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Der Frosch war tot, daran gab es keinen Zweifel. Er war es bereits, als Hazel Sinnett ihn fand. Sie hatte gerade ihren täglichen Spaziergang nach dem Frühstück gemacht, als sie das Tier auf dem Gartenweg entdeckt hatte. Es lag auf dem Rücken, als wollte es ein Sonnenbad nehmen.
Hazel konnte ihr Glück kaum fassen. Ein Frosch, der einfach so dalag. Fast konnte man meinen, er sei eine Opfergabe, ein Zeichen des Schicksals. Der Himmel war an diesem Tag hinter schweren grauen Wolken verschwunden, die einen baldigen Regen ankündigten. Anders ausgedrückt: Das Wetter war perfekt. Doch lange würden die idealen Bedingungen nicht anhalten. Sobald es anfing zu regnen, wäre ihr Experiment ruiniert.
Versteckt hinter den Azaleenbüschen, stellte Hazel sicher, dass niemand sie beobachtete (ihre Mutter schaute doch nicht etwa aus dem Schlafzimmerfenster im zweiten Stock, oder?), ehe sie sich hinkniete, den Frosch wie beiläufig in ihr Taschentuch wickelte und ihn in den Bund ihres Unterrocks steckte.
Die Wolken kamen näher. Da die Zeit begrenzt war, brach die junge Lady ihren Spaziergang frühzeitig ab, machte kehrt und lief eilig zurück Richtung Hawthornden Castle. Sie würde den Hintereingang nehmen, damit sie von niemandem behelligt werden und auf direktem Wege in ihr Zimmer hinaufhuschen konnte.
Eilig betrat sie die Küche, in der eine wahnsinnige Hitze herrschte. Der gusseiserne Topf auf dem Herd spie große Dampfwolken und an allem haftete ein penetranter, stechender Geruch. Eine halb gehackte Zwiebel lag verlassen auf einem Holzbrett und jemand hatte offensichtlich das Messer fallen gelassen. Alles war mit Blut verschmiert. Hazel folgte der roten Spur und entdeckte Cook, die auf einem Hocker am Herd saß und sich die Hand hielt, während sie sich hin und her wiegte und leise stöhnte.
»Oh!«, rief die Köchin, als sie Hazel sah. Ihr Gesicht war tränenüberströmt und noch röter als sonst. Cook wischte sich über die Augen, stand auf und versuchte, ihre Röcke glatt zu streichen. »Miss, ich habe Sie hier unten nicht erwartet. Ich . ruhe nur ein wenig meine schmerzenden Beine aus.« Sie versuchte, ihre Verletzung unter der Schürze zu verstecken.
»Du blutest ja!« Hazel trat an Cook heran, um sich die Wunde aus nächster Nähe anzuschauen. Kurz dachte sie an den Frosch, der in ihrem Unterrock zerquetscht wurde, und an das aufziehende Unwetter, aber der Gedanke währte nur kurz. Sie musste sich jetzt auf den Fall konzentrieren, den sie unmittelbar vor sich hatte. »Lass mich mal sehen.«
Die Köchin zuckte zusammen, als Hazels schlanke Finger die ihren berührten. Der Schnitt reichte bis tief in den fleischigen Ballen der mit Schwielen überzogenen Hand.
Die junge Lady wischte sich ihre eigenen Hände am Rock ab und schenkte Cook ein aufmunterndes Lächeln. »Das ist gar nicht so schlimm. Bis zum Abendessen bist du wieder wie neu. He, du«, rief sie einer Spülmagd zu, »Susan, richtig? Holst du mir bitte eine Nähnadel?« Die scheue junge Frau nickte und huschte davon.
Mit eiligen Schritten holte Hazel eine Spülschüssel, stellte sie vor Cook ab und wies sie an, die verletzte Hand darin zu waschen und anschließend mit einem Geschirrtuch abzutrocknen. Ohne das Blut und den Ruß war der Schnitt nun deutlich zu erkennen. »Wenn alles erst mal abgewaschen ist, sieht es gar nicht mehr so schlimm aus«, erklärte Hazel.
Susan kehrte mit der Nadel zurück. Die junge Lady hielt sie so lange ins Feuer, bis sie schwarz wurde, ehe sie ihren Rock anhob und einen langen Seidenfaden aus ihrem Unterkleid zog.
Cook keuchte auf. »Ihre guten Sachen, Miss!«
»Ach, papperlapapp, das macht doch nichts, wirklich. Ich fürchte, das wird jetzt ein bisschen wehtun. Bereit?« Die Köchin nickte. So zügig wie möglich führte Hazel die Nadel in die verletzte Handfläche und begann, die Wunde mit engen Stichen zu verschließen. Alle Farbe wich aus Cooks Gesicht und sie presste fest die Augen zu.
»Ist gleich vorbei . fast geschafft . uuund fertig.« Hazel versah den Seidenfaden mit einem raffinierten Knoten und biss das überstehende Stück ab. Als sie ihre Arbeit begutachtete, musste sie lächeln: winzige, saubere und gleichmäßige Stiche. Endlich waren die todlangweiligen Stickübungen aus ihrer Kindheit mal zu etwas zu gebrauchen. Erneut hob Hazel ihren Rock an - vorsichtig diesmal, als würde sie den Frosch nicht bei seinem Schlaf stören wollen - und riss einen breiten Streifen Stoff von ihrem Unterkleid ab, noch ehe Cook Einspruch erheben oder wegen des weiteren Schadens erschrocken aufschreien konnte. Sie wickelte ihn fest um die frisch genähte Hand. »Also, nimm heute Abend bitte den Verband ab und wasch die Wunde. Morgen komme ich wieder und lege eine Heilpackung an. Und sei vorsichtig mit dem Messer.«
Cook hatte zwar noch immer Tränen in den Augen, schaute jedoch auf und schenkte Hazel ein dankbares Lächeln. »Vielen Dank, Miss.«
Danach schaffte es Hazel ohne weitere Zwischenfälle in ihr Zimmer, von wo aus sie sofort auf den Balkon hinauslief. Der Himmel war nach wie vor grau, es hatte noch nicht geregnet. Sie atmete auf und fischte das Taschentuch mit dem Frosch darin aus ihrem Rocksaum. Sie wickelte es auf und ließ das Tier mit einem nassen Platschen auf die steinerne Balkonbrüstung fallen. Hazels liebste Orte auf Hawthornden waren die Bibliothek - mit der grün marmorierten Tapete, den ledergebundenen Büchern und dem Kamin, in dem jeden Nachmittag ein Feuer entzündet wurde - und der Balkon vor ihrem Zimmer, von dem aus sie meilenweit auf nichts als Natur blicken konnte. Ihr Zimmer lag zur Südseite des Schlosses, sodass sie den aus dem Herzen Edinburghs aufsteigenden Rauch nicht sah und sich leicht vorstellen konnte, hier, nur eine Stunde von der Stadt entfernt, ganz allein auf der Welt zu sein. Eine Forscherin am äußersten Rand allen menschlichen Lebens, die in diesem Moment ihren Mut zusammennahm, um einen großen Schritt nach vorn zu tun.
Hawthornden Castle war auf Felsklippen erbaut, seine efeubedeckten Steinmauern erhoben sich über den ungezähmten Wäldern Schottlands und einem schmalen Bachlauf, der weiter führte, als Hazel ihm je hatte folgen können. Hier lebte ihre Familie väterlicherseits bereits seit über hundert Jahren. Die Mauern, der Ruß, das Gras und das Moos auf den alten Steinen - die Geschichte der Sinnetts haftete an allem hier.
Infolge einer kleinen Serie von Küchenbränden im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts war ein Großteil des Schlosses auf seinen eigenen Überresten neu erbaut worden. Die einzigen Überbleibsel des ursprünglichen Castles waren das Tor unten an der Zufahrt und ein in den Berghang gehauenes Verlies. Letzteres wurde jedoch seit Menschengedenken nicht mehr genutzt, außer als Drohung, wenn Mrs Herberts Percy dabei erwischte, wie er vor der Teestunde Pudding stahl. Abgesehen davon hatte der Diener Charles einmal gewettet, sich einen ganzen Tag lang darin einschließen lassen zu können, nur um dann doch nur eine Stunde durchzuhalten.
Die meiste Zeit hatte Hazel das Gefühl, vollkommen allein auf Hawthornden Castle zu wohnen. Percy war meist in seinem Zimmer und spielte oder hatte Unterricht. Ihre Mutter, die noch immer Trauer trug, verließ kaum ihr Schlafzimmer oder schwebte umher wie eine schwarzgewandete Seele aus dem Totenreich. Auch wenn sie sich manchmal ziemlich einsam fühlte, war Hazel meistens doch dankbar, allein zu sein. Vor allem dann, wenn sie experimentieren wollte.
Der tote Frosch war klein und schlammbraun. Seine dünnen Beinchen, die vorhin, als sie ihn vom Weg aufgelesen hatte, schlaff auf ihrer Hand gelegen hatten wie die Arme einer Stoffpuppe, fühlten sich jetzt steif und unangenehm klebrig an. Doch immerhin war er tot und ein Gewitter zog auf. Es war perfekt. Alles war so, wie es sein sollte.
Hinter einem Stein auf dem Balkon holte sie einen Schürhaken und die Küchengabel hervor, die sie vor einigen Wochen heimlich eingesteckt hatte, während sie noch darauf wartete, dass genau diese Situation eintreten würde. Bernard war furchtbar unpräzise in Bezug auf das Metall gewesen, das der Wissenschaftszauberer in der Schweiz benutzt hatte. (»War es Messing? Verrate mir doch wenigstens, welche Farbe es hatte!« - »Ich sage doch, ich weiß es nicht mehr.«) Daher hatte Hazel beschlossen, es einfach mit denjenigen Metallgegenständen zu probieren, die sie leicht und unauffällig entwenden konnte. Der Schürhaken stammte aus dem Studierzimmer ihres Vaters. Es war ein Raum, den selbst die Bediensteten nicht mehr betraten, seit ihr Vater und sein Regiment vor Jahren auf St. Helena stationiert worden waren.
Ein fernes Donnergrollen hallte von dem vor ihr liegenden Tal wider. Die Zeit war gekommen. Nun würde sie die Barriere zwischen Leben und Tod durchbrechen, würde totes Fleisch mithilfe von Elektrizität wiedererwecken. Wunder waren nichts anderes als Wissenschaft, die der Mensch nur noch nicht verstand. Und wurde das alles nicht noch viel wunderbarer dadurch, dass die Geheimnisse des Universums irgendwo da draußen waren und man sie entschlüsseln konnte, wenn man nur klug und hartnäckig genug war?
Behutsam platzierte Hazel den Schürhaken an die eine Seite des Froschs, um anschließend zur Küchengabel zu greifen und sie mit feierlicher Ehrfurcht an der anderen Seite anzulegen.
Nichts geschah.
Sie schob Gabel und Schürhaken näher an den Frosch heran, bis beide seine Haut berührten. Sollte sie .? Nein. Wenn der Kopf des Sträflings aufgespießt worden wäre, hätte Bernard das erwähnt. Als er von seiner großen Reise zurückkam, hatte sie ihn atemlos mit Fragen über diese Vorführung...