäubendes Scheppern und Klappern folgte. Mehrere der Schnapspullen gingen zu Bruch. Ein widerwärtiger Geruch nach billigem Fusel begann sich auszubreiten. Hennings Hände zitterten. Er wollte stark sein und merkte doch, wie sein Körper nach der Droge verlangte. Allein schon der Geruch von Alkohol reichte aus, ihn wieder einmal schwach werden zu lassen. Auf allen vieren kroch er zwischen den Scherben umher, um mit fahrigen Bewegungen nach einer noch nicht vollständig geleerten Flasche zu suchen. In dem Moment, als er sie an seinen Mund setzte, schämte er sich seines Zustandes. Gleichzeitig erfüllte ihn das brennende Kribbeln, das seine Kehle durchrann und seinen Körper auf angenehme Art wärmte, mit unbeschreiblichem Wohlbehagen. Gierig suchte er nach weiteren Resten. Der schrille Ton der Hausklingel ließ ihn zusammenschrecken. Henning erstarrte. Er konnte sich nicht erinnern, wann hier zuletzt jemand geklingelt hatte. Schließlich lebte er völlig isoliert und zurückgezogen. Er hatte alle sozialen Kontakte abgebrochen und verließ das Haus nur, um sich mit den nötigsten Lebensmitteln, etwas Geld, hauptsächlich aber neuen Schnapsvorräten, einzudecken.
Sicher ein Vertreter dachte er. Erst das hartnäckige, diesmal länger anhaltende Läuten veranlasste ihn dazu, sich schwerfällig zu erheben. Er schwankte nach draußen. Vor der Tür stand ein Postkurier mit einem Einschreiben in der Hand. Ungeschickt bestätigte Henning mit seiner Unterschrift den Erhalt des Dokuments. Als er aufblickte, traf ihn ein verächtlicher Blick des Boten.
Wieder im Haus, riss er das Schreiben auf. Der Absender verriet ihm, dass es von einer Anwaltskanzlei stammte. Sein umnebeltes Hirn tat sich schwer, den Inhalt des Briefes zu erfassen. Henning wankte erschöpft zu seinem Bett. Kaum lag er darin, schlief er erschöpft ein. Irgendwann am späten Nachmittag erwachte er wieder. Sein Kopf dröhnte und er verspürte einen ekelhaft galligen Geschmack im Mund. Mit der Zunge, die sich wie ein Stück Leder anfühlte, fuhr er sich über seine aufgerissenen, ausgetrockneten Lippen. Das Schreiben fiel ihm wieder ein. Es war seinen Händen entglitten und lag auf dem Boden vorm Bett. Henning bückte sich danach. Der Brief stammte von einer Anwaltskanzlei namens Stiller. Sein Inhalt versetzte ihn in maßloses Erstaunen. Ungläubig richtete er sich auf, starrte auf die Zeilen vor sich und las nochmals Wort für Wort:
Sehr geehrter Herr Lüders,
in meiner Eigenschaft als Anwalt vertrete ich die Interessen meines Mandanten, Herrn Julius Bachmann.
Damit verbunden, fällt mir die traurige Aufgabe zu, Ihnen mitzuteilen, dass Herr Bachmann am achten März diesen Jahres im gesegneten Alter von neunzig Jahren verstarb. Ich wurde von ihm beauftragt, Ihnen seinen letzten Willen, den er zu Lebzeiten testamentarisch regelte, kundzutun.
Beiliegend sende ich Ihnen, seinen Anweisungen folgend, ein für Sie bestimmtes Schreiben.
Wenn Sie nach dessen Kenntnisnahme dazu bereit sind, dass darin erwähnte Erbe anzutreten, würde ich Sie bitten, sich zwecks Testamentsvollstreckung mit mir in Verbindung zu setzen.
Hochachtungsvoll
Dr. H. Stiller
Henning entfaltete den von Julius Bachmann mit zittriger Handschrift verfassten Brief und las:
Lieber Henning,
ich weiß nicht, ob du dich noch an mich erinnerst. Es ist zugegebenermaßen lange her, als wir uns das letzte Mal sahen. Du warst damals noch ein Kind. Zusammen mit deiner Mutter verbrachtest du einen Teil des Sommers in meinem Haus auf Rügen. Ich bin, wie du dir inzwischen möglicherweise schon denken kannst, dein Patenonkel. Leider brach nach dem Tod deiner Mutter, meiner Cousine, der Kontakt zu dir ab. Ich schrieb noch einige Male an deinen Vater. Aber all meine Briefe blieben unbeantwortet. Du warst damals noch zu klein, als dass ich mich an dich persönlich wenden konnte. Meinem Wissen nach, gingst du noch nicht einmal zur Schule. Sicher wirst du dich nun fragen, weshalb ich dich nach all den Jahren in meinem Testament berücksichtige.
Die Antwort ist denkbar einfach: es gibt sonst niemanden. Als eingeschworener Junggeselle habe ich weder Kinder noch sonstige Verwandte, die als Erben infrage kämen. Um es vorwegzunehmen, ich bin keinesfalls wohlhabend. Ich besitze lediglich etwas Land, ein paar Tiere und ein kleines Häuschen, das ich nun an dich weitergeben möchte. Sicher stellt dieses Anwesen keinen großen materiellen Wert dar, aber mein Herz hängt dennoch daran. Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, dass die Arbeit von Jahren umsonst war. Komm doch einfach her und sieh es dir an. Möglicherweise erinnerst du dich dann auch wieder an die unbeschwerten Sommertage deiner Kindheit, die du mit deiner Mutter hier verbrachtest. Du hast damals auf mich einen glücklichen Eindruck gemacht. Leider war es uns nicht vergönnt, uns näher kennen zu lernen. Ich hätte gerne gewusst, was aus dir geworden ist und wie du dich zum Mann entwickelt hast. Vielleicht hätte ich nach der Wende, als erstmals wieder die Möglichkeit dazu bestand, hartnäckiger nachforschen sollen, um dich ausfindig zu machen. Doch nun, da ich diese Zeilen verfasse und fühle, wie meine Kraft merklich schwindet und das Leben aus mir zu weichen beginnt, fürchte ich, es ist zu spät dafür.
Wenn dich dieses Schreiben erreicht, weile ich nicht mehr auf dieser Welt. Tief in meinem Herzen hoffe ich, dass du mein Erbe antrittst. Doch egal wie du dich entscheiden magst, ich wünsche dir für die Zukunft alles erdenklich...
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