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Renate Meurer erzählt von einer Busreise im Februar 90. Am zwanzigsten Hochzeitstag ist das Ehepaar Meurer zum ersten Mal im Westen, zum ersten Mal in Italien. Den mitreisenden Dieter Schubert treibt eine Buspanne vor Assisi zu einer verzweifelten Tat. Austausch von Erinnerungen und Proviant.
Es war einfach nicht die Zeit dafür. Fünf Tage mit dem Bus: Venedig, Florenz, Assisi. Für mich klang das alles wie Honolulu. Ich fragte Martin und Pit, wie sie denn darauf gekommen seien und woher überhaupt das Geld stamme und wie sie sich das vorstellten, eine illegale Reise zum zwanzigsten Hochzeitstag.
Ich hatte mich darauf verlassen, dass Ernst nicht mitmacht. Für ihn waren ja diese Monate die Hölle. Wir hatten wirklich anderes im Kopf als Italien. Aber er schwieg. Und Mitte Januar fragte er, ob wir nichts vorbereiten müssten - am 16. Februar, einem Freitag in den Schulferien, sollte es losgehen - und wie wir mit unseren DDR-Papieren über die italienische Grenze kämen und über die österreichische. Als ich ihm sagte, was ich von den Kindern wusste, dass wir von dem Reisebüro in München westdeutsche Ausweise erhalten würden, gefälschte wahrscheinlich, spätestens da dachte ich, jetzt ist Schluss, nicht mit Ernst Meurer. Aber er fragte nur, ob die beiden Passbilder dafür gewesen seien. »Ja«, antwortete ich, »zwei Passbilder, Geburtsdatum, Größe und Augenfarbe - mehr brauchen die nicht.«
Es war wie immer. In den dunkelgrünen Koffer packten wir unsere Sachen, in die schwarzrot karierte Tasche Besteck, Geschirr und Proviant: Wurst- und Fischkonserven, Brot, Eier, Butter, Käse, Salz, Pfeffer, Zwieback, Äpfel, Apfelsinen und je eine Thermoskanne Tee und Kaffee. Pit fuhr uns nach Bayreuth. An der Grenze fragten sie, wohin wir wollten, und Pit sagte Shopping.
Der Zug hielt in jedem Nest. Außer Schnee, beleuchteten Straßen, Autos und Bahnhöfen sah ich nicht viel. Wir saßen zwischen Männern, die zur Arbeit fuhren. Als Ernst eine Apfelsine schälte, dachte ich zum ersten Mal wirklich an Italien. Auf dem Münchner Bahnhof werden Ernst und er sich erkannt haben. Ich bekam davon nichts mit. Woher sollte ich wissen, wie er aussieht? Nicht mal seinen richtigen Namen hätte ich angeben können.
Ab Venedig erinnere ich mich an ihn. Ein mittelgroßer Mann mit hastigen Bewegungen und einem schlechtsitzenden Glasauge ohne Lidschlag. Er schleppte so einen Wälzer mit sich herum, einen Finger zwischen den Seiten, um immer, wenn Gabriela, unsere italienische Reiseleiterin, etwas erklärte, seinen Senf dazugeben zu können. Ein richtiger Besserwisser eben. Andauernd strich er sein schwarzgraues Haar zurück, das ihm im nächsten Augenblick wieder über Stirn und Augenbrauen fiel.
Den Dogenpalast und die Säule mit dem Löwen kannte ich aus dem Fernsehen. Die Venezianerinnen - selbst die in meinem Alter - trugen kurze Röcke und schöne, altertümliche Käppchen. Wir waren viel zu dick angezogen.
Um unabhängig zu sein, nahmen wir tagsüber in der Provianttasche ein paar Konserven, Brot und Äpfel mit. Abends aßen wir auf dem Zimmer. Ernst und ich sprachen nicht viel, aber immerhin mehr als in den letzten Monaten. »Una gondola, per favore«, rief er mal morgens beim Waschen. Überhaupt machte Ernst den Eindruck, als ob ihm Italien gefiel. Einmal griff er sogar nach meiner Hand und hielt sie fest.
Ihn hat er mit keinem Wort erwähnt. Bis zuletzt nicht. Das heißt, in Florenz, als wir darauf warteten, dass alle vom Glockenturm herunterkämen, fragte Ernst: »Wo ist denn unser Bergsteiger?« Ich achtete nicht darauf oder glaubte, die beiden hätten sich irgendwann mal unterhalten - Ernst ging ja immer vor mir zum Frühstück. Er sagte noch etwas von Klimmzügen am Türrahmen. Vorher, in Padua, wollte der Bergsteiger unbedingt, dass wir anhielten, um eine Kapelle zu besichtigen oder eine Arena, was gar nicht im Programm stand. Ich drehte mich nach ihm um - er saß ganz hinten. Sein Blick ließ sich von nichts irritieren und ging geradewegs zur Frontscheibe hinaus, als wären wir alle nur dafür da, den Herrn endlich an sein Ziel zu bringen. Vielleicht bin ich ungerecht, vielleicht wäre er mir ohne das spätere Spektakel gar nicht in Erinnerung geblieben, vielleicht werfe ich auch die Reihenfolge durcheinander, aber ich erfinde nichts.
Sie müssen mal versuchen, sich das vorzustellen. Plötzlich ist man in Italien und hat einen westdeutschen Pass. Ich hieß Ursula und Ernst Bodo, Wohnort: Straubing. Unsere Nachnamen habe ich vergessen. Man befindet sich auf der anderen Seite der Welt und wundert sich, dass man wie zu Hause trinkt und isst und einen Fuß vor den anderen setzt, als wäre das alles selbstverständlich. Wenn ich mich beim Zähneputzen im Spiegel sah, konnte ich noch viel weniger glauben, in Italien zu sein.
Bevor wir Florenz in Richtung Assisi verließen, es war unser letzter Tag, hielt der Bus auf einem Parkplatz, von dem aus wir über die Stadt blicken konnten. Der Himmel war bedeckt. Ernst kaufte einen Teller mit der Darstellung Dantes und schenkte ihn mir - zum Hochzeitstag.
Dann fuhren wir durch Regen, und allmählich wurde es so neblig, dass ich außer Leitplanken nichts sah und einschlief.
Als Ernst mich weckte, stiegen die Ersten schon aus. Wir standen bei einer Tankstelle. Irgendwas war mit dem Motor oder dem Auspuff. Es schneite auf die Schirme, und die Autos fuhren mit Licht, richtiges Pannenwetter. Unser Fahrer suchte ein Telefon. Ich weiß noch genau, wie er dann die Unterarme bewegte, so über Kreuz, hin und her. Gabriela verkündete, dass wir auf den Werkstattservice warten müssten. Sie schlug vor, Perugia und seine Sehenswürdigkeiten zu besichtigen.
Wir holten unsere Mäntel heraus und liefen im Gänsemarsch zur Altstadt hinauf, Gabriela und der Bergsteiger vorneweg. Der war aufgebracht und bestand darauf, nach Assisi gefahren zu werden, das bei gutem Wetter angeblich von hier aus zu sehen sei. »Zum Greifen nah«, hat er immer wieder gesagt. Dabei war es ein Mordsglück, dass wir nicht irgendwo auf der Autobahn oder der Landstraße herumirren mussten.
Auf dem Fußweg blieb der Schnee inzwischen liegen. Kunstmuseum und Kirchen waren geschlossen, Mittagspause. Gabriela führte uns um den Maggiore-Brunnen, sagte einiges zum Rathaus und zur Kathedrale, die riesig wirkte, weil ihre Mauern im Nebel verschwanden. Seit über 500 Jahren stehe die Fassade unverkleidet da, worauf eine Frau aus Plauen meinte, daran gemessen schneide die DDR gar nicht schlecht ab. So spottete sie ständig. Ernst reagierte nie. Er überhörte das einfach.
Am Marktplatz verteilte sich die Gruppe auf verschiedene Lokale. Unseres hieß »Victoria«.
Bisher hatten wir nur für den Dante-Teller und ein paar Tassen Kaffee Geld ausgegeben. Deshalb beschlossen wir, uns etwas zu bestellen. Der Kellner schlängelte sich in seiner langen weißen Schürze um die wenigen Tische, die nun auf einen Schlag besetzt waren. Manchmal erstarrte er mitten in der Bewegung und reckte seinen Oberkörper einem Rufer entgegen. Nur vor dem Fernseher, wo er die Zieleinfahrt eines Skifahrers abwartete, war er plötzlich taub. Mit uns saßen zwei Männer aus Dresden am Tisch, ein Kinderarzt und ein Bühnenbildner, die beide etwas Italienisch konnten und uns die Speisekarte erklärten. Ernst versuchte, den Kellner heranzuwinken, während ich darauf achtete, dass sein Finger nicht von der Zeile mit »Pizza con funghi« rutschte.
Auf einmal erhob sich der Kinderarzt. Weil er zum Fenster starrte, drehte ich mich um. Von der gegenüberliegenden Seite stürmten sie über den Platz - wie Kinder zu einer Schneeballschlacht, Gabriela mit Fäustlingen, die anderen hinter ihr her, ein keilförmiger, schreiender Schwarm.
Um uns herum schurrten die Stühle. Ein richtiges Getrappel entstand, als alle, am Kellner vorbei, zum Ausgang wollten. Wir folgten ihnen zur Kathedrale, wo sich auf der Treppe vor dem Seiteneingang schon ein kleiner Pulk versammelt hatte.
In vier, fünf Meter Höhe stand der Bergsteiger auf einem der horizontalen Mauervorsprünge, die Arme seitlich ausgestreckt, die Schultern an die Wand gedrückt. Seltsam war die Stille, als wäre der da oben ein Schlafwandler, der beim ersten Geräusch erwachen und abstürzen könnte. Gabriela blinzelte durch den Schnee hinauf. Andere schirmten ihre Augen mit den Händen ab. Seine halbhohen Schuhe lagen genau unter ihm.
Er reckte den Kopf vor und blickte wie ein Vogel mit einem Auge auf uns nieder. Beide Strümpfe hingen an den Zehen ein Stück herab. Mit etwas Übung schien der Aufstieg kein Problem zu sein. Wahrscheinlich hatte er von den Quadern des Portals aus die kleine Kanzel daneben erreicht, sich auf deren Brüstung gestellt und dann an hervorstehenden Steinen und in Gerüstlöchern Halt gefunden.
»Nicht runterschauen«, rief ein Mann. Daraufhin löste der Bergsteiger den linken Arm, drehte sich mit einem steifen Schritt herum und schmiegte sich sofort wieder der Mauer an. Seine Finger umkrallten den nächsten Vorsprung. Die Füße tasteten die Wand ab. Froschartig bewegte er die Beine und klomm höher. Dann konnte er sich an dem kleinen Vordach über dem Fenster abstützen.
Ernst zog mich am Ellbogen. »Komm weg hier!«, flüsterte er. Der Sonneberger, ein rothaariger Riese, begann als Erster zu fotografieren. Gabriela schimpfte. »Wenn der runterspringt!« Sie irrte zwischen uns umher, raffte mit einer Hand den aufgestellten Kragen ihrer Jacke zusammen und eilte dann die Stufen hinab auf eine Polizistin zu, deren hoher weißer Helm mir wie Karnevalsschmuck erschien. Von hinten war Gabrielas aufragender, gezwirbelter Zopf das Einzige, was von ihrem Kopf zu sehen war. Die Polizistin sprach in ihr Funkgerät.
Die Frau aus...
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