Schweitzer Fachinformationen
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Oberstdorf
»Viele Wege führen zu Gott, mancher davon über die Berge.« Hochwürden Hollwecker begrüßte sie um fünf Uhr früh im Freien und wies sie in den Ablauf der Wallfahrt ein. Sein Atem bildete Wolken, die in der Luft hängen blieben. Es war noch eiskalt an diesem Junimorgen, und Liesl fröstelte in ihrem dünnen Kleid, das absichtlich weit geschnitten war, so dass sich jeder Windhauch darin fing. Ihren beiden Schwestern erging es ähnlich.
Leni, die Fünfzehnjährige, die sowieso kaum etwas auf den Rippen hatte, rückte näher heran. »Wann geht's los?«, fragte sie. Bei ihr färbten sich bereits die Lippen blau.
»Gleich, nach dem Segen.« Rasch zog Liesl sie zu sich, und hakte auch Gundel unter, die ältere, die fast siebzehn war. Nun bibberten sie zusammen, trippelten auf der Stelle, damit wenigstens die Füße in den genagelten Schuhen warm blieben. Die meisten Bittgänger waren besser ausgerüstet, trugen Walkjanker oder bodenlange Umhänge, unter denen es mollig warm sein musste. Doch bei ihnen ging es nicht anders, das hatte Liesl ihren Schwestern erklärt. Jede weitere Schicht und jedes Stück mehr in den Rucksäcken würde ihnen bloß den Rückweg erschweren.
Trotzdem hatte sich Gundel geweigert, Oma Iffis altes Kleid anzuziehen, in das Liesl extra für diesen Zweck weitere, andersfarbige Stoffbahnen eingenäht hatte. »In dem Fetzen geh ich doch nicht nach Tirol.« Also war sie nochmal zurückgelaufen, hatte sich umgezogen und trug nun ihr Sonntagsgewand. Ein dunkelblaues Dirndl mit rot-weiß gestreifter Schürze, das Liesl ihr zum Namenstag genäht hatte und auf das Gundel so stolz war. Wie hätte Liesl ihr das ausreden können, zumal sie den Schwestern erst nach und nach erklären wollte, dass es bei diesem Ausflug nicht nur um die jährliche Abbitte ging. Mittlerweile waren sie alt genug, um auf diese Weise ihren Teil zum Familienunterhalt beizutragen, und Liesl hätte endlich Gelegenheit auszusteigen. Ihr reichte es, dem Nervenkitzel zum Trotz, den auch sie jedes Mal spürte. Das Zusatzgeschäft, das ihre Familie seit Generationen betrieb, zermürbte sie. Je älter sie wurde, umso mehr. Gerade hinterher, wenn alles überstanden und Gott sei Dank glimpflich ausgegangen war, schwor sie sich, dass dieses das letzte Mal gewesen war. Besonders angesichts des Leids, das ihrer Mutter dabei widerfahren war. Man sprach im Hause Pongratz nicht darüber, man nahm es hin, als wäre es der Preis, den man gelegentlich zahlte, um der Obrigkeit ein Schnippchen schlagen zu können. Sollte doch einer von ihnen verhaftet werden, wollte man so die anderen schützen. Wer nichts weiß, kann nichts verraten. Das war eine der vielen Weisheiten, in die Liesl wie selbstverständlich hineingewachsen war, von Jahr zu Jahr.
Von alldem ahnten Gundel und Leni hoffentlich noch nichts. Zu gegebener Zeit, im Laufe der Bergwanderung, sobald sie auf der anderen Seite waren, würde Liesl sie über alles Nötige in Kenntnis setzen. Heute war es so weit. Sie fingen an, und Liesl verließ die Familientradition. Es sei denn .? Nun, gab es nicht auch eine andere Möglichkeit? Nein, sie hatte sich im Namen der Familie bereit erklärt, sie war verantwortlich. Ein Zurück gab es nicht.
Sie schaute nach oben, flehte um Beistand. Von der Sonne war nichts zu sehen. Nebel drückte herab und verschluckte die Häuser ringsum. Sie kam sich vor, als wären sie Überlebende, die auf einer Insel gestrandet waren, wo sie sich anstatt um Palmen um die drei Lorettokapellen von Oberstdorf drängten. Gespannt harrten sie aus, um gleich ins Nirgendwo auszuschwärmen.
»Zusammenbleiben ist das oberste Gebot«, ermahnte sie Hollwecker. »Fallt beim Gehen nicht zurück. Wenn jemand nicht mehr kann oder austreten muss, habt keine Scheu und gebt Bescheid. Lieber rasten wir einmal mehr, als dass wir einen Absturz oder Angriff riskieren.«
»Wer will uns denn angreifen?« Gundel drückte sich dicht an Liesl.
»Niemand«, erwiderte sie. Gundels dichter Haarkranz kitzelte sie am Hals.
»Ja, die Pongratz-Madln sind auch hier, schau an, was für eine Augenweide, eine schöner wie die andere.« Ein großer bärtiger Mann hangelte sich durch die Gruppe und lupfte den Jägerhut, auf dem ein Gamsbart wackelte. Es war Hubert Wegscheidt, den Liesl schon vom letzten Jahr kannte. Mit seinem Aufzug ähnelte er dem Prinzregenten, auch wenn Hubert um einige Jahrzehnte jünger sein durfte als Seine Königliche Hoheit, die bereits auf die neunzig zuging. Der bayerische Herrscher, Prinzregent Luitpold, gab sich gerne volksnah in Tracht, und er war das Schönheitsideal jedes älteren Mannes. »Dieses Jahr mit Verstärkung, Liesl?« Sie nickte, stellte ihm ihre Schwestern vor. Hurtig ließ Hubert den Schellenkranz, den er in der Rechten hielt, in der Manteltasche verschwinden und schüttelte ihnen allen kräftig die Hand. »Zammg'frorene Klupperl habt's. Meiomei. Wollt ihr euch nicht wärmer anziehen, bis es auf die knapp zweitausend raufgeht?«
»Wir vermeiden lieber unnötigen Ballast. Du wirst sehen, so sind wir schneller auf dem Maedelejoch als du.« Im Stillen bereute Liesl es jedoch, dass sie nicht wenigstens ihre Strickjacken mitgenommen hatten. Im Gegensatz zu ihnen trug Hubert einen weiten, langen Lodenmantel mit breitem Kragen, den er bis zur Hutkrempe hochgezogen hatte. Im Rockschoß waren sogar Extrabahnen eingearbeitet worden. Der Mantel schien eine Spezialanfertigung zu sein, oder er hatte vorher einem korpulenteren Herrn gehört. Derjenige musste ein Riese von einem Mannsbild gewesen sein. »Vertrittst du mit deinen Schellen heute den Oberministranten?« Bei jeder Bewegung bimmelte es gedämpft in Huberts Manteltasche.
»Ist nur zur Abschreckung, für den Fall, dass uns Wölfe und Bären begegnen.«
»Gibt's die da oben?« Auch Leni klammerte sich jetzt an Liesl.
»Keine Angst, ich hab noch nie welche gesehen, wilde Tiere meiden Menschen, noch dazu eine ganze Gruppe wie uns«, versuchte sie sie zu beruhigen.
»Und der Herrgott beschützt uns auch.« Gundel wies auf das Kruzifix an der Stange, das ein Oberstdorfer vorantragen würde.
»Der Jesus ist aber gwampert«, flüsterte Leni. »Schaut mehr wie der Herr Pfarrer mit seinem Bierbauch aus. Wer hat denn den geschnitzt?«
»Pssst.« Liesl unterdrückte ein Schmunzeln. »Ein Oberammergauer nicht.«
»Und der Papa schon gar nicht«, ergänzte Gundel.
»Lasset uns beten.« Endlich fand Hollwecker ein Ende, bevor sie noch auf dem Kirchplatz festfroren, und alle fielen ins Vaterunser ein.
Der Nebel erschwerte die Sicht, als sie losmarschierten. Was für ein Sommerbeginn. Immerhin regnete es nicht. Dabei war das Wetter im siebzehnten Jahrhundert der ursprüngliche Auslöser für die Wallfahrt gewesen: Als die Dürre den Bauern die Existenz zu nehmen drohte, hatten sich die Bayern mit dem Gottessohn samt Fahnen auf den Weg nach Tirol gemacht und den Herrgott dabei um Regen angefleht. Davon zeugte ein Ölgemälde, das in einer der Lorettokapellen hing. Heute hofften die Pilger lieber, trockenen Fußes über den Allgäuer Hauptkamm zu gelangen. Sie durchquerten das Trettachtal. Sieben Stunden Fußmarsch lagen vor ihnen. Liesl und ihre Schwestern hatten am Vortag bereits von Oberammergau bis zur Grenze neun Stunden zurückgelegt. Teils durften sie auf einem Fuhrwerk mitfahren, teils mussten sie auf Schusters Rappen weiterziehen, von Dorf zu Dorf. Um sich von den ersten Strapazen zu erholen und auf das, was noch auf sie zukam, gut vorbereitet zu sein, übernachteten sie in einem Gasthof. Für Gundel und Leni war es das allererste Mal.
»So etwas machen doch nur die feinen Leute.« Leni hatte sie angestrahlt. Seit kurzem war sie Lehrmädchen in einer Bäckerei, musste jeden Tag um drei aufstehen und bis sechs Uhr abends durchhalten. Für den Bittgang hatte sie extra freibekommen, und sie genoss die Zeit in vollen Zügen, trotz der Anstrengungen.
»Wer sagt, dass wir nicht fein genug sind?« Liesl zog die schwere Eichentür zur Traube auf, und sie betraten den dunklen Flur. »Wer hart arbeitet, hat sich etwas Spaß verdient. Vielleicht sollten wir heute Abend tanzen gehen?«
»Tanzen? Du scherzt.« Nun riss auch Gundel die Augen auf, und Liesl lächelte.
Das Foyer wirkte verlassen. Stühle lehnten an den Tischen, manche waren aufeinandergestapelt. Aber es roch nach Kraut und Braten, und über dem Tresen hing eine brennende Talglampe, die den Raum spärlich erleuchtete. Liesl bediente die kupferfarbene Klingel, die auf der Theke stand. Doch niemand reagierte.
»Warum übernachten wir nicht bei Traudl und Andi?« Gundel sprach aus, was in ihrer Familie tabu war.
»Traudl ist krank, wir würden ihr nur zur Last fallen, und mit Andi sprechen wir nicht mehr«, erinnerte Liesl sie. Eigentlich hatte sie gedacht, dass ihre Schwestern das wussten. Andreas war der Älteste der Geschwister, die Verbindung zu ihm hatten sie abgebrochen. Einerseits, weil er zum Zoll gegangen war. So etwas tat man als Einheimischer nicht, man ging nicht zu den Grenzern, schon gar nicht als Pongratz. Doch es musste noch einen anderen Grund geben, den Liesl nicht kannte. Sie konnte nur spekulieren. Keiner sprach darüber, nicht mal Flo, der Zweitälteste, der mit Andi einst sehr vertraut gewesen war, ja, geradezu angehimmelt hatte er ihn. Der große Bruder halt. So ähnlich ging es Liesl jetzt mit Flo, nur dass sie hoffte, dass er sich ihres Vertrauens auch würdig erwies.
Seit Andi...
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