Schweitzer Fachinformationen
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Als Claudia Shaul kennenlernt geht alles ganz schnell: die deutsche Schauspielerin und der israelische Komponist verlieben sich ineinander. Doch Shaul ist der Enkel eines Holocaustüberlebenden und Claudias Großvater war Wehrmachtssoldat im Nationalsozialismus. Ist ihre Liebe zu verrückt? Zu meschugge? Gemeinsam begeben Claudia und Shaul sich auf eine turbulente Reise in die Geschichten ihrer Familien, durch Deutschland und Israel. Irgendwo zwischen Spätzle und Hummus, Klein- und Großfamilien sowie schwäbischer Kultur und jüdischer Tradition findet das junge Paar nicht nur seine Vergangenheit, sondern auch seine Zukunft. Eine Geschichte voller Herz und Humor über zwei ungewöhnliche Familien, Kriegsenkel, ihre Identität und über die ganz große Liebe - Traumhochzeit inklusive.
»Al Capone«, Etty, Perez, Itzhak und Eatan
Es gibt ein altes Foto von meinem Sabba Perez, meinem Opa, und mir, das ich sehr mag: Mein Sabba hält mich - einen zweijährigen Knirps - mit einem Arm eng umschlungen, mit der Hand seines anderen Arms streichelt er ein Pferd. Eine Zigarette hängt ihm aus dem Mund und er grinst breit in die Kamera. Das ist mein Sabba - ein starker Mann, denn er hält mich. Ein positiver Mensch, denn er zeigt ein großes Lächeln. Ein Mann, der das Leben genießt - davon zeugt die Zigarette.
Er wurde am 29. oder 30. Dezember 1929 oder 1930 als Paul in Buhus¸i, einer kleinen Stadt in Rumänien, in eine moderat-religiöse jüdische Familie hineingeboren. Neben ihm, dem Ältesten, gab es noch drei Geschwister: Hanna, Reuven und Simon, der von allen nur Lulu genannt wurde. Sein Vater hatte eine Bäckerei. Außerdem pflanzte er Kürbisse an - wie es in unserer Familie über viele Generationen hinweg gemacht wurde. »Deswegen lautete unserer Familienname Bostan - Kürbis«, erzählte mein Opa.
Als mein Opa nach dem Holocaust nach Israel kam, begann für ihn nicht nur ein neues Leben, er bekam auch einen neuen Namen. Aus Paul wurde Perez, aus Bostan wurde Bustan - das bedeutet im Hebräischen und Arabischen »schöner Garten«. Und so heißen wir heute.
In Rumänien ging mein Opa zuerst in eine christliche Schule. Als er in der zweiten Klasse war, sagte eines der Kinder zu ihm: »Wenn du es wagst, morgen wieder zur Schule zu kommen, lege ich deinen Kopf unter den Wagen des Schulleiters!« Mein Opa erzählte dies zu Hause sofort seinem Vater Saul. Am nächsten Tag ging Saul in die Schule, um mit dem Schulleiter zu sprechen. Der antwortete: »Vielleicht ist es besser, wenn Sie Ihr Kind zu Hause behalten.« Mein Uropa Saul verstand sogleich und veranlasste, dass alle seine vier Kinder auf eine jüdische Schule wechselten. Mein Opa ging dort bis zur fünften Klasse zum Unterricht. Dann war die Schulzeit für ihn schon vorbei. Er war ungefähr zehn Jahre alt, als der Krieg nach Rumänien kam und die Juden systematisch verfolgt und ermordet wurden.
»Mein Vater Saul wurde 1941 zur Zwangsarbeit verpflichtet und war drei Jahre lang von zu Hause weg. In dieser Zeit haben wir ihn kein einziges Mal gesehen«, erinnerte sich mein Opa. »Wir waren in diesen drei Jahren mit unserer Mutter allein zu Hause. Dann wurde meine Mutter ins Krankenhaus eingeliefert, weil ihre Milz geplatzt war. Von da an waren wir vier Kinder auf uns selbst gestellt. Als der Größte unter ihnen musste ich mich um das Essen und alles andere kümmern. Wir hatten Glück, dass mein Vater einen christlichen Mitarbeiter hatte, der seine Bäckerei übernahm. Er lebte im Hinterhaus und brachte uns jede Nacht einen Laib Brot. So brauchte ich mich wenigstens nicht darum zu sorgen, dass wir Brot zu essen hatten. Doch der Mitarbeiter in der Bäckerei hatte Angst, dass ihn jemand sehen und verraten würde. Denn Juden zu helfen, war verboten und wurde mit dem Tode gestraft. Und so gab es Tage, wo er nichts lieferte. >Heute gibt es kein Brot<, sagte er dann.«
Um seine jüngeren Geschwister und sich zu versorgen, musste mein Sabba Geld verdienen. Und so fing er an, für fremde Menschen Holz zu schneiden. »Ich habe das Holz so klein geschnitten, dass man es ganz einfach in den Ofen schieben konnte. Es war eine sehr harte Arbeit und ich war erst zehn Jahre alt - aber ich hatte Arbeit.«
Wenn ich mit Freunden zu Besuch bei meinen Großeltern bin und wir am Essenstisch in der Küche sitzen, gebe ich ihnen voller Stolz den berühmten Gemüsesalat meines Opas zum Probieren. Er wird auch Israelischer oder Arabischer Salat genannt. Mein Sabba hat ein Geheimrezept mit Zitrone und viel Zwiebel, aber das wirklich Besondere an dem Salat ist, wie mein Opa den Salat schneidet - nämlich sehr, sehr klein.
Auch das Holzschneiden war für meinen Opa leider bald zu Ende. Mit zwölf Jahren wurden alle Kinder zur Zwangsarbeit verpflichtet. So musste er mit vielen Gleichaltrigen eine Straße von der Stadt zum Bahnhof bauen. »Und dann kam mein Vater auf einmal nach Hause und sagte, dass sie alle Juden umbringen und wir aus Rumänien wegmüssen«, erzählte mein Opa. Sie machten sich als Familie auf den Weg - durch Transsylvanien zur Grenze nach Ungarn.
»Wir wurden begleitet von einem Mann, dem mein Vater viel Geld gezahlt hatte, um uns zu helfen. An der Grenze eröffneten Beamte das Feuer auf uns. Der >Helfer< lief sofort weg. Und wir flohen auch. Dabei wurde die Familie zerrissen: Vater und Mutter, mein kleiner Bruder Lulu und meine Schwester Hanna rannten zurück nach Rumänien. Mein Bruder Reuven, ein anderer Junge namens Menachem und ich liefen Richtung Ungarn.«
Mein Sabba erzählte, was dann passierte: »Wir waren drei kleine Kinder zwischen sieben und zwölf Jahren, wir hatten nichts zu essen bei uns und sind ganz allein durch die Maisfelder und Wälder gelaufen. Vor Hunger konnten wir kaum gehen. Auf dem Feld aßen wir Mais und Kartoffeln, im Wald die Beeren. Dann versteckten wir uns in einem Maisfeld. Wir blieben dort vielleicht ein oder zwei Tage. Aber es kam uns vor, als wäre es ein ganzer Monat. Wir wussten vor Angst nicht, ob wir nach rechts oder links schauen sollten.«
Als mein Opa mir davon zum ersten Mal erzählte, war er sehr emotional. Ich hatte ihn so noch nie gesehen. Es ist sehr schwierig nachzuvollziehen, was nach diesem Tag passiert ist. In seiner Erinnerung gibt es hier eine große Lücke. Es muss etwas so Traumatisches geschehen sein, dass er sich nicht daran erinnern will oder kann, denn jedes Mal erzählt er etwas anderes. Was ist tatsächlich passiert? Was in seiner Erzählung über die Jahre immer gleich blieb, war die Geschichte aus der Zeit davor - der Beschuss an der Grenze Ungarns - und der Zeit danach - dass er in DP-Lagern in Bayern war. Aber wie kam er in die DP-Lager? Kann sich ein zwölfjähriger Junge zum Kriegsende von Ungarn bis nach Bayern durchschlagen, ohne aufgegriffen zu werden?
Er erzählte, dass er später von einer Ordensschwester namens Maria in einem Kloster versorgt wurde. Das war das Kloster Indersdorf, 16 Kilometer von Dachau entfernt. Er hat auch einmal davon gesprochen, dass er eine sehr kurze Zeit im KZ in Dachau war und von dort mit anderen Kindern geflohen ist. Vom Kloster Indersdorf kam er dann über Rosenheim nach Frankreich und von dort zusammen mit seinem Bruder Reuven nach Israel. Das war nach der Staatsgründung 1948.
Bis in die Sechzigerjahre hinein wurden im israelischen Radio tagtäglich stundenlang Namen verlesen. Auch mein Opa hat seine Familie gesucht: »Paul und Reuven Bostan suchen Saul, Fanny, Hanna und Simon Bostan .« Doch die Suche blieb erfolglos. Mein Opa glaubte dann, seine Eltern und Geschwister seien tot.
25 Jahre später, im Jahr 1973, hatte sich eine kleine rumänische Gemeinde im Süden Israels gebildet - in Be'er Scheva in der Negevwüste, 120 Kilometer südwestlich von Jerusalem. Mein Opa Perez war schon längst erwachsen und sein Sohn Eatan, mein Vater, bereits 19 Jahre alt. In einem rumänischen Gemeindehaus sollte es an einem Sommerabend eine Veranstaltung geben und mein Opa machte sich auf den Weg dorthin. Als er bei dem Gemeindehaus ankam, sah er einen Mann auf einer Bank sitzen. Meinem Opa wurden auf einmal die Knie weich. Er fragte einen Bekannten: »Kennst du den Mann, der da sitzt?« Der antwortete: »Ja, der ist zugezogen, Rumäne natürlich. Saul heißt er.« Mein Opa ging langsam auf den Mann auf der Bank zu und sagte: »Tati. Vater. Ich bin es, Paul.« So fand mein Opa nach 25 Jahren seine Familie wieder. »Das war der schönste Moment in meinem Leben«, sagte er. Alle hatten überlebt. Ein Wunder.
»Sabba. Opa. Wenn du zurück an deine Kindheit in Europa denkst: Was fällt dir dann ein?«
»Die Luft«, antwortete er. »Die Luft war so gut. Wenn ich etwas vermisse, dann ist es die europäische Luft.«
Mein Opa hat nie wirklich über seine Kindheit in Rumänien und die Zeit im Krieg gesprochen. Eigentlich gibt es das Wort »Krieg« für den Zeitraum 1933 bis 1945 in Israel nicht. Bei uns heißt das »Schoa« - der Holocaust. Für uns Juden war diese Zeit kein Krieg, sondern ein Massaker. Du wirst damit schon konfrontiert, wenn du im Kindergarten bist.
Der Holocaust-Tag heißt »Tag des Gedenkens an die Schoa und Heldentum«. Die schrecklich laute Sirene, die dann zu hören ist, erschreckte mich schon als kleiner Junge im Kindergarten. Um zehn Uhr morgens heulen dann in ganz Israel die Sirenen - volle zwei Minuten lang. Die Menschen lassen alles stehen und liegen. Die Autos auf den Straßen stehen still, die Busse und Züge halten an - rund sechs Millionen jüdische Israelis bleiben schweigend und wie eingefroren stehen. Die Fahnen wehen auf Halbmast und im Radio gibt es nur traurige Musik zu hören, im Fernsehen nur Dokumentationen und Filme über den Holocaust zu sehen.
Schon als vierjähriges Kind hörte ich die grauenvollen Geschichten des Holocausts - dass andere uns so gehasst haben, dass sie versucht haben, uns auszulöschen, und sie Millionen von uns ermordet haben. Ich erinnere mich, dass ich wie alle anderen Kinder in meiner Schulklasse von unserer Lehrerin gefragt wurde, ob wir jemanden in der Familie haben, der ein Holocaustüberlebender ist. Ich wusste schon irgendwie, dass meine rumänischen Großeltern während des Holocausts Kinder waren, aber die genaue Geschichte hatte ich noch nicht gehört. Mein Vater und seine Geschwister haben ihre Eltern nie gefragt, was genau im Holocaust passiert ist. Es war wie ein Tabu. Man hat...
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