Schweitzer Fachinformationen
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»Warum willst du das wissen?«, fragte meine Mutter.
»Einfach so.«
Im Hof sauste das Eichhörnchen auf den überquellenden Mülltonnen herum - mit plötzlichen Stopps, als müsste man es neu aufziehen. Der Gestank vergorener Abfälle stieg bis zu mir auf den Balkon. Es war Samstagabend, aber noch immer warm. Mein wöchentlicher Hallo-Mama-Anruf.
»Das ist dreißig, ach Gott, fast schon fünfunddreißig Jahre her. Ich fang an zu vergessen, wie das alles genau war.«
»Muss ja nicht genau sein, einfach ungefähr.«
»Am Anfang hat er so viele Briefe geschrieben. Dein Vater konnte sich sehr gut ausdrücken. Ganz präzise. Und vor Gericht seine Reden, hochverehrte Vorsitzende und so weiter. Selbst seine Mahnungen, das waren Kunstwerke.«
»Liebesbriefe hat er dir geschrieben, meinst du?«
»Ich weiß nicht mehr, was da alles drinstand. Irgendwann hab ich sie weggeworfen, ein ganzer Schuhkarton voll war das.«
»Wie, du hast die weggeworfen?«
»Weißt du, wie viele Kisten ich von ihm aufheben musste? Aus der Kanzlei, wegen der Steuer? Einundzwanzig. Falls du dich erinnerst, ich konnte nicht mehr in die Garage fahren, bis man die ältesten Jahrgänge mal schreddern durfte. Ich hab es geschreddert. Lauter uraltes Zeug.«
Eine Pause entstand, und ich schaute umher, ob auf einem der Balkone jemand zuhörte. Bloß unten im Hof saßen auf Plastikstühlen ein paar ältere Männer in Unterhemden mit Haarkringeln auf den schlaffen Oberarmen, hörten arabisch klingende Musik und ließen Nüsse im Stuhlkreis herumgehen.
»Aber Mama, du weißt doch noch, wie ihr euch kennengelernt habt«, probierte ich es wieder und meinte eigentlich: warum?
»Man hat sich getroffen. Auf einem Sommerfest, bei Andrea Steigerle. Ihre Eltern hatten einen Riesengarten. Weißt du, dort hinterm Stadion. Irgendwie sind wir ins Gespräch gekommen.«
»Und dann: Boom, Trommelwirbel, Stroboblitzen?«
»Nein, Mensch.« Es krachte in der Verbindung, als ob ihr das Telefon heruntergefallen wäre. »Wir waren dann öfter spazieren.«
»Mutter, come on. Was hat euch verbunden?«
»Sei doch nicht so ungeduldig. Bist du genervt?«
»Ich versuch seit einer halben Stunde zu fragen, was du gut an ihm fandest, aber das Einzige, was du sagst, ist, wie toll er Mahnungen schreiben konnte!« Mein erhitztes Handy klebte mir an der Wange.
»Das hast du nicht einmal gefragt! Wenn du normal fragen würdest, könnte man auch was dazu sagen. Zum Beispiel, dass er sanft war. Schau. Und wir waren beide eher unsicher, das hat uns verbunden. Es gab auch gemeinsame Interessen, wir sind gern wandern gegangen oder ins Theater. Ich habe es genossen, wie er mich verwöhnt. Mir war es ja auch ganz wurscht, ob er etwas kleiner ist als ich.«
Im Hof wurde die Musik lauter gedreht. Das Geräusch eines Steckers, der eingesteckt wird - und eine künstlich flackernde Lampionkette erhellte den Balkon schräg unterhalb von meinem.
»Wie viele Kisten sind da noch?«
»In der Garage? Vielleicht fünf, sechs. Weswegen?«
»Kannst du mir die schicken?«
»Wie stellst du dir das vor, das sind Mordstrümmer. Die wiegen zusammen mehr als ich. Die passen nicht mal alle ins Auto.«
»Der Schuhkarton wär mir auch lieber gewesen.«
»Jetzt tu mal nicht so, wie wenn das deine Briefe gewesen wären. Die gingen immer noch an mich.«
»Bitte. Nur eine Kiste.«
Sie seufzte, als wollte sie mich daran teilhaben lassen, wie sie die Kiste voll vergilbter, feucht-schwerer Papierstöße in den Kofferraum wuchtete.
»Welche?«
»Vielleicht die letzte? Mit den Sachen von vor seinem Tod?«
Ein zweites, leiseres Na-gut-Seufzen.
»Aber du weißt, wir sind verpflichtet, alles gesichert aufzubewahren.«
»Mama, ich versprech dir, niemand außer mir wird Zugang zu seinen Supermahnungen haben.«
Wir gingen zu unserem üblichen Update über: Sie fragte mich, ob es in Hamburg auch so heiß sei, dann sagte sie, dass Post für mich gekommen sei, natürlich wusste sie auch, was drinstand. Maja, meine beste Freundin in Schulzeiten, lud mich zu ihrer Hochzeit ein, dabei hatten wir seit Jahren nur an Geburtstagen voneinander gehört, und ich wusste nicht mal, wen sie heiratete - es gab mir einen Stich, als hätte sie wieder etwas vor mir bekommen, wie damals ihre Eastpak-Bauchtasche.
Nach dem Telefonat blieb ich auf dem Balkon sitzen. Von der Straße drangen Geklapper und Geplapper in den Hof, das Aufdröhnen eines Motors. Wie viele dieser Sommernächte würden noch kommen? Unten hatten die Männer einen Tanzwettbewerb begonnen, klatschend feuerte der Kreis den Tänzer in der Mitte an - der machte auf Lederslippern mit todernster Miene ein paar Slide-Bewegungen, ging auf Zehenspitzen, wippte und hielt, mit der Hand als Schirm, nach Publikum Ausschau, bevor er in Lachen ausbrach und sich auf einen Gartenstuhl fallen ließ.
Vor dem Einschlafen textete ich zwei, drei Freunden, die nicht im Urlaub oder auf Workaways waren, und auch ein paar entfernteren Bekannten: Fatih, ein älterer Kommilitone aus der Journalistenschule, der gerade Vater geworden war, und Letizia, die als Tizia in meinem Handy stand, weil sie sich selbst so gespeichert hatte, als wir im Frühjahr ein Praktikum bei demselben Magazin gemacht hatten, sie im Kulturteil, ich im Reportage-Ressort. In einer Konferenz hatte sie gefragt: »Was ist eigentlich Espenlaub?«, und weil ich die Frage gut fand, sagte ich ihr das später auch. Sie schlug vor, wir könnten ja mal auf einen Praktikantenlunch gehen, was wir nie taten.
Das Bettlaken klebte mir am Körper, beim Herumwälzen verhedderte ich mich im Stoff, bis ich eine Mumienfigur war wie in Comics. Der kehlige Gesang der Männer aus dem Hof, die neue Wohnung: Alles hinderte mich am Wegdriften in den Schlaf. Mir zog der bescheuerte Gleichklang von Dad und dead immer wieder durch den Kopf - dein Dad ist dead, dead Dads . Lass uns anstoßen, flüsterte eine weiche Stimme, sein goldenes Brillengestell tauchte über dem Rand eines Glases auf, höher, immer höher stieg der Tomatensaft und warf rötliche Blasen, der Schaum lief über, das H&M-Hemd scheuerte unter der Achsel, und in der Kapelle war es so kalt.
Eine Sirene weckte mich, dann Klirren und langgezogenes Hupen. Auf dem Display: 5:23 Uhr. Madeleine hatte ein Bild geschickt, mit Fischerhut und Sonnenbrille, hinter ihr wellige Terrassenfelder und flatternde, bunte Gebetswimpel. In diesem Sommer wanderte sie durch Nepal. Ich machte ein Foto von mir im Bett und merkte mal wieder, dass ich Selfies einfach nicht konnte. Tizia hatte geantwortet, dass sie abends Zeit hätte, ich textete: »yeesss«. Sofort erschien sie online und schickte den Standort einer Bar.
Auch schon wach?
noch;)
Afterhour
Was geht bei dir?
Insomnia
Haha, kenn ich
schau only lovers left alive bester
Nichtschlafenkönnenfilm
geh auch gleich ins Bett
GuNa und later!
Alright, danke :) dann schlaf mal gut und later!
Für 2,99 Euro lieh ich Only Lovers Left Alive, und was soll ich sagen, garantiert war das der beste Nichtschlafenkönnenfilm. Ein jahrhundertealtes zivilisiertes Vampirpaar, das nur füreinander und für die Kunst lebt, sowie von gelegentlichen Blutkonserven, erliegt am Ende dem Kick, seine Urtriebe auszuleben, was die Geliebten kurz noch ein wenig melancholischer werden lässt. Okay, das wusste ich nur zum Teil aus dem Film, irgendwann hatte ich den auf eineinhalbfachem Tempo geschaut und parallel Rezensionen gelesen, weil ich es im Bett nicht mehr aushielt und, bevor es zu stickig wurde, laufen gehen wollte.
Abends staute sich die Hitze noch immer auf den Straßen, alle waren draußen und schön. Als ich vor der Bar am Hansaplatz ankam, begrüßte Tizia gerade zwei Freundinnen: eine in einer Art Tennishemdchen, deren Pferdeschwanz und gebräunte Arme ihr die apfelkernige Ausstrahlung einer Leistungssportlerin gaben, und eine schmale, dunklere Raverin mit Vokuhila und dem ganzen Berghain-Heroin-Chic. Tizia stellte sie als Freundin aus Wien vor, die übers Wochenende in der Stadt war, ich gab ihr die Hand, und sie ließ es spöttisch geschehen. Die Sportlerin küsste zweimal sehr geschickt an meinen Wangen vorbei, dann schaute sie Tizia an mit diesem Lächeln, das Wer ist das und Ich weiß genau, was das ist bedeutete. Einige Klapptische entfernt von ihnen setzten wir uns in die Sonne, und ich fragte mich, ob sie uns hören konnten und ob meine T-Zone glänzte.
»Ehrlich keine Absicht, dass wir die treffen«, sagte Tizia. »Auch wenn ich dich so gleich mit meinem intakten Sozialleben beeindrucken kann. Wo wohnst du noch mal? Kreative Fragen dann wieder nach dem Kater.«
»Altona.«
»Und, spiegelt das deinen Charakter so gut wider, dass du Altona auf Hauspartys gegen andere Viertel verteidigst?«
»Absolut. Bei dir natürlich das wilde, ehrliche Sankt Georg.«
»Saint G, my dear. Die Abkürzungen wirst du auch noch lernen.« Sie zündete sich eine Zigarette an, rote Marlboro aus einer XXL-Packung.
»Was?« Sie lächelte mich perfekt verlegen an.
»Sieht schon relativ erlesen aus.«
»Ist das ein Flirtversuch?«
»Auch. Aber...
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