Katja / Wiesbaden 1984
Katja hatte diese beiden Briefe weggelegt, um sie nie wieder lesen zu müssen, nun fallen sie ihr doch in die Hände, weil sie, statt sich wie üblich um die Mittagszeit ein wenig hinzulegen und zu ruhen, ihren Schreibtisch aufräumen will und sie die Schubladen herausnimmt, um sie mit einem feuchten Lappen auszuwischen.
Zwei Briefe. Der eine auf liniertem Papier im billigen und inzwischen völlig zerknitterten Umschlag, die krakelige Schrift schon verblassend, die Briefmarke fast abgelöst. Der andere ebenfalls auf liniertem Papier, doch der Umschlag sauber und glatt, die Schrift flüssig.
Zwei Briefe. Der eine von Johannes geschrieben, ihrem Bruder. Der andere von ihrer einstigen Freundin Birte.
Die Erinnerung an ihren lange als vermisst, dann für tot erklärten und plötzlich doch noch lebenden Bruder hatte Katja ebenso weit nach hinten geräumt wie diesen Brief von ihm, der 1955 in Moskau abgeschickt worden war. Da war Johannes gerade aus einem sibirischen Arbeitslager entlassen worden und in Moskau gestrandet. Der Brief, an „Dora von Denninghoff, Gut Dabvitz auf Rügen“ adressiert, war mehr als ein Jahrzehnt unterwegs gewesen, wohl mehrfach geöffnet und wieder zugeklebt und Katja schließlich vom Suchdienst des Roten Kreuzes in Berlin nach Wiesbaden nachgeschickt worden. Es gehe ihm nicht gut, hatte Johannes an seine Mutter geschrieben, man habe ihm im Lager den Rest des verletzten Beines abnehmen müssen, er sei sehr krank, leide unter anderem an den Folgen von Jahre langen Entbehrungen und Erfrierungen. Aber ich bin momentan noch in guten Händen, schrieb er. Und wenn ich wieder auf den Beinen sein werde, dann kehre ich heim auf die Insel und werde Dir und meiner kleinen Schwester alles erzählen. Den knappen Zeilen war ein Foto beigefügt, das Katja lange und auch später immer wieder betrachtet hatte; sie sah in das schmale, eingefallen wirkende Gesicht eines fremden und alt wirkenden Mannes mit einer sie tief berührenden Verlorenheit in seinem Blick und fragte sich, was alles geschehen sein musste, um ihren Bruder derart zu verändern.
Sie hatte, gleichzeitig froh und zutiefst betroffen, sofort auf diesen Brief geantwortet, ihrem Bruder vom Tod ihrer Mutter und ihrer Heirat mit Wilhelm berichtet und ihm von ihrer Familie und ihrem Leben in Westdeutschland erzählt. Sie schrieb ihm, sie und ihr Mann würden alles unternehmen, um ihn so schnell wie möglich nach Wiesbaden zu holen. Als sie den Brief auf die Post brachte, war sie fest davon überzeugt, ihren Bruder bald wiedersehen zu können. Sie machte mit Wilhelm zusammen sogar Pläne für Johannes: den Dachboden der Villa konnte man zu einer hübschen Wohnung für ihren Bruder ausbauen, mit Fahrstuhl, und Johannes würde sich mit einer guten Prothese wieder normal bewegen und in der Buchhandlung mitarbeiten können.
Aber Johannes hatte nie auf diesen Brief geantwortet. Zurück war die Post auch nicht gekommen; wahrscheinlich war sie irgendwo verlorengegangen. Auch Wilhelms Nachforschungen nach dem Verbleib seines Schwagers verliefen im Sand.
Doch etwa zwei Jahre später gab es erneut einen Hinweis darauf, dass Johannes vielleicht doch noch am Leben und nicht mehr in Moskau, sondern auf Rügen gewesen war.
Ein Freund meines Mannes will Deinen Bruder vor einigen Tagen in der Nähe von eurem ehemaligen Haus in Dabvitz gesehen haben“, schrieb Birte an Katja in Wiesbaden. Er erzählt, er und Johannes seien im Januar 44 zusammen in Gefangenschaft geraten, von den Russen aber in verschiedene Arbeitslager geschickt worden. Danach hatte er nichts mehr von Deinem Bruder gehört. Aber jetzt ist er sich sicher, dass sein ehemaliger Kamerad überlebt hat und heimgekehrt ist.
Katja hatte Birte sofort angerufen, erneut zwischen Hoffen und Bangen schwankend.
„Mein Bruder hat im Lager ein Bein verloren.“
Sie werde den Freund danach fragen, hatte Birte versichert. Und ein paar Tage später angerufen. „Es tut mir sehr leid, Katja. Er hat sich wohl geirrt, denn der Mann, den er gesehen hat, benutzte keine Krücken.“
Wilhelm machte sich Gedanken: „Es gibt inzwischen gute Prothesen, die Krücken überflüssig machen.“
Aber Katja hatte keine Kraft mehr für Hoffnung.
Manchmal in dieser Zeit, in der sie den Tod ihres Bruders zu akzeptieren versuchte, hatte sie an sonnigen Tagen unter der Trauerweide hinten im Garten gesessen und den Zwillingen beim Spielen zugesehen. Sie hatte dann oft an ihre Eltern gedacht, die nun schon seit Jahren tot waren, und auch an ein wohl namenloses Grab irgendwo in den unendlichen Weiten Russlands, über das im Frühjahr und im Herbst die Kraniche zogen. Sie erinnerte sich daran, dass diese schönen Vögel auf ihren Flügen im Herbst in den Süden oder zu Beginn des Frühlings in den Norden regelmäßig auf der Insel einfielen, um dort zu rasten und sich für den langen Weiterflug zu stärken. In diesen Zeiten war ihr um elf Jahre älterer Bruder Johannes nicht zu halten gewesen, oft blieb er tagelang verschwunden, um die Kraniche zu beobachten, statt sich um seine Pflichten auf dem Gut oder um die Schule zu kümmern. Manchmal hatte er seine kleine Schwester mit auf diese Ausflüge genommen, dann hockten sie unter Büschen oder kleinen Bäumen ganz in der Nähe der lärmenden Kraniche, und Johannes erzählte ihr im Flüsterton, was er über die Balzrituale und das Brüten der großen, eleganten Vögel wusste. Er zeigte und deutete ihr die verschiedenen Flugformationen, mit denen die Kraniche das Himmelsblau zerschnitten. Wenn der Krieg vorüber sei, hatte Johannes ihr bei seinem letzten, auf die Weihnachtstage begrenzten Heimaturlaub auf Gut Dabvitz erklärt, dann werde es vielleicht kein elterliches Gut mehr geben, aber er würde als Förster und als Ornithologe dafür sorgen, dass auf der Insel ein großes Vogelschutzgebiet vor allem den Kranichen ermöglichte, in Ruhe zu nisten und ihre Jungen aufzuziehen. Er selbst werde in diesem Gebiet in einer Bauernkate leben, weitab von dem Trubel der Badeorte. Katja, zu dieser Zeit knapp acht Jahre alt, hatte ihm mit angehaltenem Atem und freudestrahlend zugehört und schließlich gefragt, ob sie ihm dabei helfen dürfe, die Vögel zu beobachten und zu bewachen.
„Du wirst meine Kranich-Assistentin – wenn ich aus diesem Krieg heil zurückkomme, Schwesterchen“, hatte er ihr versprochen, bevor ihre Mutter den Mund aufmachen konnte, um zu protestieren und ihn daran zu erinnern, dass er aus diesem Krieg zurück zu kehren habe, um endlich das Gut zu übernehmen und zu leiten. „Was erzählst du dem Kind für einen Unsinn, Johannes!“, schimpfte sie. „Nichts, auch dieser Krieg nicht, wird Dabvitz und unsere Familie jemals zerstören können!“
Zu diesem Zeitpunkt war die Nachricht vom Tod ihres Mannes im Kessel von Stalingrad schon über einen Monate alt. Und kurz nach dem letzten Wiedersehen mit Johannes erhielt Dora von Denninghoff die Nachricht, dass nun ihr Sohn vermisst werde. Sie ertrug diese Schicksalsschläge mit bemerkenswerter, geradezu beängstigender Fassung; nichts hatte je ihren Rücken beugen können. Nun trotzte sie mit erhobenem Kinn erneut dem Schicksal. Mit unbeweglicher Miene gab sie dem Steinmetz den Auftrag, Namen, Geburts- und Todestag ihres Mannes in den kantigen Grabstein der Familiengruft auf dem Dorffriedhof zu meißeln, auch wenn sein Leichnam in fremder, ihr unbekannter Erde ruhte.
Eigenwillig und naturverbunden war er, mein Bruder, erinnert Katja sich jetzt, während sie das zerknitterte Briefpapier zu glätten versucht, das Johannes mit krakeliger Schrift beschrieben hat. Wieder betrachtet sie das beigefügte Foto, sucht nach Vertrautem. Doch der Mann auf dem Bild hat nichts mehr von dem schlaksigen Jungen von einst an sich. Nichts erinnert noch an die Fröhlichkeit, den leisen Spott in seinen Augen, den rebellischen Zug um seinen Mund. Bevor er Ornithologe werden wollte, redete er davon, als Abenteurer die Welt, als Astronom den Himmel oder als Archäologe die Vergangenheit zu erforschen statt Gutsherr zu werden wie sein Vater. Doch seine Mutter hatte schon früh ganz konkrete Pläne für ihren einzigen Sohn gehabt: Johannes war gerade vierzehn, als sie ihn in ein Internat einer Landwirtschaftlichen Akademie bei Berlin brachte. Katja war noch zu jung, um seine Reaktion darauf zu verstehen. Er war im Zorn gegangen, wie Johannes seiner Schwester später erzählte. Zornig auf seine Mutter, aber auch wütend über die Unfähigkeit seines Vaters, sich wenigstens einmal gegen die Wünsche seiner Frau und auf die Seite seines Sohnes zu stellen. Heinrich von Denninghoff, der schon bald zum engeren Kreis um Adolf Hitler gehörte und deshalb mehr in Berlin als auf Dabvitz weilte, kümmerte das wenig. Dann brach der Krieg aus, und Johannes, aus Protest gegen seine Eltern bereits durch mehrere wichtige Prüfungen an der Schule gefallen, kehrte ohne Abschluss nach Rügen zurück – nur um wenige Wochen darauf die Uniform anzuziehen und wieder zu gehen, noch immer mehr ein Junge als ein Mann, schmal, hoch aufgeschossen, sein Gesicht oft zur Maske erstarrt, die zu weite Uniformjacke hing an ihm wie ein nasser Sack. Er war gerade neunzehn Jahre alt geworden.
Katja starrt auf das Foto in ihren Händen, plötzlich überwältigt von Erinnerungen an den Bruder und andere Verluste in ihrem früheren Leben. Sie hatte sich eingebildet, dass Johannes ebenso wie ihre große Liebe Jan Olsen, ihre Mutter und alle Geschehnisse damals auf der Insel zur Vergangenheit gehörten, mit der sie abgeschlossen hatte. Das Jetzt und das, was vor ihr lag, was auf sie zukam, sollte wichtig sein in ihrem Leben. Nicht das, was hinter ihr lag. Das will und werde ich vergessen, hatte sie ihrem Mann in einem ihrer Gespräche...