Kapitel 2: Ankunft in Wolkenhausen
Lina setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Die Wolken unter ihren Füßen fühlten sich erstaunlich fest an, wie ein weicher, federnder Teppich. Trotzdem ging sie langsam, aus Angst einzusinken. Der Kompass in ihrer Hand leuchtete sanft und wies ihr den Weg.
Je weiter sie ging, desto bunter wurde die Welt um sie herum. Am Horizont sah sie Regenbogen, die wie Brücken zwischen den Wolkeninseln gespannt waren. Kleine, leuchtende Punkte tanzten in der Luft - waren das Sterne? Aber Sterne sah man doch nur nachts, oder nicht?
Lina war so damit beschäftigt, die Wunder um sich herum zu bestaunen, dass sie fast über etwas gestolpert wäre, das plötzlich vor ihr auf dem Wolkenpfad saß.
"Hoppla! Vorsicht, wo du hintrittst!", sagte eine freundliche Stimme.
Lina blinzelte überrascht. Vor ihr saß ein kleines, flauschiges Wesen, das tatsächlich aussah wie ein Schaf - nur dass sein Fell nicht weiß, sondern in sanften Pastellfarben schimmerte, mal rosa, mal hellblau, je nachdem, wie das Licht darauf fiel.
"Oh! Entschuldigung", stammelte Lina. "Ich... ich habe dich nicht gesehen."
Das Wolkenschaf lachte. Es hatte ein fröhliches, ansteckendes Lachen. "Kein Problem! Ich bin Benno Wolkenschäfchen. Und du musst Lina sein."
Lina starrte ihn mit großen Augen an. "Woher kennst du meinen Namen?"
Benno deutete auf den Kompass in ihrer Hand. "Der Wolkenkompass hat dich zu uns geführt. Er tut das nur bei besonderen Menschen - Menschen mit viel Fantasie und einem guten Herzen. Und er hat uns deinen Namen verraten."
"Der Kompass kann sprechen?", fragte Lina erstaunt.
"Nicht mit Worten", erklärte Benno und stand auf. Er war etwa so groß wie Lina, vielleicht ein bisschen kleiner. "Er kommuniziert auf seine eigene Weise. Durch Licht und Klang und... nun ja, auf eine Art, die schwer zu erklären ist. Aber er hat uns gesagt, dass du kommst, und dass du Lina heißt."
Lina betrachtete den Kompass in ihrer Hand mit neuem Respekt. "Und... wo bin ich hier?"
"Im Wolkenreich, natürlich!", rief Benno fröhlich und machte eine ausladende Geste. "Genauer gesagt, am Rande von Wolkenhausen, unserer Hauptstadt. Komm, ich zeige sie dir!"
Er hüpfte voraus, und Lina folgte ihm zögernd. Sie gingen über einen Pfad aus besonders dichter, fester Wolkensubstanz. Zu beiden Seiten erstreckten sich weite Felder aus flauschigen Wolken in verschiedenen Formen und Farben.
"Das sind unsere Wolkenfelder", erklärte Benno. "Hier züchten wir verschiedene Wolkenarten. Die weißen, flauschigen dort drüben sind Schönwetterwolken. Die grauen, die du in der Ferne siehst, sind Regenwolken - die halten wir lieber etwas abseits, damit sie nicht aus Versehen über Wolkenhausen regnen."
Lina sah sich staunend um. "Ihr züchtet Wolken?"
"Natürlich! Irgendjemand muss das doch tun", sagte Benno, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. "Die Wolken, die du von der Erde aus siehst, kommen alle von hier. Wir züchten sie, pflegen sie, und wenn sie groß und stark genug sind, schicken wir sie auf die Reise."
Sie kamen an eine Stelle, wo der Pfad breiter wurde und in eine Art Platz mündete. Hier tummelten sich verschiedene Wesen - mehr Wolkenschafe wie Benno, aber auch andere Gestalten, die Lina noch nie gesehen hatte. Einige sahen aus wie kleine Menschen, aber mit durchsichtigen, schimmernden Flügeln. Andere erinnerten an Tiere, aber mit ungewöhnlichen Farben und Formen.
"Das ist der Marktplatz von Wolkenhausen", erklärte Benno. "Hier treffen sich alle zum Handeln, Plaudern und Neuigkeiten austauschen."
Plötzlich kam ein seltsames Wesen auf sie zugeflogen. Es sah aus wie eine Mischung aus Vogel und Wolke, mit einem Briefumschlag im Schnabel.
"Das ist Flitz, unser Wolkenpostbote", flüsterte Benno Lina zu. "Er ist... nun ja, etwas zerstreut."
Flitz landete vor ihnen und ließ den Brief fallen. "Post für Benno Wolkenschäfchen!", verkündete er stolz.
Benno hob den Brief auf und betrachtete ihn. "Ähm, Flitz, dieser Brief ist für Frau Sternenstaub. Steht direkt hier auf dem Umschlag."
Flitz blinzelte verwirrt. "Oh. Wirklich? Aber ich war mir so sicher..." Er nahm den Brief zurück, beäugte ihn kritisch und seufzte dann. "Na gut, dann muss ich wohl noch einmal los. Aber wer bist denn du?", fragte er und betrachtete Lina neugierig.
"Das ist Lina", stellte Benno sie vor. "Sie ist gerade mit dem Wolkenkompass zu uns gekommen."
"Ohhh!", machte Flitz und seine Augen wurden groß. "Der Wolkenkompass! Den haben wir ja ewig nicht mehr gesehen! Wie aufregend!" Er flatterte aufgeregt mit seinen wolkigen Flügeln. "Ich muss das sofort allen erzählen! Nachdem ich diesen Brief zugestellt habe. Oder war es ein anderer Brief?" Verwirrt schaute er auf den Umschlag in seinem Schnabel. "Ach, egal. Willkommen im Wolkenreich, Lina!" Und damit flog er davon, in die völlig falsche Richtung, wie Benno leise anmerkte.
Lina musste lachen. "Er ist lustig."
"Ja, das ist er", stimmte Benno zu. "Aber er meint es gut. Komm, ich zeige dir den Rest von Wolkenhausen."
Sie schlenderten über den Marktplatz, und Benno erklärte Lina alles, was sie sahen. Da waren Stände, an denen Wolkenzucker verkauft wurde - eine besonders süße, fluffige Süßigkeit, die auf der Zunge zerging. Es gab Geschäfte, in denen Regenbogenseide angeboten wurde, und Werkstätten, in denen Sternenlaternen hergestellt wurden.
"Was sind Sternenlaternen?", fragte Lina neugierig.
"Oh, die sind sehr wichtig", erklärte Benno. "Sie sorgen dafür, dass es nachts im Wolkenreich nicht zu dunkel wird. Schau, dort drüben kannst du sie sehen."
Er zeigte auf hohe Stangen, die über den Marktplatz verteilt standen. An jeder Stange hing eine Laterne, die aussah, als wäre ein echter Stern darin eingefangen. Sie leuchteten in einem sanften, silbrigen Licht.
"Sie sind wunderschön", flüsterte Lina.
"Ja, das sind sie", stimmte Benno zu. "Und sehr wichtig. Ohne sie wäre es nachts stockdunkel hier oben. Und viele von uns haben Angst im Dunkeln."
Lina nickte verstehend. Sie selbst fürchtete sich auch vor der Dunkelheit.
Sie gingen weiter, vorbei an gemütlichen Häusern, die wie kleine Wolkenberge aussahen, mit Fenstern und Türen und Schornsteinen, aus denen bunter Rauch in allen Regenbogenfarben aufstieg.
"Hier wohnen die meisten Wolkenbewohner", erklärte Benno. "Ich auch. Mein Haus ist dort drüben, das mit dem hellblauen Rauch."
Lina betrachtete die Wolkenhäuser fasziniert. Sie sahen so gemütlich aus, so einladend. Ganz anders als die strengen, eckigen Häuser in ihrer Welt.
Als sie um eine Ecke bogen, blieb Lina plötzlich stehen. In der Ferne, auf einer eigenen kleinen Wolkeninsel, erhob sich ein hoher, schlanker Turm. Er schien aus dunkleren, dichteren Wolken zu bestehen als alles andere hier, und um seine Spitze wanden sich seltsame, schattenhafte Gebilde.
"Was ist das?", fragte Lina und deutete auf den Turm.
Bennos fröhliche Miene verdüsterte sich ein wenig. "Das ist der Wolkenturm", sagte er leise. "Niemand geht dort hin. Es heißt, dort wohnt..." Er senkte seine Stimme zu einem Flüstern. "...der Schattenschreck."
"Der Schattenschreck?", wiederholte Lina. Allein der Name jagte ihr einen Schauer über den Rücken.
Benno nickte ernst. "Ein Wesen aus Schatten und Dunkelheit. Manche sagen, er sammelt die Ängste der Wolkenbewohner und nährt sich davon. Andere behaupten, er sei einmal ein normaler Wolkenbewohner gewesen, aber die Einsamkeit habe ihn verändert."
Lina betrachtete den Turm mit einer Mischung aus Furcht und Faszination. Etwas an ihm zog sie an, trotz der unheimlichen Geschichte, die Benno erzählt hatte. Oder vielleicht gerade deswegen?
In diesem Moment bemerkte sie, dass der Kompass in ihrer Hand wieder zu leuchten begonnen hatte. Nicht so hell wie zuvor, aber deutlich sichtbar. Und die Nadel... die Nadel zeigte direkt auf den Wolkenturm.
Lina schluckte. Was hatte das zu bedeuten?
Benno hatte den leuchtenden Kompass ebenfalls bemerkt. "Oh", sagte er leise. "Das ist... interessant."
"Was meinst du?", fragte Lina, obwohl sie die Antwort bereits ahnte.
"Der Wolkenkompass führt dich nie ohne Grund irgendwohin", sagte Benno nachdenklich. "Wenn er auf den Wolkenturm zeigt, dann... dann gibt es dort etwas, das du finden oder tun musst."
Lina schaute wieder zum Turm hinüber. Der Gedanke, dorthin zu gehen, zu diesem Schattenschreck, machte ihr Angst. Aber der Kompass hatte sie bisher sicher geführt. Und irgendwie spürte sie, dass Benno recht hatte - es gab einen Grund, warum sie hier war, warum der Kompass sie hierher geführt hatte.
"Komm", sagte Benno und nahm ihre Hand. "Lass uns erst einmal etwas essen und ausruhen. Du musst hungrig sein nach deiner Reise. Und dann... dann können wir überlegen, was wir tun."
Lina nickte dankbar. Sie war tatsächlich hungrig,...