Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Viola B. Georgi, Janina M. Vernal Schmidt, Agata Wiezorek
»Immer wieder gehen Menschen woanders hin. Manche sind einfach reiselustig. Sie wollen ein fremdes Land und neue Leute kennenlernen. Oder sie wollen woanders arbeiten. Aus Abenteuerlust oder weil sie dort mehr Geld verdienen. Manche verlieben sich und bleiben fort. Manche gehen in ein anderes Land, weil sie etwas können, was dort gebraucht wird. Manche Menschen flüchten aus ihrer Heimat, weil die Regierung alle bedroht, die ihr nicht passen. [...] Manche gehen weg, weil sie arm sind und das ändern wollen. Und weil sie wollen, dass ihre Kinder in die Schule gehen können.« (Tuckermann & Schulz 2014, S. 8)
Alle da! Unser kunterbuntes Leben ist eines der ersten deutschsprachigen Sachbilderbücher, in dem das Woanders-Hingehen in seinen vielfältigen Facetten für Kinder aufgearbeitet ist. Migration wird hier nicht auf wenige Einzelphänomene reduziert, sondern als ein konstitutives Merkmal von Gesellschaften porträtiert. Damit wird Deutschland als Migrationsgesellschaft beschrieben (Mecheril 2016).
Nach jüngeren Studien beruhen Bildungsmedien, zu denen sowohl das Kinderbuch als auch das Schulbuch gehören, häufig auf eindimensionalen Erzählungen: In ihnen wird Migration vornehmlich problematisiert, auf Flucht- und Arbeitsmigration reduziert sowie auf individuelle Schicksale begrenzt (Grabbert 2010, S. 16; BMFI 2015, S. 67). Das Buch Alle da! steht deshalb exemplarisch für eine neue Generation von Kinderbüchern, deren Inhalte sich nicht zuletzt aufgrund der folgenden Überzeugung im Wandel befinden: »All reading is political« (Botelho & Rudman 2009, S. 9). Dies verändert auch den einst ausnahmslos problematisierenden Blick auf Migration in Kinderbüchern.
Die Fülle an Neuerscheinungen im Kinderbuchsektor zu diesem Thema verdeutlicht das in den letzten Jahren gewachsene Interesse an Migration und ihren Folgen für Individuen und Gesellschaften (Rösch 2018). Politische, wissenschaftliche und gesellschaftliche Debatten über den Umgang mit Migrationsphänomenen halten ebenso Einzug in die Welt der Kinder- und Jugendliteratur (KJL) wie das wachsende Selbstverständnis als Einwanderungsland. Dabei ist es keineswegs eine neue Erkenntnis, dass Migration die deutsche Gesellschaft grundlegend prägt (Treibel 2015, S. 50?ff.). Abgelegt hat Deutschland das politische Bekenntnis als Einwanderungsland allerdings erst nach der Änderung des Staatsangehörigkeitsrechtes im Jahr 1999 und dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes 2004. Die bis heute andauernde Aushandlung der Migrationsrealität vollzog sich auf politischer Ebene u. a. im Kontext des sog. Integrationsgipfels (Foroutan 2019, S. 73).
Auf diese Entwicklungen und die verstärkte gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Migration reagiert der Kinderbuchmarkt jedoch zeitlich versetzt. In den 2010er Jahren entsteht ein regelrechter >Hype< um Vielfalt, der allerdings dazu tendierte, politische Anerkennungsfragen von marginalisierten Gruppen hintanzustellen (Eggers 2011). Durch das öffentliche Interesse an Fluchtmigration seit Mitte 2014 besteht auch eine erhöhte Nachfrage an (Kinder-)?Buchveröffentlichungen, die von Flucht handeln. In den Kanon der KJL fließen zumeist solche Werke ein, in denen politische, historische, soziale und kulturelle Phänomene verarbeitet werden, die mit Migration einhergehen. Allerdings liegen gegenwärtig kaum Kinderbücher vor, in denen das Leben einer vielfältigen Migrationsgesellschaft so selbstverständlich beschrieben ist, dass es nicht problematisiert werden muss.
Für die literarische Auseinandersetzung mit Migration existieren zahlreiche Bezeichnungen mit verschiedenen Schwerpunktsetzungen. Klassifizieren lässt sich diese neben der Autorenbiografie (z. B. Migrantenliteratur) nach dem Entstehungsort der Literatur (z. B. Exilliteratur) oder themenbezogen (z. B. Migrationsliteratur). An der Schnittstelle Literaturwissenschaft und -didaktik hat sich der text- und themenbezogene Begriff Migrationsliteratur durchgesetzt. Auch wenn dieser die thematische, (mehr)?sprachige und ästhetische Gestaltung von Migration hervorhebt (Rösch 2000, S. 376), gelingt die Entkopplung des Werks von der Autor*innenbiografie de facto jedoch kaum: Zur Migrationsliteratur werden hauptsächlich Werke der seit 1955 eingewanderten Autor*innen und ihrer Nachfolgegenerationen gezählt (ebd., S. 338?f.). Ungeachtet dessen, dass die deutsche Literatur nie als »reine Monokultur« existiert hat (Chiellino 2007, S. 51), wird Migrationsliteratur häufig als ein Sonderbereich innerhalb des nationalen Literaturkanons aufgefasst (Esselborn 2015, S. 120). In letzter Zeit werfen migrationspädagogisch inspirierte Perspektiven wie jene von Heidi Rösch neues Licht auf die (Kinder-)?Migrationsliteratur (Rösch 2019), denn sie wird als Teil der (neuen) Weltliteratur eingestuft. Charakterisieren lässt sich diese u. a. durch folgende Aspekte: Mehrsprachigkeit, Transgression (Grenzüberschreitungen), die Hinwendung zum Regionalen und Lokalen (Sturm-Trigonakis 2007, S. 108?f.) sowie die Abwendung von der »abendländischen Hegemonie« (Ivanovic 2018, S. 162).
Da Definitionen stets mit diskursiven Ausschlüssen verbunden sind (Ewers 2000, S. 2), hier jedoch keine Diskussion des Gattungsbegriffs beabsichtigt wird, verzichten wir auf weitere Versuche einer Begriffsbestimmung. Vielmehr möchten wir die vielfältigen und vielstimmigen Spielarten von Migration im Kinderbuch mit einer Doppelperspektive fassen: Zum einen beleuchten wir die Repräsentationen von Migration im Kinderbuch, zum anderen fragen wir nach dem Stellenwert des Kinderbuches in der Migrationsgesellschaft. Da am Paradigma der Migrationsgesellschaft ausgerichtete Analysen von KJL im deutschsprachigen Raum bisher weitestgehend fehlen, versteht sich dieser Artikel als migrationspädagogisch inspirierter Annäherungsversuch an das Kinderbuch.
Kinderbücher sind Bildungsmedien, denn sie tragen zur Lesesozialisation, literarischen Bildung und zur Wissensvermittlung innerhalb von familiären und pädagogischen Bildungsinstitutionen bei. Lesen ist eine zentrale Kulturtechnik und grundlegend für das Verstehen, das Deuten und die Teilhabe an der sozialen Wirklichkeit (Auma 2018). Dies gilt insbesondere für Informationsgesellschaften. Literarische Kommunikation lässt sich unter den Aspekten der individuellen, sozialen und kulturellen Bedeutsamkeit von Literatur sowohl auf der Rezeptions- als auch auf der Produktionsebene betrachten (Abraham 2015, S. 7). Lesesozialisation und literarische Bildung berühren nicht nur das Lernen über Literatur, sondern auch das Lernen an und durch Literatur (ebd.). Letztere Funktion von Literatur beschreibt Ulf Abraham (2015, S. 11) wie folgt: »Als Teil des >kulturellen Gedächtnisses< einer Großgruppe [...] wird Literatur zu einem Handlungsfeld, in dem immer wieder neu zu bestimmen ist, was erinnert werden soll und in welcher Perspektive es wert ist, bewahrt zu werden.«
Kinderliteratur hilft beim Erwerb von sog. Weltwissen und dient zugleich dem ethischen, moralischen und emotionalen Lernen (Scholz 2014, S. 222?ff.). Auch wenn der direkte Einfluss der Auswahl des Lesestoffs auf die Leser*innen in der Rezeptionsforschung noch nicht hinreichend empirisch nachgewiesen ist, so gehen Groeben und Christmann (2014, S. 349) dennoch von einer »potenziell persönlichkeitsverändernde?[n] Kraft literarischer Lektüren« aus. Diesbezüglich ist zu beachten, dass zwischen der Rezeption und der Interpretation literarisch-ästhetischer Texte ein erheblicher Unterschied besteht. Dieser kommt insbesondere dann zum Tragen, wenn erwachsene Forscher*innen Kinderbuchtexte und -illustrationen sichten und diese aus einer theoretischen Perspektive analysieren und interpretieren. Dennoch ist für Kinder die Rolle der Repräsentation, d. h. das Vorkommen, Sprechen und Handeln von (marginalisierten) Personengruppen in medialen Texten nicht zu unterschätzen. Auch Kinderbücher erzeugen ein spezifisches Wissen über die Welt und die Menschen in dieser Welt. Deswegen erforschen wir die literarischen Konzepte, Ideen und Bilder, die das Leben in der Migrationsgesellschaft darstellen, interpretieren und vermitteln, um diese Kindern verständlich zu machen (Hall 2000, S. 151?ff.).
Mit einer Diversity-Perspektive ist die »Aufforderung verbunden, Differenz anzuerkennen, d. h. die unterschiedlichen Voraussetzungen der Lernenden in der Gestaltung von Bildungsprozessen angemessen zu berücksichtigen« (Georgi 2017, S. 17). Zu den zentralen Anliegen einer solchen Sichtweise gehören, für Vielfalt zu sensibilisieren, potenzielle Konflikte vorzubeugen und konstruktive Lösungsansätze für vorhandene Konflikte anzubieten. Allerdings stehen diese Ansätze vor der Herausforderung, die Bildungsprozesse kontinuierlich selbst- und machtkritisch zu reflektieren (ebd., S. 18?f.).
Vor allem die sich immer stärker...
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