Schweitzer Fachinformationen
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ICH WERDE mir nie verzeihen, dass ich nicht kapiert habe, dass Baby mich verlassen wollte. Im Nachhinein erkenne ich die Zeichen, aber sie ließen sich vorher nur schwer deuten. Als ich vor einiger Zeit zu einem Auswärtsauftritt musste, war er zum Beispiel richtig angepisst gewesen, aber ich achtete nicht darauf, wie ich oft nicht weiter auf ihn achtete.
»Du willst also durch irgendwelche Bars touren und dich feiern lassen wie so ein Reality-Star.«
Ich verteidigte mich zerstreut. Ich wollte nicht »durch irgendwelche Bars touren«. Tat man das heute überhaupt noch? Es war einfach nur ein Auftritt, der zufällig in einer Bar stattfand, und ich sollte ein Interview über lineares Fernsehen geben.
»Bist du die Einzige?«
»Weiß ich nicht genau.«
Aber ich war nicht die Einzige. Da waren noch eine ehemalige Eurodisco-Sängerin, der Typ, der den abgerundeten Billardqueue in Schweden eingeführt hatte, sowie ein fünfzigjähriges Pornosternchen.
»Und das Ganze wird von irgendeinem Kunststudenten arrangiert?«
»Nein, kein Student, beziehungsweise es ist seine Abschlussarbeit.«
»Komm mir nicht mit >Abschluss<, Bibbs, als wäre Saufen mit abgefuckten Has-Beens eine Wissenschaft.«
»Entschuldige.« Baby hatte keinen Abschluss, er hatte auch keine Hochschule besucht, bekam aber jeden Monat zur gleichen Zeit den gleichen Lohn, auch wenn er mal krank war. Das verlieh ihm eine Autorität, gegen die ich schwer ankam.
Ich konnte zehn Riesen berechnen, weil der Student das Ganze in Kooperation mit irgendeinem Finanzunternehmen machte. Fahrtkosten und Hotel wurden bezahlt. Der Auftritt fand in einer Bar in Göteborg statt, und ich sollte im Hôtel Eggers schlafen. Baby liebte es, im Eggers abzusteigen, wenn wir zusammen in Göteborg waren, ein Traditionshotel mit schweren blauen Vorhängen und alten Schränken. Vielleicht war er deshalb so sauer. Er hasste es, wenn ich allein verreiste, und stritt vorher jedes Mal mit mir, sodass ich es nie schaffte, ihn wirklich zurückzulassen, ich trug ihn bei mir wie einen manischen Gedanken, auch wenn ich längst am Reiseziel angekommen war. Baby liebte Hotelaufenthalte, aber er hasste es, dafür zu bezahlen. Ich bezahlte gern, wenn ihn das glücklich machte, aber weil ich es war, die für diese Ausgaben zuständig war, hatten wir es uns schon eine Weile nicht mehr leisten können.
Ich packte immer mehrere Outfits ein, weil ich mit meiner Kleidung gleichzeitig kommentierte, was ich machte - egal was das war. Bevor zum Beispiel Baby von der Arbeit kam, schminkte ich mich alltagsdezent und zog mich eher bequem an, und eins der ersten Dinge, die ich an Baby attraktiv gefunden hatte, waren seine durchdachten Outfits gewesen. Nachdem wir ein paar Jahre zusammen waren, fing er an, zu Hause Jogginghosen zu tragen, und da stichelte ich so lange, bis er wieder damit aufhörte. Trotz seines verhältnismäßig geringen Lohns besaß er teure Rollkragenpullover und Schuhe in Limited Edition. Baby achtete sehr - zu sehr - auf seine Kleidung, und im Winter machte er deshalb auch mich auf jede Laufmasche aufmerksam, und abends amüsierte er sich damit, die Fuselknötchen von seinen Mänteln zu zupfen. Die meisten teuren Teile in meinem Schrank waren mir einfach zugeschickt worden, und ich hing nicht besonders an ihnen. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich sie mir gekauft hätte, wenn ich gekonnt hätte, genauso wie ich nicht wusste, ob ich mich (wenn ich die Wahl gehabt hätte) mit den Cremes eingecremt hätte, die im Schrank standen oder mir das Haar so geschnitten hätte, wie der Friseur es mir für Fotos, die er dann für Werbezwecke nutzen durfte, schnitt. Baby rannte ständig wie ein nervöses Hausmädchen hinter mir her, hob die Kleider vom feuchten Badezimmerboden auf und hängte sie auf Bügel. »Viertausend kostet das Ding«, konnte er dann etwa sagen, »viertausend!«
Es war Samstag, als ich von meinem glorreichen Auftritt in der Bar zurückkehrte, und ich hatte Babys Einwände dagegen längst vergessen. Ich fühlte mich leicht und glücklich, hatte mich in Göteborg endlich mal wieder beachtet gefühlt und seit zwei Tagen keine Kohlenhydrate gegessen. Als ich ins Schlafzimmer trat, saß Baby aufrecht auf dem Bett, er trug ein langärmliges weißes Shirt und die knappe Thom-Browne-Shorts, die ich ihm gekauft hatte, als wir einen Sommer zusammen im Soho House in Berlin gewohnt hatten. Noch bevor ich ihm einen Kuss geben konnte, sagte er: Jetzt verlasse ich dich.
Dass er mich verließ, kam überraschend für mich. Es überrascht mich auch jetzt noch, wenn ich daran zurückdenke. Nie hätte ich gedacht, dass er so mutig wäre, und er wollte schnell Abschied nehmen, ohne Drama. Ich wusste sofort, dass die Tage gezählt waren, denn er sprach in normaler Lautstärke. Dieses Verlassen war anders als sonst, wenn ich ihn verließ, aufgebracht und laut, als Finale eines Streits. Immer wenn ich wütend die Tür hinter mir zuknallte, hörte ich seine Stimme hinter mir, die mich anflehte zu bleiben.
»Es ist so weit, Bibbs.« Zum ersten Mal seit geraumer Zeit dachte ich, dass er mir gefiel. Lange Arme und Beine, ein Goldring im Ohr. Wie oft hatten wir einander schon verlassen, hysterisch. Okay, normalerweise war nicht er es, der aus der Wohnung lief, aber verlassen zu werden, kann ja völlig unterschiedlich aussehen. Als ich vor seinen Augen sein gutes Hemd zerschnitt und er mir die Schere aus der Hand schlug, sodass ich mich an der Spitze verletzte - hatte er mich da nicht auch verlassen? In so einer Situation tatsächlich zu gehen, ist allerdings für beide unmöglich. Oder das andere Mal, als uns die Polizei auf der Straße fragte, was los sei, nachdem ich einen Schlüsselbund nach Baby geworfen hatte und wir uns sofort wieder vertrugen, in frischer Loyalität vereint. Jetzt aber, meinte Baby also, wäre es so weit. Ich stand vor ihm und wusste nicht, was ich machen sollte. Gerade noch hatte ich überlegt, mich hinzulegen und ein bisschen zu schlafen, aber das passte jetzt nicht mehr. Gewohnheitsmäßig begann ich im Kopf nachzurechnen, wie ich jedes Mal im Kopf nachrechne, wenn ich mit einer größeren Ausgabe konfrontiert bin. Ich konnte es mir nicht leisten, verlassen zu werden. Babys Oberschenkel in den weißen Shorts waren gelblich gebräunt. Der Muskel oberhalb des Knies, der sich anspannte und wieder entspannte, war heiß begehrt, das wusste ich. Ich konnte mir allerdings auch nicht leisten, vor Baby zuzugeben, dass ich es mir nicht leisten konnte, verlassen zu werden. »Nenn mir einen guten Grund, weshalb du gehen willst«, sagte ich, statt mich aufs Bett zu legen. »Nenn mir einen einzigen Grund.«
Wir haben keine gemeinsamen Interessen
(Aber du hast doch überhaupt keine Interessen)
Du machst tagsüber nichts
(Warum stört dich das, du bist doch sowieso arbeiten)
Du lügst ständig
(Nein)
Unsere Auseinandersetzungen sind zu brutal
(Ich dachte, du magst das)
Du willst kein Kind mit mir
(Aber ich will mit niemandem ein Kind)
Baby rieb sich mit den Händen, die er zu klein fand, sein Gesicht. Es war frisch rasiert, wie zu allen feierlichen Anlässen. Er hatte Komplexe wegen seiner Hände. Aber er fand, er wäre richtig gut in Oralsex. Das war er nicht, aber das hatte ich ihm absichtlich nie gesagt, um das mit den Händen zu kompensieren. Als wir uns kennenlernten, erzählte er immer Geschichten von Frauen, denen er es mit der Zunge besorgt hatte, und wie toll sie es gefunden hätten. Manchmal, wenn ich durch die Wohnung ging und in diesen meditativen Zustand geriet, der so typisch für alltägliche und repetitive Tätigkeiten ist, erwischte ich mich dabei, wie ich mir diese Frauen vorstellte und überlegte, wie sie sich wohl angehört hatten. Die Bilder in meinem Kopf, auf denen Baby mit anderen Frauen zu sehen war, waren genauso deutlich wie das von Baby, wenn er in mir kam.
»Okay, Bibbs, vielleicht habe ich gar keinen anderen Grund als den, dass ich es einfach nicht mehr schaffe, mich um dich zu kümmern.«
Etwas in mir verhärtete sich, und ich spürte, wie sich die Öffnung zu einem Gespräch schloss. Ich wollte meinen Koffer nehmen, rausgehen und noch mal nach Hause kommen. Noch mal verreisen. Was auch immer rückgängig machen, was Baby dazu gebracht hatte, die Seiten zu wechseln. Mir gefiel nicht mehr, wie er aussah. Die Landschaft, in der wir standen, war karg.
»So was darfst du nicht zu mir sagen«, sagte ich.
»Ich weiß, dass du es nicht hören willst. Aber es ist so. Da hast du es. Ich kann nicht mehr.«
Wie hatte ich nur so blöd sein können, zu glauben, dass Hilfe nicht an Bedingungen geknüpft ist? War das hier eine Art - ich weiß auch nicht - Schikane? Ich hatte ihm so oft erklärt, dass es sich bald ändern würde, dass ich mich bald ändern würde. Es war leichter, mit mir zusammenzuleben, als es aussah.
»Ich werd schon bald wieder richtig Geld verdienen.«
»Scheiße, Bibbs, es geht nicht um Geld.«
Klar ging es um Geld, es ging immer um Geld, um Freunde oder die Ex-Partner oder -Partnerinnen. Ich kehrte ihm den Rücken zu und suchte im Schrank nach einem weißen Baumwollhemd, um Zeit zu gewinnen. Geld konnte man nichts entgegensetzen, es gab keine gleichwertige Antwort auf diese Antwort. Ich hörte, wie Baby hinter mir vom Bett aufstand, wo er gesessen hatte, seit ich nach Hause gekommen war.
»Wo willst du denn überhaupt hin?«, fragte ich.
»Wie meinst du das?«
»Ich dachte, du willst gehen.«
Mit einer Stimme, die zu einer anderen Zeit gehörte, einer liebevollen, liebevollen Zeit, sagte...
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