Schweitzer Fachinformationen
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Klaus Paulini hatte sich mit Hilfe eines ärztlichen Attestes eine Umschulung zum Straßenbahnfahrer erstritten. Er verdiente nun weniger, doch sein Sohn war stolz auf die Uniform seines Vaters. Da er aber nicht mit in der Fahrerkabine der Straßenbahn sitzen durfte, verlor er bald die Lust, seinen Vater in den Ferien zu begleiten. Zudem fuhr Klaus Paulini auf der Linie 7 oder 8 und nicht, wie Norbert sich gewünscht hatte, mit der 4 oder wenigstens mit der 6. Wenn Norbert der Aufsicht von Frau Kate entkam, streunte er an den Elbwiesen herum, sah den alten Leuten beim Füttern der Enten und Schwäne zu und stellte sich unter das »Blaue Wunder«, das vom Gedröhn der Linie 4 erbebte, die von Pillnitz das Elbtal entlang bis nach Weinböhla fuhr und irgendwann aus jener Ferne zurückkehrte, nur um in der anderen Ferne zu entschwinden. Manchmal wünschte er sich in eines der Ruderboote hinein, die auf der Elbe trainierten. Er wusste aber nicht, wo oder ob die Ruderer überhaupt je an Land gingen.
Doch was er auch trieb, allem haftete eine unbestimmte Sehnsucht an, als erinnerte ihn jedes Ding an etwas, von dem er nicht wusste, ob es bereits in der Vergangenheit lag, in der er schon einmal erwachsen gewesen sein musste, oder ihn erst in der Zukunft erwartete. Der Tod seiner Mutter und der Tod seiner Großmutter waren nur Teile einer allgemeinen Katastrophe. Sein Vater und Frau Kate hatten noch das richtige Dresden gekannt, ohne die großen Wiesen, ohne Ruinen. Wunderschön war es einmal gewesen, und wunderschön würde es auch dereinst wieder werden, schöner als je zuvor, hatte seine Klassenlehrerin gesagt. Er hätte alles dafür gegeben, schneller älter zu werden, ein Erwachsener zu sein, weil die tun und lassen konnten, was sie wollten. Bis dahin musste er seinem Vater folgen, der ihn zwar nicht wie andere Väter mit »Kloppe« bedrohte oder Ohrfeigen verteilte, der aber meinte, die Großmutter habe ihr Norbertchen verzärtelt und überhaupt in Watte gewickelt. Gemeinsam mit dem Vater musste er morgens Liegestütze und Kniebeugen machen und sich im Anschluss kalt über der Wanne waschen.
Wie ausgewechselt aber war sein oft müder und maulfauler Vater, wenn sie an seinen freien Sonntagen mit dem Zug in die Sächsische Schweiz fuhren, mit der Fähre nach Bad Schandau übersetzten und in die Berge hineinwanderten, jeder mit seinem Rucksack. Beim Wandern waren sie gleichberechtigte Kameraden, weil dann einer für den anderen einstehen musste, sollte sich einer den Fuß verknacksen oder ein Bein brechen oder von einem herabfallenden Ast oder einem umstürzenden Baum getroffen werden. Im Winter ging es mit dem Bus nach Altenberg. Sie machten Langlauftouren nach Zinnwald oder Oberbärenburg. Der den Hang heraufkam, hatte die Loipe sofort für den Hinabfahrenden frei zu machen, auch wenn dieser nicht: »Spur frei!« rief. Wieder zu Hause, kehrte die alte Verlegenheit zwischen Vater und Sohn zurück.
Zur Jugendweihe erhielt Norbert Paulini nicht wie die anderen ein Klapprad oder ein Moped, sondern sein Vater und Frau Kate schenkten ihm einen Wanderurlaub im Riesengebirge. Norbert Paulini hatte sich die Davidsbaude wie die Jugendherberge in Zinnwald vorgestellt. Aber hier gab es ein Zimmer samt Waschbecken allein für seinen Vater und ihn. Die Betten standen nebeneinander, nicht übereinander. Zum Essen setzte man sich morgens, mittags und abends an einen gedeckten Tisch und wurde bedient.
»Einmal musst du ja damit anfangen«, sagte Klaus Paulini und entnahm seinem Koffer drei Bücher. Er verschwieg, dass Frau Kate zu Jack London statt zu Joseph Conrad geraten hatte, zu einem Jugendbuch über den Fliegenden Holländer statt zu »Schuld und Sühne«, zum »Dschungelbuch« anstelle von »Rot und Schwarz«. Doch in diesen Exemplaren fand sich in grüner Tinte und einem noch fast kindlichen Schriftzug der Name »Dorothea Schuller«.
»Das hat deine Mutter gelesen, als sie jung war«, sagte er.
Norbert Paulini schlug das oberste Buch auf. Er begann zu lesen. Von Zeit zu Zeit schielte er hinüber zu seinem Vater, der auf seiner Seite des Doppelbettes wie bei einer Rast auf dem Rücken lag, die Arme hinterm Kopf verschränkt, die Augen geöffnet. Überrascht bemerkte Norbert Paulini, wie angenehm es war, Zeile um Zeile in ein Buch zu tauchen, als machte er sich selbst Schritt um Schritt auf den Weg in eine fremde Welt, obwohl er bloß dalag.
Nach dem Abendessen mit den Erwachsenen, die meisten davon Rentner, die seinen Vater »Witwer« nannten und ihn verstohlen beäugten, durfte er aufstehen und allein nach oben gehen. Beinah wurde er ungeduldig, so lange brauchte er, um mit dem Gebirgswasser die eingeseiften Hände abzuspülen. Dann las er weiter, und als sein Vater spät eintrat, erschrak er wie zu Hause, wenn er den Schlüssel in der Wohnungstür hörte, doch eher darüber, dass er selbst schon so weit draußen auf See war, für niemanden mehr erreichbar. Erst als der Vater sein Nachtlämpchen ausschaltete und sagte, es sei jetzt genug, hörte Norbert Paulini auf zu lesen und löschte auch sein Licht. Im Dunkel hörte er das Rauschen der Bäume. Oder war es der Bach? Unmerklich schaukelte er in seiner Hängematte. Über ihm schlugen die Segel im hin- und herspringenden Wind, um ihn herum ächzten die Schiffsplanken. Norbert Paulini wurde auf der »Narcissus« davongetragen. Und als er morgens die Augen aufschlug, wusste er nicht, wo er war, an welchem Gestade gestrandet, bis er seinen Vater gurgeln hörte und sah, wie er die Zahnbürste erhob, um im Spiegel den aus Übersee heimkehrenden Sohn zu begrüßen. Nacheinander und schweigend absolvierten die Paulinis auf dem schmalen Gang zwischen Bett und Wand ihren Frühsport. Dann ging es zum Essen.
Unter freiem Himmel jedoch wurden sie wieder zu Kameraden, die gemeinsam an Wegkreuzungen auf die Karte starrten. Sie mussten sich vor den polnischen Grenzern hüten, denn die, das sagte sogar der tschechische Kellner, verhafteten mit Vorliebe deutsche Wanderer, und dann wisse man nie, wie lange die einen dort ohne Essen festhielten und wie teuer das würde. Das Riesengebirge war ein richtiges Gebirge, und die Pfade über die Bergkämme waren kahl und von Wiesen umgeben. Und wenn sie anderen Wanderern begegneten, grüßten diese mit »Ahoi«, und sein Vater antwortete ebenfalls »Ahoi«, so als wollten sie kundtun, wir wissen, wo du, Norbert Paulini, heute Nacht gewesen bist und wohin es dich zieht. Wie anders sollte er den Seemannsgruß im Gebirge auch deuten? Norbert Paulini zwang sich, auf den Weg zu achten und nicht zu dicht hinter seinem Vater zu gehen, der es überhaupt nicht mochte, wenn er tranig war und ihm auf die Hacken trat. War diesmal alles anders, weil sie im Ausland wanderten? Norbert blickte auf die Waden des Vaters, unter deren weißer Haut bei jedem Schritt die Muskeln sprangen und zuckten. Er wusste nicht, ob er seinen Vater liebte, aber seine Waden hätte er gern einmal berührt.
Als sie bereits am frühen Nachmittag die Davidsbaude wieder vor sich erblickten, war es Norbert Paulini, als liefen sie in den Heimathafen ein. Wer vor der Baude in der Sonne saß, winkte ihnen zu und wollte wissen, wo um Gottes willen sie denn so lange gewesen seien.
»Ahoi!«, rief Norbert Paulini. Er las auf dem Bett, er las draußen im Liegestuhl oder auf einer Bank. Die Buchseiten wellten sich mit jeder Nacht mehr. Sie rochen nach Davidsbaude, nach Tannennadeln und rauchiger Luft, der Wind tönte in den Wipfeln, und vom Bach kam ein Rauschen, das zum Unwetter anschwoll. Hob er jedoch mitten im Sturm den Kopf, lag das Kap der Guten Hoffnung im Sonnenschein und grüßte von fern her mit den leuchtenden grünen Matten seiner Berghänge, die sich bis hinauf zu den Kammwegen zogen.
»Er liest die Bücher seiner Mutter«, erklärte eine der älteren Frauen ihrem Mann. Jedes Nachwort bestärkte Norbert Paulini in der Überzeugung, dass die Erwachsenen, also auch jene am Abendbrottisch, alle Bücher kannten, die er selbst gerade erst zu lesen begann. Ihre Bewunderung für sein Lesepensum löste ihm selbst in Gegenwart seines Vaters die Zunge. Es fiel ihm leicht, sich Daten und Umstände einzuprägen, unter denen Schriftsteller ihre Werke geschaffen und der Menschheit geschenkt hatten. Die Wörter, die aus seinem Mund kamen, fühlten sich an, als hätte er sie entdeckt, als wären es tatsächlich seine eigenen Worte, ja als hätte er selbst die Nachworte verfasst.
Mir hingegen hat Norbert Paulini einmal erzählt, während jener Zeit im Riesengebirge nur »Moby Dick« gelesen zu haben, den aber gleich zweimal. Aus Ermangelung an Schreibzeug habe er unzählige Sentenzen auswendig gelernt. Eines Nachmittags habe ihn sein Vater gesucht und lange nicht gefunden, weil sich sein Sohn Norbert Paulini, umringt von älteren Damen und Herren, in einer separaten Stube über die furchteinflößende Farbe Weiß bei Walen, Haien und anderen Ungeheuern ergangen habe.
Sein Vater ermahnte ihn, Frau Kate einen Urlaubsgruß zu schicken. Es gab aber nur Ansichtskarten von der Davidsbaude im Winter. Er machte ein Kreuz über zwei Fenstern im ersten Stock. Auf dem Vordach lag hoher Schnee, Eiszapfen hingen herab. Da die Briefmarken an der Rezeption ausgegangen waren, nahmen sie die Ansichtskarte mit zurück und überreichten sie Frau Kate, die für sie Eierkuchen buk und meinte, die beiden Wandersmänner seien wohl ein ganzes Jahr unterwegs gewesen, wenn sie sogar den Winter im Gebirge verbracht hätten. Hatte Frau Kate nicht recht? Waren sie nicht tatsächlich schon vor langer Zeit ins Riesengebirge aufgebrochen? Und konnte er nicht deshalb erst jetzt die hiesige Landschaft aus Büchern als seine Heimat...
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