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4. September 1963
Hey, hey, bop shuop. Sie lehnte in ihrer Zelle am Gitter und lauschte den Klängen. M'bop bop shuop. Nun, wo alles, was sie sich mühsam erarbeitet hatte, zerbrochen war, klammerte sie sich an die Musik - das Einzige, was ihr jetzt noch Halt gab. Sofort setzte sich der Rhythmus in ihrem Körper fest. Sie konnte einfach nicht anders, ihre Füße, ihre Schultern zuckten im Takt. Schon erstaunlich, dass diese Band aus Liverpool seit neuestem sogar vom Bayerischen Rundfunk übertragen wurde und es so bis in den Keller des Starnberger Polizeireviers geschafft hatte. Na ja, mehr schlecht als recht - das Radio rauschte und knisterte. Vermutlich waren die Mauern einfach zu dick, schließlich wurden Verbrecherinnen wie sie hier gefangen gehalten. Egal, wie oft Wachtmeister Klein am Regler drehte, er brachte einfach keinen klaren Empfang zustande. Ihm war es sichtbar unangenehm gewesen, sie zu verhaften. Deshalb hatte er sich auch sofort bereit erklärt, auf sie aufzupassen, als seine Kollegen zum nächsten Einsatz ausrückten. In Starnberg ging es gerade hoch her.
Well, I talk about boys, don't ya know I mean boys, well . Was sie nicht hörte, ergänzte sie in ihrem Inneren, sie kannte den Text auswendig. Wegen dieses Liedes hatte sie vor einem halben Jahr stundenlang vor dem Münchner Plattenladen angestanden. Zusammen mit einem Dutzend Jugendlicher aufgeregt bangend, dass ja nicht alle Singles ausverkauft waren, bevor sie an die Reihe kam. Und tatsächlich, sie erhielt eine der letzten Scheiben, die Wartenden hinter ihr gingen leer aus. Im Sommer, als dann endlich das Album Please Please Me auf den Markt kam, war der Andrang noch größer gewesen. Manche campierten sogar vor den Geschäften, nur um eine der heißbegehrten Langspielplatten zu ergattern. Mit ihren einunddreißig Jahren war sie sich unter diesen ganzen jungen Leuten steinalt und merkwürdig fehl am Platz vorgekommen. Sie kleidete sich zwar immer noch modisch, trug heute einen Minirock aus Manchester zu engen Schnürstiefeln und hatte sich auch ihre Haare toupiert, aber irgendwie war ihr auf einmal bewusstgeworden, dass ihr die Leichtigkeit von früher abhandengekommen war, diese Sicherheit, dass sich alles schon von selbst finden würde.
What a . rrrrschhhsch . of joy. Die Pilzköpfe quälten sich weiterhin durch den Äther.
Dietrich Klein gab auf und widmete sich seiner Brotzeit. Sie sollte sich an ihn halten, Dietrich, sein Vorname klang wie der Schlüssel zur Freiheit.
»Möchten's ein Stück?« Bevor er in die Leberkässemmel biss, hielt er sie ihr ans Gitter, als wäre endlich Fütterungszeit für das Zootier. Obwohl ihr Magen anderer Meinung war, verneinte sie.
»Wirklich nicht? Ist ganz frisch, von in der Früh, der Leberkas ist fast noch warm.«
Sie schüttelte den Kopf, wollte ihm nicht erklären, dass sie schon länger kein Fleisch mehr aß. Bei einer Zigarette wäre sie dabei, aber Klein rauchte offenbar nicht. Vielleicht war es besser so. Sie erlaubte es sich auch nur noch in Ausnahmesituationen, jedenfalls in solchen, die sie bis heute dafür gehalten hatte. Wenn es danach ginge, sollte sie sich gleich eine ganze Schachtel gönnen. Sie zupfte an ihren Fingernägeln. Der Daumennagel war eingerissen, die Nagelhaut blutete leicht. Das musste bei ihrer Festnahme passiert sein, als sie ihr die Arme auf den Rücken gedreht und die Handschellen angelegt hatten. Die kleine Schere, die sie in ihrem Kittel bei sich trug, hatte man ihr auch abgenommen, zusammen mit ihrem Stethoskop, den Schuhbändern und dem Ledergürtel, der kaum schmaler als ihr Minirock war.
»Am Büstenhalter können Sie sich ja nicht erhängen«, hatte Kleins Kollege, ein glupschäugiger Kerl, gescherzt und ihre Oberweite gemustert. »Sie tragen offenbar keinen.«
Er leckte sich die Lippen. Selten um eine Antwort verlegen, war ihr in diesem Moment nichts eingefallen. Verflixt, wie hatte es nur so weit kommen können? So vielen Frauen hatte sie schon aus der Not geholfen, und immer war alles glattgegangen. Ausgerechnet bei Luise mussten sie sie erwischen. Schlagartig stand ihre ganze Existenz auf dem Spiel. Jetzt, wo sie so viel erreicht hatte, mehr, als sie sich jemals erträumt hatte. Wenn sie verurteilt würde, verlor sie nicht nur die Zulassung, der Staat nahm ihr auch das Kind weg. Jemand musste sie verraten haben, aber wer?
Der andere Polizist, der mit den übergroßen Augäpfeln, stürmte herein. »Einsatz, Dietrich, los.« Er zupfte sich an der Nase, als könnte er damit seinen Rundumblick regulieren. »Wir müssen ausrücken. Am See gab's einen Gammleraufstand. Die rotten sich zusammen, sind schon auf dem Weg in die Stadt.«
»Etwa die Obdachlosen vom Bahnhof? Was haben die wieder angestellt?«
»Naa, irgendwelche Wilden, die am See herumlungern, vermutlich Studenten. Jedenfalls spielen sie ein ähnliches Gedudel wie du hier.«
Sofort drehte Klein das Radio aus, legte die Semmel weg und klopfte sich die Hände ab. »Und was sollen wir tun?«
»Das Übliche, die Personalien aufnehmen, nach Drogen suchen. Angeblich rauchen die stärkeres Zeug als Tabak, hat es geheißen, dazu laufen sie alle halbnackt herum.«
»Auch, äh, die Weiber?« Klein wischte sich über den Mund und schielte kurz zu ihr.
Der andere nickte. »Freu dich nicht zu früh. Die Kerle haben sogar Blumen in den Haaren.«
»Echt? Sind die vom anderen Ufer?«
»Weiß ich doch nicht. Ist mir auch egal, ob die aus Berg oder Ambach oder von sonst woher stammen, weg müssen sie jedenfalls.«
»Nicht von der anderen Seeseite, ich mein, ob das Hundertfünfundsiebziger sind, wegen der Blumen.«
»Ach so, das glaube ich kaum, so, wie die mit ihren Gspusis rummachen, aber bei diesen Gammlern weiß man es nie, vielleicht fahren die auch zweigleisig. Männlein und Weiblein sind bei denen sowieso kaum zu unterscheiden, mit diesen langen Haaren. Mein Lucki, wenn der mir eines Tages so daherkommt, dem schneide ich eigenhändig die Zotzen ab.«
»Der ist doch erst drei.«
»Sein Glück! Und auch, dass er noch nicht in die Schule geht, dort lernen sie nämlich neuerdings solch einen Schmarrn. Also los, es gab eine Anzeige, öffentliches Ärgernis, die Anwohner und auch die Hotelgäste vom Bayerischen Hof fühlen sich belästigt.«
Vermutlich waren die jungen Leute einfach bloß mit Gitarre und Tamburin auf einer Wiese gesessen und lösten allein durch diesen friedlichen Anblick bei den Starnberger Spießbürgern Wut aus, dachte sie sich, als sie den beiden zuhörte.
»Und was machen wir mit ihr?« Mit einer Kopfbewegung zeigte Klein auf sie in der Zelle.
»Nichts, die läuft uns schon nicht davon, kriegt höchstens gleich Gesellschaft von ihresgleichen.« Man zählte sie noch zur Jugend, wenigstens das. »Schauen wir mal, wie viele Gammler in eine Zelle passen.« Der Mann lachte.
»Aber das ist doch eine Doktorin.« Klein flüsterte nun. »Meine Frau hat vor drei Wochen bei ihr entbunden.«
»Bist du etwa befangen, Dietrich?«
»Ich? Ich war doch nicht dabei. Also bei der Geburt. Aber die Gerda war superzufrieden, und das krieg ich selten selber hin.«
»Super, aha. Redest du jetzt auch schon wie die? Na, dann wirst du dich ja mit den Gammlern verstehen. Komm, wir müssen.« Endlich stand Klein auf, schüttelte sich die Semmelbrösel von der Diensthose, steckte den Schlüsselbund ein und ging mit Polizist Gscheithaferl hinaus.
Sie lauschte den Schritten der beiden nach. Das Radio rauschte noch immer, wahrscheinlich hatte Dietrich den Knopf nicht ganz ausgedreht. Irgendwo tropfte ein Wasserhahn. Plopp, ploppplopp, plopp. Sie hätte sich ein Lied dazu ausdenken können, doch ihr war nicht mehr danach. Die Angst schlich sich in die Zelle, machte es sich bequem und feixte zu ihr herüber, als hätte sie gewusst, dass sie am Ende die Oberhand gewann. Was, wenn die Polizisten nie mehr zurückkamen, sie einfach vergaßen oder sie aushungerten, bis sie zwischen den Gitterstäben hindurchfiel? Ausgerechnet heute, an diesem besonderen Tag, saß sie hier fest. Im wahrsten Sinne. Bei Dahlmanns feierten sie bestimmt längst. Wie sie Luise kannte, hatte sie lauter Köstlichkeiten vorbereitet, als Geschenk zum Zehnjährigen für die Kunden und Gäste. Kaum zu glauben, dass die Ladeneröffnung schon so lange zurücklag. Es waren harte Jahre gewesen, Zeiten der Entbehrung, der Willensstärke und der Sorge um das Morgen, aber auch Momente der Freude, der Errungenschaften und des Glücks. Trotzdem fühlte es sich im Rückblick wie ein Wimpernschlag an, allenfalls wie ein paar Seiten in einem Roman. Umso mehr war das Jubiläum ein Grund, gemeinsam zu feiern. Ach, wenn sie doch nur dabei sein könnte! Lärm drang an ihr Ohr. Getrappel und lautes Rufen. Draußen gab es einen Tumult. Sie ging zum Fenster, das eher eine mit Hasendraht vergitterte Kellerluke war, durch die kaum Licht fiel. Es klirrte. Sie zuckte zurück, als etwas gegen die Scheibe flog.
Von wegen Jubiläum. Das Schild an der Tür war auf »Geschlossen« gedreht. Der Wind blies durch die Lücke in der Mauer und wehte Herbstlaub herein, als hätte im Dahlmannhaus ein Erdbeben gewütet. Luise stand auf, zog die Plane wieder vor das Loch und lehnte den Besen dagegen. Wenigstens reinregnen sollte es nicht. Ein Notbehelf, für mehr blieb jetzt keine Zeit. Kurz schweifte ihr Blick durch den Laden, der kaum wiederzuerkennen war. So viele Jahre hatte sie ihn gehegt und gepflegt, stets das Sortiment erweitert, Reklame gemacht, Rabattaktionen geplant, um die Stammkunden zu halten und gelegentlich zum Staunen zu...
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