Kapitel 2: Immer nur verkaufen?
»Was im Vertrieb vor einigen Jahren gültig war, gilt heute nicht mehr.«
Heute Abend veranstalte ich eine Panel-Diskussion. Da wir immer noch in der Corona-Zeit sind, findet sie online statt. Und natürlich geht es um das Thema Vertrieb: wie Verkaufen heute funktioniert und wie sich der Vertrieb durch Corona verändert hat. Es haben sich mehr Interessenten angemeldet als erwartet, ich bin sehr zufrieden.
Wie immer bin ich mit meinen Gästen und mit meiner Assistentin Louisa schon einige Zeit vorher online. Sie wird sich um den Chat und um diejenigen kümmern, die erst später dazukommen. Die Technik funktioniert, und die Panel-Diskussion beginnt. Ich begrüße alle und stelle meine Gäste vor. Es sind drei Unternehmer aus ganz unterschiedlichen Marktbereichen. Denn mir ist es besonders wichtig, unterschiedliche Standpunkte und Sichtweisen aus verschiedenen Branchen vorzustellen. Zwei der Teilnehmer, Robert und Paul, sind meine Kunden, Daniel kenne ich schon seit langem. Er gehörte früher ebenfalls zu meinen Kunden, ist international tätig und inzwischen selbst als Berater unterwegs.
Robert stelle ich zuerst vor. Er kommt aus dem Bereich Medizintechnik. Das Unternehmen stellt Monitore und Apparaturen für die Endoskopie und die minimalinvasive Chirurgie her genauso wie Sauerstoff- und Beatmungsgeräte. Und wie wir noch sehen werden, gehört sein Unternehmen zu den Gewinnern der Corona-Krise.
Der zweite Diskussionsteilnehmer, Paul, ist einer meiner ersten Kunden. Er kommt aus einem innovativen und zugleich sehr bodenständigen Maschinenbauunternehmen in Baden-Württemberg, das Textilbearbeitungsmaschinen gemeinsam mit seinen Kunden entwickelt und herstellt.
Daniel, mein dritter Gast in der Runde, ist an einem Unternehmen beteiligt, das sich auf Produkte und Lösungen für die Video- und Konferenztechnik in Meetingräumen und für große Veranstaltungsräume in Messe- und Kongresshallen, Hörsälen und Auditorien spezialisiert hat.
Ein Strich durch die Rechnung
Ich beginne die Runde mit einer These: Dass sich der Vertrieb durch Corona sehr stark verändert hat und dadurch für die meisten Unternehmen noch mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt ist als vor der Pandemie.
»Wie sehen Sie das? Und wie waren Ihre Erfahrungen in der Krise?« eröffne ich die Gesprächsrunde.
Paul ist der erste, der sich zu Wort meldet: Corona ist für ihn eine große Herausforderung, gerade was den Kontakt zu seinen Kunden und den Vertrieb angeht. In den Jahren vor der Pandemie hat er für sein Unternehmen mehrere internationale Standorte in Tschechien, China und in Bangladesch aufgebaut, um die Kostenstruktur zu verbessern und sich für die Zukunft besser aufzustellen. Diese Strategie ist langfristig ausgerichtet. Und dazu gehört natürlich auch, dass das Unternehmen weiterwachsen muss. Zu mehr Wachstum gehören selbstverständlich größere Projekte, neue Kunden und zusätzliche Aufträge.
»Corona hat uns dabei erst einmal einen ganz großen Strich durch die Rechnung gemacht. Es war ja praktisch nicht mehr möglich zu reisen. Neukunden zu gewinnen war für uns so gut wie ausgeschlossen während der Pandemie. Die Vertriebsaktivitäten in Richtung Neukunden sind deshalb von mir erst einmal eingefroren worden. Wir haben uns darauf konzentriert, den Kontakt zu unseren bestehenden Kunden, vor allem zu unseren großen und wichtigen Kunden, zu halten.«
»In meinem Bereich, der Video- und Konferenztechnik«, wirft Daniel ein, »hatten wir sehr viele neue Anfragen von Unternehmen für Home-Office Einrichtungen ihrer Mitarbeiter und für die Ausstattung von Büroräumen mit zusätzlichen Videokonferenz-Systemen. Dabei gab es schon bald extreme Schwierigkeiten mit der Liefersituation. Beispielsweise war der Markt für Laptops, Monitore und Drucker geradezu leergefegt. Wir hatten deshalb sehr viele Aufträge, die wir nicht umsetzen konnten. Trotzdem hat uns das während der Krise wenigstens etwas über Wasser gehalten.«
Denn auf der anderen Seite sind für ihn, führt er weiter aus, alle Aufträge für die Ausstattung großer Veranstaltungsräume weggebrochen. Diese Aufträge sind typischerweise seine Hauptaufträge, mit denen er einen Großteil von seinem Jahresergebnis hereinholt. Es finden ja keine Veranstaltungen mehr statt und die Zukunft ist ungewiss.
Deshalb wurden von seinen Kunden Budgets eingefroren und laufende Projekte eingestellt. »Wir sehen in diesem Bereich derzeit keine Möglichkeit, neue Aufträge abzuschließen. Deshalb haben wir auch unsere Ausgaben so weit wie möglich gesenkt, unter anderem, indem wir in Kurzarbeit gegangen sind und fast alle Werbemaßnahmen eingestellt haben.«
Daniel rutscht noch etwas tiefer vor der Kamera, und der Druck, der auf seinen Schultern lastet, ist ihm deutlich anzusehen. Er wird richtig wütend:
»Es liegen ja immer noch keine vernünftigen Konzepte vor, wie in Zukunft große Veranstaltungen, seien das Vorlesungen, Vorträge oder Kongresse, mit mehreren hundert oder sogar Tausenden von Teilnehmern durchgeführt werden können. Solange das so ist, sehe ich vertrieblich kaum Möglichkeiten. Und selbst wenn Konzepte vorliegen, kann ich kaum glauben, dass der Bereich von Events und Veranstaltungen wieder so wird wie früher.«
Ich bedanke mich bei Daniel für seine sehr offenen und ehrlichen Worte - es ist alles andere als selbstverständlich, dass ein Unternehmer seine schwierige geschäftliche Situation in einer so großen Runde und so detailliert offenlegt.
»Robert«, und damit gebe ich das Wort an meinen dritten Gast weiter, »Du hast ja deutlich mehr Glück mit Deinem Portfolio, was Corona angeht. Soweit ich das weiß, waren die letzten Monate für Dein Unternehmen auch extrem anspruchsvoll, und zwar deshalb, weil Du mit Anfragen zu Beatmungsgeräten geradezu überrannt worden bist, richtig?«
»Ja, das stimmt,« antwortet Robert. Sein Unternehmen hat tatsächlich seine Produkte für die Beatmungstherapie recht schnell anpassen können auf die spezifischen Anforderungen aus der Pandemie. Er konnte sich deshalb in den letzten Monaten vor Anfragen kaum retten. Während er das erzählt, legt sich seine Stirn in Falten. Er sieht sorgenvoll und wirklich gestresst aus.
»Wir haben mehr zu tun mit der Frage, wie wir unsere Anfragen abarbeiten und unsere Aufträge erfüllen können, als damit, wie wir an neue Aufträge kommen. Die Arbeitsbelastung ist immens hoch und ich habe seit Beginn der Pandemie weder ein freies Wochenende gehabt noch Urlaub gemacht.«
Aus demselben Grund hat er auch während Corona neue Vertriebsmitarbeiter eingestellt. Denn es ist in dieser Situation nicht einfach, die Abläufe im Unternehmen im Griff zu behalten und bestehende wie auch neue Kunden nicht zu verärgern.
Ich bedanke mich bei Robert und fasse noch einmal zusammen:
»In zwei Unternehmen wurden die Vertriebsaktivitäten und auch die Ausgaben für Werbemaßnahmen aufgrund der Pandemie und den damit einhergehenden Lock-Downs und Kontaktbeschränkungen nahezu komplett eingestellt. Der Grund dafür ist bei Daniel, dass der Markt für große Veranstaltungen schlicht und einfach nicht mehr vorhanden ist, und bei Paul, dass er keine Möglichkeit sieht, während der Pandemie Neukunden für zusätzliche Projekte zu gewinnen.
Bei Robert wiederum, dem dritten Unternehmen, von dem wir gehört haben, war der Fokus darauf, bestehende Produkte aus der Beatmungstherapie für den Einsatz in der Pandemie anzupassen und den vielen zusätzlichen Kundenanfragen überhaupt nachzukommen.«
Ich füge hinzu: »Wir haben jetzt von drei Unternehmern aus verschiedenen Branchen gehört, wie sie auf die Veränderungen im Markt in der Pandemie reagiert haben. Die folgende spannende Frage schließt sich hier für mich an: Denn wir wollen doch auch wissen, welche Vertriebsstrategien am Ende am erfolgreichsten waren?«
Dazu erzähle ich von einer interessanten Studie der Ruhr-Universität Bochum. Es wurden 295 Vertriebsprofis in Unternehmen befragt. Dabei hat sich herausgestellt, dass die Verhaltensweisen, die von den Dreien beschrieben wurden, nämlich die Vertriebsaktivitäten zu reduzieren und sich nur auf große Kunden und Key-Accounts zu konzentrieren, ganz typisch sind. So haben die meisten Unternehmen reagiert.
Tatsächlich allerdings waren laut der Studie folgende Strategien erfolgreich:
In Summe haben diejenigen Unternehmen die besten Ergebnisse erzielt, die gerade nicht ihre Vertriebsaktivitäten reduziert, sondern den Arbeitseinsatz in ihrem Vertrieb, und zwar gerade in ihrem Außendienst, erhöht haben. Dabei ging es besonders darum, die Ziele der Mitarbeiter an die veränderten Rahmenbedingungen in der Pandemie anzupassen. Auch hat sich herausgestellt: Es war aussichtsreicher, sich mehr auf die kleinen Kunden zu konzentrieren, als den Fokus nur auf die großen Kunden und die Key-Accounts zu legen.
Dazu passt sehr gut das Ergebnis einer Untersuchung der Universität im Rahmen einer Doktorarbeit. Hier wurde gezeigt, dass es sich auch nur bis zu einem gewissen Grad lohnt, den Arbeitseinsatz bei ein- und demselben Kunden zu erhöhen. Viel hilft eben auch im Vertrieb nicht immer viel, sondern schadet manchmal mehr, als dass es zusätzlichen Nutzen bringt.
Kommunizieren im digitalen Raum
»Neben der Frage, welche Vertriebsstrategien in der Krise am Ende die erfolgreichsten sind«, ergänze ich, »hat mich und vermutlich uns alle auch sehr beschäftigt, dass sich die Kommunikationswege im Vertrieb durch die Pandemie radikal verändert haben. Persönliche Treffen und Reisen zu den Kunden waren ja nicht mehr möglich. Mit dem Ergebnis, dass die Kundenkommunikation fast ausschließlich im virtuellen Raum stattgefunden hat, bevorzugt per Videokonferenz und...