Schweitzer Fachinformationen
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Der Nebel zog in geisterhaften Schleiern durch Venedigs Gassen. Tiefschwarz thronte der Nachthimmel über den Dächern, die Kanäle glühten im Schein der Laternen, als bestünden sie aus dunklen Spiegeln, und während Milou durch die verwaisten Straßen lief, konnte sie die Stille atmen hören: wispernd wie ein Geheimnis. Sie liebte es, Venedig in dieser Jahreszeit zu besuchen, wenn der nahende Winter die Schatten schon am Nachmittag in den Hinterhöfen tanzen ließ und nur das leuchtende Rot ihres Koffers die Illusion störte, in eine Schwarz-Weiß-Fotografie aus lang vergangener Zeit geraten zu sein. Die Sommermonate, in denen die schmalen Gassen aus allen Nähten platzten und riesige Kreuzfahrtschiffe im Hafen anlandeten, waren fern, und mit jedem frostigen Pinselstrich verwandelte die Stadt sich stärker zurück in das, was sie eigentlich war: eine Zauberin, gegen deren Magie Milou seit jeher machtlos gewesen war.
Ihr Koffer rumpelte in störrischem Stakkato über das Pflaster, als wollte er seinen Unmut darüber kundtun, dass sie ihn durch die halbe Stadt zerrte, obwohl es doch verflucht noch eins kürzere Wege gab, um an ihr Ziel zu kommen. Fast meinte sie, in dem ärgerlichen Poltern die Stimme ihres Onkels Mathis zu hören, der ihr eindringlich geraten hatte, die Strecke vom Bahnhof mit einem Vaporetto zurückzulegen. Sie sah ihn vor sich, wie sie sich in Paris verabschiedet hatten: das Gesicht so sorgenvoll, als hätte er sie in ein Kriegsgebiet fahren lassen, und die Augen dunkel umwölkt wie immer, wenn der seltene Fall eintrat, dass er in einer Angelegenheit keine Wahl hatte. Er hasste nichts mehr, als keine Wahl zu haben. Aber die Renovierungsarbeiten in seiner Wohnung verzögerten sich, und während er in dieser Zeit auf Geschäftsreise war, hatten Maler und Bodenleger Milou obdachlos gemacht. Sie selbst hätten Farbgeruch und Baulärm nicht gestört, doch Mathis bestand darauf, dass sie sich auch in den Ferien dem Lernen widmete. Denn trotz der teuren Privatschulen, auf die er sie in den vergangenen Jahren geschickt hatte, war es ihr nicht gelungen, ihre Leistungen seinen Ansprüchen anzupassen. In wenigen Wochen würde daher eine Armada von exzellenten Nachhilfelehrern auf sie warten, um sie unter Mathis' strengem Blick durch das letzte Schuljahr zu begleiten, und so hatte er einen ruhigen Ort für sie finden müssen, an dem sie sich angemessen darauf vorbereiten konnte. Das war alles andere als einfach gewesen. Er selbst konnte auf Reisen keine Ablenkung gebrauchen, ihre beste Freundin Celine war mit ihren Eltern in Mexiko, und Milou musste grinsen, als sie daran dachte, wie sie nach einer angemessenen Pause Venedig vorgeschlagen und Mathis' Gesicht sich verfinstert hatte. In derselben Sekunde hatten sie beide gewusst, dass die Stadt in der Lagune ihre einzige Möglichkeit war. Und so verbrachte sie die Ferien bei Nonna, ihrer Großmutter - zum Unwillen ihres Onkels und zu ihrer Freude.
Nonna war die warmherzigste, verrückteste Person, die Milou kannte. Sie hatte keine Ahnung von Computern oder Handys, schickte ihr aber regelmäßig Briefe mit gepressten Blumen und Fotos ihrer Katzen (wobei sie stets betonte, dass sie viel mehr den Katzen gehörte als umgekehrt), sie tanzte barfuß im Regen, sie setzte sich lustige Hüte auf und lief damit durch die Straßen, wenn sie Milou zum Lachen bringen wollte, sie düste mit ihrem knallrot gestrichenen Motorboot so rasant durch die Kanäle, dass selbst erfahrene Venezianer auf dem Wasser vor ihr Reißaus nahmen, und sie sang düstere Lieder aus dem Reich der Sagen und Legenden. Bisweilen hatte sie Milou in Paris besucht, dann war sie wie ein farbiger Fleck gewesen in dieser riesigen Stadt und hatte Mathis' nüchternes Penthouse mit Blumen und bunten Bildern vollgestellt. Immer wieder hatte Milou ihren Onkel in den letzten Jahren gedrängt, ihr einen Gegenbesuch abstatten zu dürfen, doch meist hatte er abgelehnt, kühl und sachlich wie immer, vielleicht aus Furcht vor den Erinnerungen, die auch ihn zwischen diesen Häusern heimsuchen könnten, vielleicht auch aus Sorge vor diesen Gassen, die das Träumen so leicht machten, dass allzu schnell jede Strenge und Rationalität, die er Milou in den vergangenen Jahren mühsam versucht hatte beizubringen, in flüsternden Schatten untergingen. Rationalität. Milou musste lächeln, als sie die Stimme ihrer Großmutter über dieses Wort stolpern hörte, als wäre es nichts als eine Illusion für all jene, die nicht genug Fantasie hatten, die Wahrheit rings um sie herum zu erkennen.
Sie ließ den Blick über die vom Hochwasser gezeichneten Fassaden schweifen und stellte sich vor, wie Mathis diese Gassen betrachten würde: abschätzig und mit kühler Strenge in seinen hellen blauen Augen, als begutachtete er eine der maroden Firmen, die er aufkaufte, um sie gewinnbringend wieder loszuschlagen. Sie seufzte. Mathis hatte es gut gemeint, als er ihr zu dem Wassertaxi geraten hatte. Er selbst legte größten Wert auf komfortables Reisen. Aber er verstand nicht mehr von Venedig als ihr Koffer, und daher wusste er nicht, dass es für sie nur eine Art gab, wirklich in dieser Stadt anzukommen. Schritt für Schritt hatte sie in das Labyrinth der Gassen eintauchen und den Geruch in sich aufnehmen müssen, den sie nirgends so intensiv wahrnehmen konnte wie hier: den Duft ihrer Kindheit nach Meer, Geheimnis und Abenteuer . ein Duft voller Erinnerungen, den Mathis verabscheute, so sehr, dass er es nicht über sich gebracht hatte, sie durch diese Gassen zu begleiten.
Milou nahm es ihm nicht übel. Zu deutlich sah sie ihn vor sich, wie er in jener Nacht vor vielen Jahren auf dem Flur im Krankenhaus von Venedig gestanden hatte, ihr kühler, unnahbarer Onkel, die Hand gegen die Tür gestützt, hinter der ihre Eltern den Kampf um ihr Leben verloren hatten. Nie hatte sie Mathis weinen sehen bis zu diesem...
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