Schweitzer Fachinformationen
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Ein wenig habe ich meine Wanderung durch die Zeit, durch meine Lebenszeit skizziert, über Stationen geschrieben und manche Linien gezogen von dort nach hier oder von hier nach dort. Das war kein chronologischer Lebenslauf, obwohl manche Daten schon ein eigenes Gewicht hatten, eine besondere biographische Bedeutung.
Ich hatte kein Damaskus-Erlebnis. Umgangssprachlich verstehen wir darunter eine Bekehrung, nämlich die Begegnung des Völkerapostels Paulus von Tarsus mit dem auferstandenen Jesu, also ein konkretes Erlebnis, das seinem Leben eine neue Richtung gab, einen neuen Sinn, eine radikale Veränderung. Ein solches Erlebnis kann ich nicht anführen, jedenfalls kann ich keinen Ort und kein Datum nennen. Lieber spreche ich von einer inneren und äußeren Entwicklung, von einem längeren Prozess, der mich immer wieder herausforderte, eigene und souveräne Entscheidungen treffen zu wollen und zu müssen. Gerne rede ich auch von einer Art Emanzipation oder auch davon, dass zugunsten meiner Selbstbestimmung viele erkennbare Fremdbestimmungen zurückgedrängt und somit in Grenzen gehalten wurden, ganz ausschließen kann man sie ja nie, wir leben eben nicht einsam auf einer Insel, sondern sind immer eingebunden in Zeit und Raum. Und dennoch lege ich die Betonung auf eigene Entscheidungen. Darin steckt ja das Wort Scheidung. Mehr und mehr ist mir der Geist der Unterscheidung wichtig geworden - von den vielen Angeboten des Lebens, von den vielen Möglichkeiten diejenigen entdecken, die für mich angemessen oder mir zugemessen sind. Man muss nicht jede Jacke anziehen, die einem hingehalten wird, aber man muss zugreifen, wenn eine passt. Es ist mir nicht immer, aber oft gelungen, den richtigen Zeitpunkt für die richtige Entscheidung zu treffen, indem ich Räume verlassen habe, um Neues zu wagen oder, wie es eine alte Indianerweisheit ausdrückt: «Wenn du merkst, dein Gaul ist tot - steig ab.» Du darfst nicht ignorieren, wenn es solche «toten Momente» in deinem Leben gibt, wenn es Zeit ist zu gehen.
Das Leben ist ein Weg, eine Reise, eine Wanderung. Es hat einen Sinn und eine Richtung.
Der Held im Märchen muss sich lösen von früheren Bindungen, muss sich allein bestimmten Aufgaben stellen. Der Weg in die Isolation führt in die Einsamkeit. Sind Gefahren und Einsamkeit bestanden, führt das Entwurzelt-Sein zu einer Allverbundenheit, die heilsam wirkt. Oft zeigt sich die Isolation des Märchenhelden darin, dass er als dumm gilt oder unbeholfen, dass ihm nichts oder nur sehr wenig zuzutrauen ist. Im Grunde habe ich davon geschrieben, dass es Erfahrungen gibt - und ich durfte sie machen -, die den Abstand von Gewohntem voraussetzen, besonders die Erfahrungen des unverwechselbar eigenen Lebenssinnes auf meiner Lebenswanderung.
«Der Mensch wird des Weges geführt, den er wählt» und «Weg wird Weg im Gehen!» Wir spüren sofort die Spannung: Wir werden geführt - wir wählen! Wenn wir uns ganz tief, in Übereinstimmung mit unserem Wesen, für etwas entschieden haben, dann werden in uns Kräfte frei, dann wachsen uns Kräfte zu, die uns den Weg öffnen und zu gehen ermöglichen. Denn letztlich kommt es darauf an, nicht nur über einen Weg geschrieben oder gesprochen und nachgedacht zu haben, sondern ihn gegangen zu sein.
Und ganz unverdient ist es ein großes Geschenk, auf seinem Weg immer wieder Menschen begegnen zu dürfen. Von drei Begegnungen will ich erzählen. 1927, 1928, 1929 - drei Jahrgänge, drei besondere Menschen aus diesen Jahrgängen, die etwas gemeinsam hatten, sie waren sehr weise Männer: William Wolff 1927, Heinrich Rathke 1928 und Peter Heidrich 1929.
«Weisheit» ist eines der ehrwürdigsten Wörter unserer Sprache, eines der wenigen Wörter, die nicht dem allgemeinen Gesetz der Verflachung und Sinnentleerung erlegen sind. Wir gehen sparsam um mit diesem kostbaren Wort, und nur wenige Menschen würden wir die Ehre erweisen, sie «weise» zu nennen, denn dann reden wir in großer Ehrerbietung von einer letzten Würde, zu der ein Mensch reifen kann.
Rabbi William Wolff: 1927 in Berlin geboren und 2020 in London gestorben, mit zwölf Jahren nach England emigriert, dort als Journalist gelebt und gearbeitet und mit fünfzig Jahren Landesrabbiner in Mecklenburg geworden.
Meine erste Begegnung mit ihm war im Jahr 2002 in Güstrow. Der dortige Pastor, Folker Hachtmann, gründete nach der Wende einen Verein, der sich mit jüdischem Leben in Güstrow beschäftigte. Später erhielt er von der Stadt für sein Engagement die Ehrenbürgerschaft verliehen. Im Dom zu Güstrow fand in diesem Kontext eine Veranstaltung statt, zu der auch Rabbi Wolff eingeladen war. Während einer Pause standen der Rabbi, einige evangelische Pastoren und ich vor dem Dom im Kreis und unterhielten uns. Einer der Pastoren berichtete mit bedeutender Stimme von seiner Arbeit und hob dabei hervor, dass er viel Zeit damit verbringe, sich die Sorgen und Nöte seiner Schäfchen anzuhören. «Das kenne ich auch», sagte der Rabbi und erzählte uns einen Witz: Ein Jude will beim Rabbi Rat holen. Drei Stunden lang schwätzt er, dann fragt er: «Rabbi, was soll ich tun?» «Du sollst dich taufen lassen», rät der Rabbi. Der Jude ist beleidigt: «Rabbi! Was soll das?!» Der Rabbi: «Dann wirst du in Zukunft dem Pfarrer den Kopf verdrehen und nicht mir!» Über jüdische Witze hatte ich viel gelesen und gehört. Nun aber lernte ich jemand kennen, der sie sehr authentisch erzählte, aber nicht, um einfach nur zu belustigen, sondern um zu entspannen. In einer anderen Versammlung, auch wieder mit evangelischen und katholischen Geistlichen, trug ein Teilnehmer seine Sicht der Dinge sehr leidenschaftlich vor, brachte einzelne Textbeispiele aus dem Matthäusevangelium mit dem Antisemitismus in Verbindung und hob hervor, wie geradezu dämonisch sich diese «theologische Verkürzung» geschichtlich ausgewirkt hat. Rabbi Wolff entgegnete: «Aber wir Juden haben vom Christentum auch zwei Dinge gelernt, die Liebe zur Liturgie und die Pünktlichkeit!». So nahm er immer wieder Druck aus dem Kessel.
Ein Dreivierteljahr vor seinem Tod im Jahr 2020 fuhr der Hamburger Weihbischof Horst Eberlein mit mir und ein paar weiteren Priestern nach London. Aus Rostocker und Schweriner Zeiten war er mit Rabbi Wolff sehr herzlich verbunden. In London übernachteten wir in einem Hotel. Von dort aus riefen wir Rabbi Wolff an, um uns mit ihm zu treffen. Er kam zu uns, erkundete sich, welche Sehenswürdigkeiten wir uns schon angeschaut hätten, und machte uns klar, dass wir etwas sehr Entscheidendes noch nicht kannten. So fuhr er mit uns im Taxi quer durch London zur alten Deutschen Botschaft, wo der deutsche Botschafter von 1936 tatsächlich seinen Hund Ciro begraben hatte. Weil wir das Grab nicht sofort fanden, kümmerte sich Felix, einer der Priester dieser Gruppe, höchst persönlich und auf seine Weise: Auf der anderen Straßenseite stand ein Aufgebot von Polizisten, weil dort offenbar eine Demo stattfand. Felix ging zu ihnen und sagte: «Hier soll irgendwo ein Hund begraben sein, können Sie uns da weiterhelfen?» Die Polizisten verstanden diese Frage als einen schlechten Scherz und reagierten entsprechend. Inzwischen hatten wir das Grab entdeckt. Der Rabbi freute sich wie ein Kind, dass er uns eine Kuriosität zeigen konnte, die selbst in London weitgehend unbekannt schien, und zeigte einmal mehr seinen hintergründigen Humor. Meine und unsere letzte Begegnung mit Rabbi Wolff endete in London auf einem Bahnsteig. Er segnete uns. Das ging mir unter die Haut.
Rabbi Wolff war klein von Person und zierlich, aber sein Gesicht war offen und fröhlich, sein Lachen offenbarte sein Wesen. Er hatte keine Berührungsängste. Immer wieder betrat er Kirchen und machte deutlich, worauf es ihm ankam: auf Verständigung und Versöhnung.
Nahe der Stadt Ludwigslust in Wöbbelin befindet sich eine KZ-Mahn- und Gedenkstätte. Im Mai jeden Jahres kommen ehemalige Überlebende nach Wöbbelin und Ludwigslust, um an den Holocaust zu erinnern. Auch für Rabbi Wolff war es wichtig, dabei zu sein. Am 10. November jeden Jahres gedenken Christen in Lübeck der Ermordung der vier Geistlichen aus Lübeck. Über den 9. November habe ich ja geschrieben. Dass ein Jude einen Tag später, am 10. November, eine Kirche betritt und einen christlichen Gottesdienst mitfeiert, ist alles andere als selbstverständlich. Und als ich in der Propsteikirche in Schwerin die Fastenpredigten zu mehreren Psalmen hielt, saß Rabbi Wolff in der ersten Reihe. Ich habe stets die Größe und die Menschlichkeit dieses Mannes bewundert. In meinem Gedächtnis bleibt er lebendig, und so höre ich oft den Klang seiner Stimme, die sagt: Herrlich! Kolossal!
Heinrich Rathke, 1928 in Mölln bei Neubrandenburg geboren, wuchs im Pfarrhaus Malchow auf, von der Oberschule Waren wurde der Jahrgang 1928 noch in die Marineflak eingezogen. Nach dem Krieg studierte er an verschiedenen Orten Theologie und wurde 1956 in Rostock promoviert. Sein Weg als Pastor in Mecklenburg führte ihn zunächst ins Dorfpfarramt, danach in die Stadt und wiederum danach ins Landesamt für Gemeindedienst, von 1971 bis 1984 in das Amt des Landesbischofs und endete schließlich als Pastor in einer Kleinstadt.
Am 20. Januar 1999 fand in der Aula der Universität Rostock ein Akademischer Festakt statt, an dem ich die Ehre hatte, teilnehmen zu dürfen. Heinrich Rathke und Joachim Gauck wurden mit der Ehrendoktorwürde der Theologischen Fakultät geehrt. In seiner Dankesrede ging Heinrich Rathke auf den Umgang mit anderen und die christliche Weggefährtenschaft ein, und damit berührte er...
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